Seit einigen Jahren häufen sich Berichte über Probleme im Mikrofinanzsektor in Kambodscha: Haushalte, auch sehr arme, nehmen immer neue Kredite auf, sind hoch verschuldet und müssen teilweise Land verkaufen, um die Kredite zurückzuzahlen. Kann ich heute noch mit gutem Gewissen an eine Organisation spenden, die ihrerseits in die Mikrofinanzbranche in Kambodscha investiert?
Frank Bliss: Ich bin grundsätzlich skeptisch, ob für Mikrofinanzierung überhaupt gespendet werden muss. Auf dem Markt ist auch so schon enorm viel Geld. Lieber die Mittel in nachhaltige soziale Sicherung investieren.
Herr Pfeifer, ihre Organisation FIAN hat zusammen mit zwei kambodschanischen Menschenrechtsorganisationen Beschwerde gegen den in den Niederlanden registrierten Mikrofinanzinvestor Oikocredit eingereicht, weil er aus Ihrer Sicht gegen die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen verstößt. Ist die Beschwerde auch dem Frust geschuldet, dass Investoren wie Oikocredit die Probleme in Kambodscha jahrelang ignoriert haben?
Pfeifer: Ja, denn die Menschenrechtsorganisationen in Kambodscha, mit denen wir zusammenarbeiten, weisen schon seit 2019 auf die Missstände hin. Es gibt zudem interne Studien von Oikocredit, die geleakt wurden und die zeigen, dass Überschuldung schon seit 2017 ein großes Problem ist. Unserer Ansicht nach wurde dagegen nichts unternommen. Neben der Beschwerde gegen Oikocredit läuft eine weitere gegen die IFC. Die Vorwürfe richten sich nicht nur gegen einen Investor.
Bliss: Unsere Studie – die erste wirklich unabhängige empirische Studie in diesem Bereich – bestätigt, dass es in Kambodscha einen Bedarf an Mikrofinanzierung gibt. Allerdings scheint vor allem für die Finanzierung von kleinen und mittleren Betrieben (SME), die über die eigentliche Mikrofinanzierung hinausgeht, mehr als genug Kapital da zu sein, während die Nachfrage nach Kleinstkrediten nicht gut bedient wird. Wir haben außerdem ermitteln können, wie verbreitet schädliche Auswirkungen der Mikrofinanzierung sind, also unter anderem, wie hoch die Überschuldungsrate ist und wie die Leute damit umgehen. Extrem schädliche Folgen gibt es demnach einerseits nur in überschaubarem Umfang, andererseits haben aber doch viel mehr Menschen als Folge der Überschuldung Land verloren, als die Geber erwartet haben. Solche Landverluste bedeuten jedoch nicht in jedem Fall, dass die Leute ihre Existenzgrundlage verlieren; das sehen wir etwas anders als viele nicht staatliche Organisationen. Wir haben zudem festgestellt, dass immerhin drei von vier Kreditnehmern zufrieden sind mit dem Angebot an Mikrofinanzierung und froh sind, dass sie Zugang dazu haben.
Herr Pfeifer, bei Ihnen klingt das dramatischer . . .
Pfeifer: Auch wenn nur ein Viertel der Kreditnehmer unzufrieden und überschuldet ist, dann ist das ein großes Problem. Wir haben nie behauptet, dass jeder Landverkauf, um Kreditschulden zu tilgen, den Ruin bedeutet. Aber laut Ihrer Studie, Herr Bliss, gab es in den vergangenen fünf Jahren 160.000 Fälle von Landverkäufen. Selbst wenn davon nur 10 oder 20 Prozent wirklich problematisch waren, sind das immer noch sehr viele. Zudem bestätigt Ihre Studie ja auch, dass viele hoch verschuldete Haushalte beim Essen sparen, die Verschuldung sich also nachteilig auf die Ernährungssicherung auswirkt. Laut der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO hat die Hälfte der kambodschanischen Bevölkerung nur unzureichend Zugang zu nahrhaften, erschwinglichen Lebensmitteln, ist also von Ernährungsunsicherheit betroffen. Der Hinweis darauf, dass drei von vier Kreditnehmern zufrieden sind, ist also kein Argument, sich zurückzulehnen.
