Häuserkampf in Johannesburg

Mark Lewis
Jerson Santos and Don Makwasa haben früher illegal in einer verlassenen Hochhausruine gewohnt. Als die von der Stadt geräumt wurde, bekamen sie Zimmer in Notunterkünften.
Urbane Wohnungsnot
In der südafrikanischen Millionenstadt haben viele keine Chance, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Mutige Miete­rinnen und Mieter haben aber vor Gericht erfolgreich gegen Zwangsräumungen geklagt und wichtige Reformen erkämpft.

Die 39-jährige Cikizwa Gqokoma hat in ihrem Leben bereits einige Erfahrungen mit Sanierungsprojekten in Johannesburg gesammelt. Ich habe sie im April dieses Jahres in einem Fast-Food-Restaurant in Jewel City kennengelernt, einem Areal in der Innenstadt, das mit fast 100 Millionen Euro saniert wurde. Mit relativ preiswerten Wohnungen, Läden, Restaurants sowie einem offenen Platz, auf dem sich Jugendliche nach der Schule treffen, kann es vielfältig genutzt werden. Jewel City ist das jüngste von zahlreichen Sanierungsprojekten in Johannesburg, die von Privatinvestoren finanziert wurden. „Jewel City ist prima“, sagt Gqokoma. „Alles, was man braucht, kann man zu Fuß erreichen.“ Wohnungen sind ab ungefähr 170 Euro Monatsmiete zu haben. Für Johannesburg ist das zwar günstig, für viele aber trotzdem unerschwinglich, auch für Gqokoma.

Während sich Jewel City am Grundmodell einer Einkaufsstraße orientiert, spricht das Nachbarviertel Maboneng mit seinen zahlreichen Ateliers und Galerien vor allem Künstler an. Bei einem Bummel über die Fox Street begegnen wir dort zahlreichen Straßenverkäufern, die Kleidung und Kunsthandwerk anbieten. Wir kommen an einem Fotoatelier, individuell gestalteten Lokalen, Bars und Hotels vorbei. 

Am Ende der Straße zeigt Gqokoma auf das Fraser House, in dem sie seit Anfang 2020 wohnt. Seine rote Ziegelmauer schmückt ein großes Wandbild, das in Rot, Schwarz und Weiß zwei stilisierte Figuren zeigt, die sich unter einer schwarzen Mondsichel umschlungen halten. Das Gebäude bietet Platz für mehr als 100 Wohnungen. Das Fraser House liegt am Rand von Maboneng, aber bereits im Stadtviertel Jeppestown, in dem es noch großen Sanierungsbedarf gibt. Ganz in der Nähe liegt auch New Doornfontein, einst das Zentrum der Textilindustrie der Stadt. Immer noch führen Gleise, auf denen längst kein Zug mehr fährt, durch das Viertel. Auf den Straßen und Plätzen herrscht ein reges Leben, aber es gibt auch Probleme mit Alkoholkonsum.

Cikizwa Gqokoma vor dem Fraser House, in dem sie mit ihren zwei Kindern seit 2020 wohnt.

Im Fraser House fällt ab und zu die Wasserversorgung aus, doch es ist immerhin sauber und sicher. Die Zimmer sind groß und bieten einen Ausblick über die Stadt. Cikizwa Gqokoma ist stolz auf ihre Wohnung und glücklich, hier mit ihren beiden Kindern ungestört wohnen zu können. Das war nicht immer so: Zehn Jahre lang lebte sie in der beständigen Furcht, auf die Straße gesetzt zu werden, und sah sich willkürlichen Razzien der Polizei ausgesetzt. Gemeinsam mit anderen Bewohnern und unterstützt von der Menschenrechtsorganisation Socio-Economics Rights Institute of South Africa (SERI) wehrte sie sich erfolgreich in Prozessen, die bis vor das Verfassungsgericht gingen. 

 

Sicheres Zuhause auf Zeit

Auf diese Weise hat sie sich ein sicheres Zuhause erkämpft – zumindest für einige Zeit. Denn das Fraser House ist nur eine sogenannte Temporary Emergency Accomodation (TEA), eine vorübergehende Notunterkunft. Das Haus im Eigentum der Stadt ist für Menschen bestimmt, die dagegen geklagt haben, auf die Straße gesetzt zu werden. Strenge Gesetze sollen in Südafrika verhindern, dass Menschen ihr Obdach verlieren. Laut Verfassung muss die Stadtverwaltung von Johannesburg Wohnraum bereitstellen, um diese Gefahr abzuwenden.

