„Mittelfristig brauchen wir Degrowth“

REUTERS/Thomas Mukoya
Um dem Artensterben entgegenzutreten, gibt es viele Ideen. Eine davon ist, dass man geschützte Tiere für Geld zeigen kann – wie zum Beispiel Berg-Gorillas in Ruanda.
Schutz der Biodiversität
Mehr Naturschutzgebiete halten das Massensterben von Arten nicht auf. Dafür, sagt Bram Büscher, sind neue Ansätze nötig, die auch das Wirtschaftswachstum beenden.

Bram Büscher ist Professor an Universität Wageningen (Niederlande), leitet dort die Forschungsgruppe „Soziologie von Entwicklung und Wandel“ und ist Gastprofessor an der Universität Johannesburg. Mit Robert Fletcher hat er das Buch „Die Naturschutz-revolution. Radikale Ideen zur Überwindung des Anthropozäns“ veröffentlicht.
Zurzeit tagt in Kanada die Vertragsstaatenkonferenz der Konvention über die biologische Vielfalt. Eins der Hauptziele ist, bis 2030 insgesamt je 30 Prozent der Landfläche und der Meere unter Naturschutz zu stellen und 50 Prozent bis 2050. Ist das sinnvoll, um das Artensterben zu bremsen?
Nein. Schutzgebiete können natürlich manche Lebewesen vor dem Aussterben bewahren und tun das auch. Aber was haben sie insgesamt für Biodiversität bewirkt? In den 1950er Jahren stand nur rund 2 Prozent der Landfläche weltweit unter Naturschutz, jetzt sind es 17 Prozent. Während derselben Zeit hat das Artensterben dramatisch zugenommen. Das fällt zusammen mit der „Großen Beschleunigung“: Städte, das globale Sozialprodukt, der Land-, Wasser- und Düngerverbrauch, der Verkehr, der Treibhausgasausstoß – viele Größen sind seit 1800 langsam, dann seit 1950 sehr schnell gewachsen. Obwohl zugleich die globale Fläche der Naturschutzgebiete zugenommen hat, sind wir heute im sechsten Massensterben von Arten.

Belegt das nicht, dass die geschützte Fläche zu klein ist? Vor 1950 waren viel weniger Flächen formal geschützt, aber in der Praxis mehr unberührt. Erst seit der Nutzungsdruck wächst, muss man sie schützen.
Dass die Schutzgebiete viel zu klein sind, um Artenschutz zu erreichen, hören wir oft. Aber die Wirkung von Schutzgebieten ist viel begrenzter, als ihre Verfechter denken. Erstens schützen sie nicht vor grenzüberschreitenden Umwelteinflüssen wie der Erderhitzung oder Giftstoffen in Luft und Wasser. Man kann mit Schutzgebieten am ehesten großflächige Ökosysteme und bestimmte große Arten wie Löwen und Elefanten vor dem Verschwinden bewahren. Aber das Artensterben trifft vor allem kleinere Arten, etwa Vögel und Amphibien, und die sterben auch in vielen Naturschutzgebieten wegen Wasserverschmutzung oder Klimaänderungen. Zweitens konnte man nur unter enormen politischen und sozialen Schwierigkeiten die Fläche unter Schutz seit den 1950er Jahren auf 17 Prozent der Landfläche ausweiten. Dabei stehen viele Parks, gerade in Zentren der Artenvielfalt, nur auf dem Papier, der Schutz ist oft schlecht. Und es hat 60 Jahre gedauert, das zu erreichen. Die Vorstellung, dass man nun in nur acht Jahren auf 30 Prozent kommen könnte, ist absolut unrealistisch. Drittens hätte es horrende soziale Folgen. Die zusätzlich zu schützenden Flächen wären überwiegend im globalen Süden, in tropischen Zentren der Artenvielfalt. Genau da nutzen Indigene und andere Bevölkerungsgruppen Land noch auf verschiedene traditionelle Arten, ganz anders als wir in Europa. Eine Studie von Judith Schleicher und Kollegen hat geschätzt, dass man, um auf 50 Prozent zu kommen, bis zu einer Milliarde Menschen ihre Landrechte nehmen müsste.