Bliss: Da will ich Ihnen gar nicht widersprechen. Nur muss man berücksichtigen, dass wir in Kambodscha eigentlich bei vielen Beispielen für Missstände gar nicht mehr über Mikrofinanzierung reden. Wie bereits erwähnt: Ich denke, dass es für echte Mikrokredite etwa für Kleinbauern weiterhin Bedarf gibt und dass dieses Segment eher schlecht bedient wird. Es geht hier um Kredite von sagen wir 500 bis 1500 Dollar. Das müsste ausgebaut werden. Die meisten Mikrofinanzierer in Kambodscha haben daran aber nur noch wenig Interesse, sie wollen stattdessen expandieren und in das mittelgroße Geschäft mit Krediten von 5000 bis 50.000 Dollar eindringen. Die eigentliche Mikrofinanzierung überlassen sie dem informellen Sektor und Genossenschaften.
Pfeifer: Und trotzdem fördern die Entwicklungsbanken die Mikrofinanzierer weiter. Der Sektor boomt und die Leute bekommen immer höhere Kredite aufgeschwatzt. Das sind nicht nur SME, sondern weiterhin auch Familien, die früher mit kleinen Krediten von 500 Dollar angefangen haben und jetzt auf einmal bei 5000 oder 10.000 Dollar sind. Das sind dann die Fälle mit schwerwiegender Überschuldung.
Bliss: Das stimmt, viele Leute sind in die sogenannte Restrukturierung von Krediten geraten. Das heißt in Kambodscha nichts anderes als: Ersetze einen Kredit durch einen anderen, größeren. Jemand nimmt zum Beispiel irgendwann 2000 Dollar auf, um sich einen Handtraktor zu kaufen, mit dem er sein Feld bearbeitet. Dann gerät er aus welchen Gründen auch immer in finanzielle Schwierigkeiten – und was passiert? Der Mikrofinanzierer bietet ihm einen weiteren Kredit in Höhe von 3000 Dollar an, um den ersten abzubezahlen. Wenn der Schuldner dann auch den höheren Kredit nicht zurückzahlen kann, muss er irgendwann die Reißleine ziehen und zum Beispiel ein Stück Land verkaufen.
Das klingt nicht so, als würden die Mikrofinanzinstitute in Kambodscha besonders verantwortungsbewusst Kredite vergeben. Geht es ihnen nur noch ums Geschäft?
Bliss: Es geht vielen tatsächlich vor allem ums Geschäft, auch wenn sie ethische Leitsätze haben und auf der Homepage als Erstes ihre Verpflichtung auf Entwicklung und Armutsbekämpfung bekunden. Zugleich will ich noch einmal betonen: Es gibt im Kleinkreditbereich, also bei der Finanzierung von kleinen und mittleren Unternehmen, sehr erfolgreiche Finanzierungen, die Arbeitsplätze schaffen. Viele Mikrofinanzierer haben aber den falschen Weg gewählt und begonnen, aggressiv Kredite Leuten anzubieten, die nicht in der Lage sind, sie zu bedienen.
Pfeifer: Die Mikrofinanzinstitute sind große Unternehmen, die vor allem profitorientiert handeln. Genau deshalb konzentrieren sie sich auf den Markt der Kleinkredite; echte Mikrokredite lohnen sich für sie einfach nicht. Diese Art kommerzieller Mikrofinanzsektor hat sich von der ursprünglichen Idee der Armutsbekämpfung weit entfernt. Deshalb sollten Investoren wie Oikocredit oder die Entwicklungsbanken ihn nicht weiter fördern.
Wird das Geschäft mit Mikrokrediten in Kambodscha gar nicht reguliert?