Angesichts steigender Mieten und des knappen Angebots an bezahlbaren Unterkünften ist das Wohnen in der TEA aber praktisch zur Dauereinrichtung geworden. Laut einer Studie der städtischen Wohnungsbehörde aus dem Jahr 2021 leben in Johannesburg derzeit ungefähr 2000 Haushalte in einer temporären Notunterkunft. Doch um wirklich zu verhindern, dass Menschen auf der Straße landen, müssten weitere 10.000 Unterkünfte bereitgestellt werden, schätzt die Verwaltung. Viele, die sich die Mieten in der Stadt nicht leisten können, leben unter prekären Bedingungen in alten Lagerhäusern und verfallenen Gebäuden, manche zahlen für ihren Unterschlupf Geld an kriminelle Organisationen.

Eine Frau schaut aus ihrer ­Behausung in einem alten Lagerhaus in der Johannesburger Innenstadt. Die Bewohner bauen sich in dem Gebäude kleine Hütten aus Wellblech und Holzresten.

Autor

Matthew Wilhelm-Solomon

ist Anthropologe an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg. Er ist Autor von „The Blinded City: Ten Years in Inner-City Johannesburg“ (matthew.wilhelm-solomon@wits.ac.za).
Vor einem Jahrzehnt waren südafrikanische und internationale Medien voll des Lobs über die Konzepte zur Stadtentwicklung in Johannesburg. Die „New York Times“ berichtete 2012 darüber, wie „junge Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund mit viel kreativer Energie und Unternehmergeist ihre Stadt für die nächste Generation umgestalten“. In der einst heruntergekommenen Innenstadt entstünden wieder lebendige Begegnungsräume, hieß es in dem Artikel. Doch noch immer herrscht in Johannesburg chronischer Wohnungsmangel, während die Polizei tatenlos zusieht, wie fremdenfeindliche Bürgerwehren Migranten terrorisieren. Die derzeitige chaotische Koalitionsregierung der Stadt scheint nicht in der Lage zu sein, ein vernünftiges Konzept für die Stadterneuerung zu erarbeiten. Was ist im vergangenen Jahrzehnt passiert? Was wurde versprochen, was versäumt, und was wurde erreicht?

Ein „Ort des Lichts“, umgeben von Armut und Verfall

Als Leuchtturmprojekt der Stadterneuerung gilt vor allem Maboneng, an dessen Grenze das Fraser House liegt. Im Jahr 2008 begann der junge Immobilienunternehmer Jonathan Liebmann mit dem Bau des Künstlerviertels Maboneng, was auf Sesotho „Ort des Lichts“ heißt. Innerhalb weniger Jahre entstanden dort Galerien, Ateliers, Restaurants und Wohnungen, die von Liebmanns Firma Propertuity entwickelt und vermarktet wurden. Propertuity vermittelte erfolgreich die Vision einer inklusiven Stadtentwicklung, die das Straßenleben fördert, neue kulturelle Räume öffnet, lokale Unternehmen voranbringt und auch Migranten und Flüchtlinge nicht vergisst.

Doch rund um diesen „Ort des Lichts“ herrschten weiterhin Armut und Verfall. In unmittelbarer Nähe lagen besetzte Häuser, die nur illegal ans Strom- und Wassernetz angeschlossen waren. Zehntausende Südafrikaner und Einwanderer konnten angesichts der hohen Mieten in der Innenstadt keine reguläre Wohnung finden. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Maboneng, der „Ort des Lichts“, ist das hippe Künstlerviertel von Johannesburg.

Maboneng war ein privat finanziertes Stadtentwicklungsprojekt, das einem von extremer Armut geprägten Viertel in kürzester Zeit ein völlig anderes gesellschaftliches und kulturelles Leben überstülpte. In den ersten Jahren bemühten sich die Investoren zwar noch um ein durchmischtes Sozialgefüge. Doch die Angebote sprachen nicht so sehr die bereits in der Innenstadt lebenden Menschen an, sondern eher die Angehörigen der Mittelschicht und weiße Konsumenten, die bis dahin diesen Kiez eher gemieden hatten. Abends zog sich das umtriebige Straßenleben in die sicheren Bars, Restaurants und Mittelschichtswohnungen zurück. 