Das Recht, Land zu bewirtschaften?
Oder das Recht, zu wohnen, wo sie wohnen. Viertens würde man mit zusätzlichen Schutzgebieten gar nicht die Ursache des Problems angehen. Denn die liegt in einer Wirtschaftsform, die den Druck auf die Natur ständig weiter erhöht und uns gleichzeitig von unserer Umwelt entfremdet. Im Buch, das ich zusammen mit Robert Fletcher geschrieben habe, betonen wir: Der moderne Naturschutz, der auf Schutzgebiete setzt, ist zur selben Zeit aufgekommen wie der moderne Kapitalismus. Er ist Teil des Problems.

Wenn es nicht genug ungenutztes Land für Schutzgebiete gibt, sollte man dann nicht die Landwirtschaft intensivieren, auf weniger Nutzland mehr produzieren und so Flächen frei machen?
Nein. Intensivieren ist genau die Logik, die das Problem verursacht. In den vergangenen Jahrhunderten wurden Flächen und andere Ressourcen immer intensiver genutzt, um mehr herauszuholen. Da ist eine Burnout-Strategie. Intensivierung führt zu innerem Druck und zu Burnout, nicht nur bei Personen. Wir sind auf dem Weg zu einem planetarischen Burnout. Und Intensivierung ist noch aus einem anderen Grund falsch: Wenn wir Biodiversität erhalten wollen, setzt das voraus, dass wir eine Beziehung zur nicht menschlichen Natur haben. Wir dürfen sie nicht weiter als etwas von uns Getrenntes behandeln, das anderswo irgendwer für uns schützt.

Kann man nicht den Kapitalismus für Naturschutz einspannen? Ökonomen fordern, Naturgütern einen Preis zu geben; das soll Geld für ihren Schutz aufbringen und Anreize schaffen, zum Beispiel Wald stehen zu lassen, statt das Holz zu schlagen.
Die meisten Fallstudien zeigen, dass diese neoliberalen Naturschutz-Ansätze in der Praxis nicht funktionieren. Marktmechanismen haben an manchen Orten einen gewissen Naturschutz bewirkt. Belege dafür sind aber sehr, sehr selten. Ein Beispiel: Unter dem Programm REDD+ sollen die Emissionen aus Walddegradierung verringert werden, indem Gemeinschaften Einkommen aus der Bindung von Kohlenstoff bekommen und dafür Wald schützen. Wolfgang Dressler hat gezeigt, dass das in Indonesien und den Philippinen nicht funktioniert. In Sambia habe ich den Fall einer deutschen Firma untersucht, die Menschen in Lusaka helfen wollte, von Holzkohleherden auf solche mit weniger Emissionen umzusteigen; mit der Einsparung wollte die Firma eigene Emissionen in Deutschland ausgleichen. Wir haben uns Leute zeigen lassen, die die neuen Herde benutzten. Dann sind wir eine Woche später wieder hingegangen mit der Bitte, uns die Herde noch mal zu zeigen. Eine Frau fragte dann: Welche von denen möchten Sie denn sehen? Sie hatte drei unterschiedliche Herde aus drei verschiedenen Projekten zum Emissionsausgleich, und sie benutzte keinen davon. 
Wichtiger noch: Die Logik, die das Problem verursacht, kann nicht die Basis der Lösung sein. In Mosambik habe ich Interviews im Energieministerium geführt und ein Beamter sagte mir tatsächlich: „Wir sind nicht schmutzig genug, wir haben nicht genug Verschmutzung zu verkaufen.“ Das entspricht genau der Logik dieser Marktansätze: Danach müsste Mosambik erst mehr schmutzige Kohlekraftwerke bauen und dann diese effizienter machen, um sich für die eingesparten Emissionen bezahlen zu lassen. Der Marktansatz funktioniert beim Schutz der Biodiversität genauso wenig wie beim Klimaschutz.