Pfeifer: Der Kundenschutz ist mangelhaft. Es gibt keine Gesetze, es gibt keine unabhängigen Kontrollinstanzen. Das ist schon sehr lange bekannt: Die Weltbank hat der kambodschanischen Regierung bereits 2019 geraten, Gesetze zum Schutz von Mikrokreditkunden einzuführen. Das ist nicht geschehen. Die Regierung hat zudem kritische Berichte von Menschenrechtsorganisationen als Fake News abgetan. Und selbst wenn es Gesetze oder Kontrollinstitutionen gäbe: Die Geber müssten sich aktiv dafür einsetzen, dass die auch beachtet werden. Hinzu kommt: Die westlichen Geber und die kambodschanische Regierung wollten ja ausdrücklich, dass die kambodschanischen Mikrofinanzierer irgendwann profitabel arbeiten und expandieren, um nicht auf Dauer auf die Förderung von Entwicklungsbanken und anderer Investoren angewiesen zu sein. Man könnte fast sagen: Das hat zu gut geklappt. Wir reden hier von mittlerweile sehr profitablen Banken. In Kambodscha kann man sehen: Die Armut bekämpfen und gleichzeitig Profite machen, ist nicht möglich.
Herr Bliss, Sie empfehlen in Ihrer Studie, dass sich alle Beteiligten – also die kambodschanischen Mikrofinanzierer, ihre Geber, die Regierung und Menschenrechtsorganisationen – an einen Tisch setzen, um darüber zu sprechen, wie Missstände abgestellt werden können. Macht das Sinn angesichts des Misstrauens und der großen Unterschiede an Interessen?
Bliss: Ich habe den Eindruck, dass alle eigentlich gerne mal miteinander sprechen würden. Ich teile die Einschätzung von Herrn Pfeifer grundsätzlich, was die Schwäche der Regulierung betrifft. Ich sehe aber zugleich Fortschritte in den vergangenen Jahren. Wenn wir uns an die Wildwest-Situation im kambodschanischen Mikrofinanzsektor bis 2017/2018 erinnern, dann ist seitdem doch sehr viel passiert. Ich sehe das aber wie die kambodschanischen Menschenrechtsorganisationen: Es bräuchte eine Art neutrale Institution, die Kredite abwickelt, die grob fahrlässig gewährt wurden oder bei denen sogar in einigen Fällen Überschuldung und Landverkäufe quasi einplant waren. Und die befugt ist, die Praxis laufend zu überwachen und falls nötig einzugreifen. Die also zum Beispiel alle Kredite unter die Lupe nimmt, die an offiziell als arm eingestufte Kreditnehmer vergeben wurden. Da müsste sofort aufgeräumt werden.
Herr Pfeifer, wäre ein Runder Tisch sinnvoll?
Pfeifer: Reformen sind dringend nötig, da stimme ich Herrn Bliss zu. Was uns aber unter den Nägeln brennt, ist die Dringlichkeit. Wir wissen seit 2019 von den Problemen, die Studie von Herrn Bliss mit ihren Empfehlungen liegt seit Mitte des letzten Jahres vor. Wenn jetzt erst einmal über einen Runden Tisch diskutiert wird und darüber, welche Form er haben soll, dann ist bis nächstes Jahr wieder nichts passiert und die Leute leiden weiter. Uns geht es darum, dass die Geber eine Vorreiterrolle spielen. Sie könnten zum Beispiel schon jetzt Kreditverträge überprüfen lassen und Forderungen an die von ihnen geförderten Mikrofinanzierer in Kambodscha stellen, etwa dass die Schulden der ärmsten Haushalte gestrichen werden. Wir sind nicht per se gegen einen Runden Tisch, aber es muss jetzt schnell etwas passieren.
Um an meine Eingangsfrage anzuknüpfen: Sollten staatliche Entwicklungsbanken wie die KfW und ethisch orientierte Investoren wie Oikocredit besser ganz aussteigen aus der Mikrofinanzierung in Kambodscha?