Das Geschäftsmodell von Propertuity, Industrie­brachen zu erwerben, aufzuwerten und sie anschließend wieder zu verkaufen, erwies sich auf Dauer nicht als tragfähig. Ende 2018 ging das Unternehmen pleite, seine Vermögenswerte wurden im April 2019 versteigert. Das bedeutete auch das Ende der Vision einer inklusiven, vom Privatsektor getragenen Stadterneuerung.

Kein Recht, in der Stadt zu wohnen

Auch anderswo in der Stadt versuchte man neue Wege der Sanierung. Die Africa Housing Company errichtete Tausende Wohnungen, die speziell für die arbeitende Bevölkerung gedacht waren. Doch im Zuge von Projekten, die bezahlbaren Wohnraum schaffen sollten, wurden zahlreiche Menschen, die sich in besetzten Häusern durchgeschlagen hatten, auf die Straße gesetzt. Für sie waren selbst die niedrigsten Mieten auf dem offiziellen Wohnungsmarkt unbezahlbar.

Für die Ärmsten der Stadt brachten weder für Künstler zugeschnittene Stadtentwicklungsprogramme wie Maboneng noch die Errichtung preiswerter Wohnungen Erleichterung. Beides erhöhte nur den Druck auf sie, die Innenstadt zu verlassen. Wie schon in der Kolonialzeit und unter der Apartheid wurde den benachteiligten Schichten der Schwarzen das Recht verwehrt, in der Stadt zu wohnen.

Im Dezember 2011 leitete eine Entscheidung des Verfassungsgerichts eine Wende ein. Die Bewohner einer ehemaligen Teppichfabrik, die von der Menschenrechtsorganisation Centre for Applied Legal Studies vertreten wurden, gewannen ein langdauerndes Gerichtsverfahren gegen ihre Räumung. Sie argumentierten, die Stadt sei verpflichtet, ihnen Notunterkünfte zur Verfügung zu stellen, auch wenn die Räumung auf ein privates Unternehmen zurückgehe. Der Fall wurde nach dem Namen des Bauunternehmens als „Blue Moonlight“ bekannt. Die Stadt sah sich gezwungen, weitere temporäre Notunterkünfte bereitzustellen für alle, die als Folge solcher Räumungen von Obdachlosigkeit bedroht waren. Zu diesen Unterkünften zählt auch das Fraser House, in dem Cikizwa Gqokoma nun wohnt und das es ohne den Fall „Blue Moonlight“ nicht gäbe. Das Fraser House bildet somit eine Schnittstelle zwischen zwei Entwicklungen der Stadterneuerung: der Bereitstellung temporärer Notunterkünfte und der folgenreichen Gentrifizierung der Innenstadt, für die das Künstlerviertel Maboneng steht. Aber zu Gqokomas Leben gehört ein weiterer Aspekt, ohne den man das heutige Johannesburg nicht begreift: die Rolle der Polizei in der Stadt.

Der Bürgermeister zog gegen Hausbesetzer in die Schlacht

Als Gqokomas Querelen mit dem Justizapparat begannen, lebte sie in einem besetzten sechsstöckigen Haus namens Kiribilly. In dem hauptsächlich von Angehörigen der südafrikanischen Volksgruppen Xhosa und Zulu bewohnten Gebäude hatte sich eine gute Gemeinschaft entwickelt. Doch im Jahr 2013 versuchten die Besitzer, die Bewohner hinauszuwerfen. Ein Lokalpolitiker, der sich auf die Seite der Eigentümer stellte, segnete die Räumung ab, ohne die Bewohner überhaupt anzuhören oder ihnen Gelegenheit zum Widerspruch zu geben. Im Februar 2017 siegten sie mit Unterstützung des SERI vor dem Verfassungsgericht. Später wurde ihnen das Recht auf zeitweise Notunterbringung zugesprochen – im Fraser House.

