Das entwicklungspolitische Hilfesystem, so kritisieren humanitäre Organisationen aus dem Süden und auch universitäre Institute im Norden, diene nach wie vor den ehemaligen Kolonisatoren. Diese profitierten davon in erster Linie selbst. Auch das globale Wirtschaftssystem diene weiterhin einseitig den Hilfeleistenden, Strukturen globaler Zusammenarbeit seien durchweg zugunsten der sogenannten entwickelten Staaten ausgestaltet. Die Hilfeleistenden, so der Vorwurf, würden das „Feld“ nicht kennen, sondern bürokratisch aus dem Hauptquartier irgendwelche Projekte planen. Die Lokalbevölkerung werde nicht wirklich ernst genommen und kaum in die Projektentwicklung einbezogen. Oft würden einseitig Infrastrukturprojekte unterstützt, statt örtliche Bewegungen zu fördern. Selbst engagierte NGOs aus dem Norden unterstellten dem vermeintlich schwachen Süden, dass er vor allem Ausbau von Fähigkeiten benötige, statt Selbstverantwortung übernehmen zu können. Entwicklungspolitik werde vor allem als Instrument der interessengeleiteten Außenpolitik genutzt.
Wenn ich mich auf die Debatte einlasse, stelle ich mit einiger Frustration fest, dass die Kritik mitnichten von der Hand zu weisen ist. Trotzdem kann ich darin keine Innovation erkennen. In meinem nicht mehr ganz jungen Hirn klingen altbekannte Stichworte an: Dependenz, Zentrum-Peripherie, nachholende Entwicklung, Nord-Süd-Graben, Global Governance, Better Aid, Trade not Aid, Lokalisierung und so weiter. Der Eindruck drängt sich auf, dass es sich bei der Kritik um alten Wein in neuen Schläuchen handelt.
Mit einer gewissen Genugtuung habe ich im Oktober in dieser Zeitschrift zur Kenntnis genommen, dass ich mit meinen Zweifeln nicht allein bin. Der nigerianische Philosoph Táíwò plädiert mit einsichtigen Argumenten dafür, die Debatte über Dekolonisierung zu vergessen. Er hält den Begriff für allzu mehrdeutig. Ihm liege zunächst eine durchaus positive Bedeutung zugrunde, nämlich die erfolgreiche Befreiung von den Kolonialmächten. Dann aber vermenge der Begriff Moderne, Kolonialismus und Verwestlichung und „reduziere Afrikanerinnen und Afrikaner – Wissenschaftler, Denker, Künstler – auf nur zwei mögliche Beziehungen zur Moderne: Opfer oder Widerständler“.
Noch immer Nord-Süd-Dichotomien
Ob es für die inhaltlich leider nach wie vor berechtigte Debatte über globale Ungerechtigkeiten und disparate Machtverhältnisse wirklich einen neuen Begriff benötigt? Mir wäre es lieber, alle in der Entwicklungszusammenarbeit Engagierten würden sich endlich ernsthaft fragen, warum es nach bald 70 Jahren Entwicklungszusammenarbeit noch immer nicht gelungen ist, die augenfälligen Nord-Süd-Dichotomien zu beseitigen – im Gegenteil zeigen die sich längst als Machtgefälle auch innerhalb unserer westlichen Gesellschaften. Sie sollten sich auch ehrlich fragen, welche Eigeninteressen auch von zivilgesellschaftlichen Organisationen an diesem unerfreulichen Befund mit verantwortlich sind. Warum sind die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte, die auf der gleichen Würde aller Menschen fußen – unabhängig von ihrem Wohnort –, noch immer nicht Realität?
Statt in eine neue Grundsatzdiskussion zu fliehen, sollten wir besser selbstkritisch das eigene Tun hinterfragen und altbekannte Erkenntnisse über partizipative, selbstbestimmte und effiziente Hilfe umsetzen. Angesagt ist Kommunikation „auf Augenhöhe“ zwischen Menschen, die gemeinsame Ziele verfolgen. Die politische Stärkung der Zivilgesellschaft und vor allem auch der gemeinsame politische Einsatz für einen nachhaltigen Systemwandel sind und bleiben zentral, damit Armut global ausgemerzt und Gerechtigkeit weltweit Wirklichkeit werden können. Systemwandel ist aber keine abstrakte Größe, sondern beginnt individuell bei uns selbst und auch bei unseren Organisationen. Die sind nicht davor gefeit, Wein – auch aus alten Schläuchen – zu trinken, aber Wasser zu predigen.
Neuen Kommentar hinzufügen