Bliss: Wenn damit die Refinanzierung allgemein in Gefahr gerät, dann bricht ein Segment der kambodschanischen Wirtschaft auseinander, fürchte ich. Dann kann sich der kleine Handwerker, Kaufmann oder Landwirt nicht mehr refinanzieren.
Pfeifer: Ich sehe nicht, dass es zu einer kritischen Lage führen würde, wenn die Entwicklungsbanken oder ethische Investoren aussteigen würden – angesichts der Großbanken, etwa aus Ostasien, die derart viel Geld in den Sektor geschwemmt haben. Das sehr schnelle Wachstum der Branche könnte sogar zu einer makroökonomischen Gefahr für das Land werden, sagen der Internationale Währungsfonds und die Weltbank, weil die Verschuldung der Haushalte derart groß ist. Zudem fordern wir ja auch nicht, dass die Entwicklungsbanken sich komplett zurückziehen. Wir sagen nur: Bitte löst erst die bestehenden Probleme, bevor ihr neu investiert. Wir wollen, dass die Entwicklungsbanken sich engagieren und alternative Finanzierungsmöglichkeiten stärker fördern, etwa über Genossenschaften.
Bliss: Ich stimme zu: Entwicklungsbanken und ethische Investoren und Fonds sollten im Sektor drinbleiben, aber zunächst mal bestehende Probleme lösen helfen. Andererseits: Ja, Entwicklungsbanken und andere Geber machen viel falsch. Aber glauben Sie, Herr Pfeifer, dass sich eine chinesische Investorenbank in irgendeiner Weise um die Menschen in Kambodscha kümmert? Ich habe aus Gesprächen in den vergangenen Monaten mitgenommen, dass westliche Fonds nicht zuletzt auf Druck von NGOs jetzt genauer hinschauen, was eigentlich mit ihrem Geld geschieht. Und dass sie versuchen, Einfluss zu nehmen, um Auswüchse zu stoppen. Das finde ich eine bessere Lösung, als ganz zu verschwinden und das Geschäft China oder anderen zu überlassen. Hinzu kommt: Wenn die formelle Mikrofinanzbranche ausfällt, dann springt die informelle ein – und da werden Zinsen von bis zu 365 Prozent pro Jahr verlangt, also ein Prozent am Tag. Der maßlose informelle Kreditsektor war immer wieder Thema in unseren Gesprächen mit Dorfchefs für unsere Studie.
Pfeifer: Allerdings besteht zwischen dem formellen und dem informellen Kreditsektor ja eine Symbiose. Es ist nicht so, dass der eine auf Kosten des anderen wächst, sondern beide sind gemeinsam gewachsen. Haushalte, die einen Kredit von einer Mikrofinanzinstitution nicht zurückzahlen können, gehen zum informellen Kreditgeber und umgekehrt. Noch einmal: Wir sind nicht dafür, dass die Entwicklungsbanken und privaten Geber einfach rausgehen. Aber sie müssen die Probleme angehen. Am Anfang haben die Bundesregierung und private Investoren immer gesagt, die Probleme, auf die wir hinweisen, seien bloß Einzelfälle und seltene Ausnahmen. Wir hoffen, dass das Bewusstsein dafür wächst, dass dem nicht so ist.
Herr Bliss, wie hat die Bundesregierung Ihre Studie aufgenommen?
Bliss: Ich habe den Eindruck, dass sie einen Runden Tisch gut fände. Ich habe allerdings nicht den Eindruck, dass sie die Mikrofinanzbranche in Kambodscha mit vollem Elan weiter fördern möchte. Zweifel gibt es da offensichtlich auch mit Blick auf die Armutsbekämpfung. Wir haben dem Entwicklungsministerium deutlich gemacht, dass zumindest extreme Armut nicht mit der Förderung von Mikrofinanzierung zu bekämpfen ist, sondern nur mit Beiträgen zu sozialer Sicherung.
Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.
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