Dieser Prozess war nicht das Ende all ihrer Probleme. Im August 2017 versuchte Herman Mash­aba, der damalige Bürgermeister von Johannesburg, sich als „Law and Order“-Politiker zu profilieren und erklärte die Stadt zum „Schlachtfeld“. Er hatte es besonders auf Hausbesetzer abgesehen. Es häuften sich Razzien der städtischen Polizei in Zusammenarbeit mit den Einwanderungsbehörden und nationalen Sicherheitskräften.

In Kiribilly tauchte die Polizei drei Mal auf. Anfang 2018 wurden Gqokoma und ihre Tochter mitten in der Nacht aus dem Bett gerissen, auf die Straße gesetzt und von den Polizisten beschimpft. Nach diesem traumatischen Erlebnis litten sie unter Schlafstörungen.

Nach wie vor Wohnungsnot – und eine wachsende fremdenfeindliche Gewalt

Wiederum mit der Hilfe von SERI verklagten die Bewohner von Kiribilly und zehn anderen Häusern Bürgermeister Mashaba, den Polizeiminister und weitere Verantwortliche. Im Juni 2020 gewannen sie den Prozess. Das Gericht entschied, die Razzien seien verfassungswidrig gewesen, da weder Anhaltspunkte für ein Verbrechen noch Gefahr im Verzug vorgelegen hätten. Das war ein entscheidender Sieg. Er setzte den uferlosen Polizeirazzien, die in Johannesburg nach dem Ende der Apartheid vor allem gegen die Armen und Migranten geführt wurden, ein Ende. Willkürliche Razzien in der Innenstadt gibt es zwar nach wie vor, aber in kleinerem Maßstab. Ein weiteres Problem sind fremdenfeindliche Bürgerwehren, die sich von einem zunehmend von Xenophobie geprägten politischen Klima beflügelt fühlen. Sie ergreifen die Gelegenheit, innerstädtische Areale unter ihre Kontrolle zu bringen, und attackieren besetzte Häuser, um die dort lebenden Menschen zu vertreiben.

So kommt es, dass in der Innenstadt von Johannesburg auch 2023 immer noch Wohnungsnot herrscht. Die Sicherheitslage hat sich durch häufige Stromausfälle und fremdenfeindliche Gewalt eher noch verschärft. Die auf die Mittelschicht und die Künstler ausgerichtete Gentrifizierung hat die Innenstadt zwar tatsächlich kulturell und gesellschaftlich belebt, ihre tieferliegenden Probleme jedoch nicht gelöst.

Dennoch steht die Zivilgesellschaft von Johannesburg stärker da als ein Jahrzehnt zuvor. Gqokoma ist inzwischen Mitglied der Inner City Federation, einer Gruppierung, die die Bewohner von 40 Gebäuden vertritt. Sie wurde 2015 gegründet und kämpft für das Recht auf Wohnen und die Versorgung mit grundlegenden Dienstleistungen. Durch die Gerichtsverfahren und andere Initiativen der vergangenen zehn Jahre sind Räumungen und willkürliche Polizeiaktionen gegen Hausbesetzer seltener geworden.

Atem schöpfen, träumen, lernen

Obwohl das Fraser House nur vorübergehende und keine dauerhaften Wohnmöglichkeiten bietet, zeigt es, wofür eine wirklich inklusive urbane Stadterneuerungspolitik sorgen müsste: Unterkunft und Sicherheit für alle, denen es an Geld mangelt. Manche Bewohner des Fraser House nutzen inzwischen auch die Angebote von Maboneng. In gewisser Hinsicht hatte die Pleite von Propertuity zur Folge, dass der „Ort des Lichts“ nun stärker seinem ursprünglichen Inklusionsversprechen gerecht wird. Er ist nicht mehr eine hauptsächlich von der Mittelschicht und von Weißen genutzte Enklave, sondern wird auch von schwarzen Bewohnern und Jugendlichen angenommen.

Für Cikizwa Gqokoma bedeutete der Einzug ins Fraser House ein ganz neues Leben. „Mann, hier kannst du Atem schöpfen. Ruhig schlafen. Träumen“, sagt sie. „Und du kannst dir überlegen, was du mit deinem Leben anfangen willst. Du kannst dich konzentrieren, du kannst sogar lernen, denn es ist ruhig und schön, sicher und sauber hier.“

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2023: In der Stadt zu Hause
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