Laut dem Weltwirtschaftsforum sieht aber eine wachsende Zahl von Unternehmen im Schutz der Natur eine neue Geschäftschance.
Diesen Trend gibt es – allerdings bereits seit dem Beginn des modernen Naturschutzes im 19. Jahrhundert. Dessen Vorkämpfer in den USA nutzten genau dieses Argument, zum Beispiel dass man die geschützten Tiere dann für Geld zeigen kann. Das hat für Tiere, die Geld einbringen, tatsächlich etwas bewirkt: Sie sterben selten aus – zum Beispiel die Nashörner im südlichen Afrika.

Verstehe ich Ihr Kernargument richtig: Mittel wie Schutzgebiete und die Bepreisung von Naturgütern haben begrenzten Nutzen an einigen Orten, ändern aber nichts am Gesamttrend, dem rapiden Verlust an Biodiversität?
Ja. Das Ergebnis ist ein Widerspruch: In einigen Schutzgebieten gibt es jetzt zu viele Nashörner, Löwen oder Elefanten, damit Touristen, die dafür viel Geld bezahlen, auch ganz sicher welche zu sehen bekommen; außerhalb von Schutzgebieten sinkt aber ihre Zahl. Und das hilft nicht Tieren, die weniger attraktiv sind oder in Ökosystemen leben, in denen man sie schwer zu Gesicht bekommt, etwa im Regenwald. Wir bewegen uns in Richtung auf eine Welt, in der viele große Tierarten zwar nicht aussterben, aber auf einige Schutzgebiete beschränkt sind – mit wenigen Ausnahmen wie dem Wolf in Europa.

Wenn der Kapitalismus die Ursache ist, müssen wir dann für wirksamen Naturschutz erst die Weltrevolution abwarten?
Man sollte besser überlegen, wie historischer Wandel stattfindet und stattfinden kann. Manche sagen, dass wir nur noch acht Jahre haben, den sozialen oder ökologischen Zusammenbruch abzuwenden. Aber wie alle sozialen Umbrüche und auch das Artensterben passiert ein Kollaps nicht gleichmäßig und überall zugleich. Meiner Ansicht nach beobachten wir bereits jetzt größere Arten von Kollaps in vielen Teilen der Welt, aber weniger in den Kerngebieten des Kapitalismus. Und ja, ich bin überzeugt, dass es keine Lösung dafür unter dem Kapitalismus gibt. Wir müssen ihn überwinden. Ob das schnell genug passiert, darüber hat niemand die Kontrolle. Entscheidend ist, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen und mit anderen den Wandel zu befördern.

Hat unter den vorhandenen politischen und ökonomischen Bedingungen denn irgendeine Art Naturschutz einen Sinn?
Nur wenn damit eine langfristige Vision verbunden ist, wie wir radikalen Wandel fördern. Dazu muss man neue Arten der Gegenmacht gegen das herrschende System aufbauen. Es sollten nicht länger weiße Leute aus dem globalen Norden fordern, dass lokale Gemeinschaften im globalen Süden mehr Land unter Naturschutz stellen und dafür ihr Leben ändern, damit sie selbst weiter leben können wie bisher. Das ist ein koloniales Modell. Robert Fletcher und ich treten für das ein, das wir konvivialen Naturschutz nennen: Wir müssen lernen, mit dem Rest der Natur zu leben – nicht nur als Einzelne, sondern als Gesellschaften. Naturschutzgebiete sind auch dafür problematisch, weil sie die Natur vom Alltag trennen und so weiter zu Entfremdung beitragen.

Wie soll konvivialer Naturschutz konkret aussehen?
Dazu gehören eine langfristige Vision und verschiedene kurzfristige Schritte. Mittelfristig brauchen wir Degrowth, einen Abschied vom Wirtschaftswachstum. Das Ziel ist, sich auf eine kleinere Wirtschaft zuzubewegen und den Zwang zu immer mehr Intensivierung zu beseitigen. Kurzfristig muss man sich auf die Verhältnisse einlassen, wie sie jetzt sind. Man kann auch im jetzigen System schädliche Subventionen abbauen oder kommerzielle Werbung einschränken. Manche Kommunen in Spanien und den Niederlanden versuchen das bereits. Wenn der wirtschaftliche Druck sinkt, werden ab einem bestimmten Punkt Flächen für Biodiversität frei.

Aber Nahrungsmittel muss man weiter auf knappen Landflächen erzeugen, oder?
Ja, aber das muss kein Problem sein. Zurzeit verdirbt ein Drittel der produzierten Nahrungsmittel oder wird weggeworfen, und ein großer Teil vom Rest ist Futter für Rinder. Beides zu verringern, würde eine Menge Land für den Schutz der Biodiversität frei machen. Wir sagen auch nicht, dass man Naturschutzgebiete von heute auf morgen abschaffen soll. Sondern sie müssen nach und nach wieder in die Umgebung eingebettet werden und die Menschen lernen, mit dem Rest der Natur zusammenzuleben.

Das bedeutet aber, dass zum Beispiel viel weniger Fleisch und Milchprodukte verfügbar sind als heute, oder?
Ja. Und das muss nicht schlecht sein, nur weil wir den heutigen Zustand gewöhnt sind. Die Geschichte zeigt, dass Gesellschaften sich ziemlich schnell an neue Umstände anpassen können – so wie wir uns an den heutigen Überfluss an Fleisch gewöhnt haben, den es erst seit ganz kurzer Zeit gibt. Und wir büßen ja nicht nur etwas ein, sondern gewinnen zum Beispiel mehr freie Zeit und mehr soziales Miteinander.

Erwarten Sie von der Konferenz in Kanada irgendwelche nützlichen Ergebnisse? Weniger Verschwendung von Nahrung steht da auch auf der Tagesordnung.
Das ist ein guter Schritt. Aber wenn man nur den Kapitalismus effizienter macht, bringt uns das Wachstum nach kurzer Zeit erneut an eine Grenze. Kleine Schritte reichen nicht mehr. Wir brauchen auch eine größere Vision, und die gibt es auf der Biodiversitätskonferenz nicht. Ein Ende des Wachstums wird genauso erwähnt wie das Gegenteil, grünes Wachstum – so als könne an alles zusammenbringen und müsse keine grundsätzlichen Entscheidungen fällen. Aber genau das müssen wir. Wenn die Naturschutz-Gemeinde, zu der ja einige mächtige Leute gehören, sich für ein Ende des Wirtschaftswachstums aussprechen würde, würde das einen großen Unterschied machen.

Wen meinen Sie mit Naturschutz-Gemeinde und mächtigen Leuten?
Große Naturschutzorganisationen wie Nature Conservancy und Conservation International. Sie haben große Netzwerke, etwa in wohltätige Stiftungen und bis in Regierungen hinein. Wir müssen sowohl im Kern des Systems ansetzen als auch an den Rändern der globalen Wirtschaft. Interessanterweise wird in der Naturschutz-Gemeinde eine Art gespaltenes Denken immer deutlicher. Alle zwei Jahre warnt der WWF in einem Bericht: „Es ist noch schlimmer, es ist noch schlimmer!“ Und obwohl sie das seit vielen Jahren sagen, machen sie immer genauso weiter wie zuvor. Wir wollen den Finger in diese Wunde legen und die Naturschutzorganisationen drängen, den nötigen Entscheidungen nicht mehr auszuweichen. 

Das Gespräch führte Bernd Ludermann.
 

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