„Stammesdenken ist Südsudans größter Feind“

Wieder einmal hat mit dem Erzbischof von Juba ein hochrangiger Kirchenvertreter die Menschen im Südsudan aufgerufen, sich nicht von Stammesdenken leiten zu lassen. Doch das Leben in dem noch jungen Staat ist nach wie vor stark von ethnischen Konflikten geprägt.

Man könne keine Nation und keine Kirche auf dem Stammesdenken aufbauen, sagte der Erzbischof von Juba, Stephen Ameyu Martin Mulla, Ende September in Torit, einer Stadt im Süden des Landes. „Wenn wir sie auf Stammesdenken gründen, werden wir scheitern, weil es etwas ist, das uns spaltet.“ Dann würden auch die Sakramente der Taufe, der Kommunion und der Firmung diesem Denken untergeordnet. „Stammesdenken kann der Kirche und der Nation nicht helfen, sich zu entwickeln“, sagte Erzbischof Ameyu. „Der Tribalismus ist unser größter Feind, den wir mit allen Mitteln bekämpfen müssen.“

Der Südsudan gehört zu den jüngsten Staaten dieser Welt. Im Juli 2011 erlangte er die Unabhängigkeit vom Sudan. Eine nationale Identität, die über ethnische Grenzen hinweg die Menschen verbindet, hat sich dort aber bisher nicht entwickelt. „Nach wie vor trennt der Tribalismus die Menschen voneinander“, sagte Ameyu. Um die Nation nach vorne zu bringen, müssten alle zusammenarbeiten, egal ob reich oder arm und egal aus welcher Ethnie jemand stamme. Das gelte auch für die Kirche, in der Klerus und Gläubige über alle Grenzen hinweg zusammenarbeiten müssten, forderte der Bischof.

Ameyu ist nicht der erste Kirchenvertreter, der gegen den Tribalismus predigt. Immer wieder haben die südsudanesischen Bischöfe die Gläubigen in den letzten Jahren daran erinnert, dass Stammesdenken mit dem christlichen Glauben nicht vereinbar sei. „Alle Menschen sind Ebenbilder Gottes, kein Stamm ist besser als ein anderer“, hatte zum Beispiel Bischof Barani Edwardo Hiiboro Kussala von Tombura-Yambio 2020 in einer Botschaft zum Weltfriedenstag betont.

Im Südsudan gibt es 64 Volksgruppen. Die wichtigste sind die Dinka, zu denen etwa 2,5 bis 3 Millionen der insgesamt 14 Millionen Menschen gehören, gefolgt von den Nuer mit rund 2 Millionen. Dass die Loyalität gegenüber dem eigenen Stamm über alle anderen Loyalitäten gestellt wird, hat im Südsudan eine lange Tradition. Und dass es schwer sein wird, dies zu ändern, zeigt ein Blick in seine jüngere Geschichte. Immer wieder kam und kommt es zu grausamen Massakern, wenn zwei Stämme sich gegenseitig das Weideland streitig machen oder sich gegenseitig Herdentiere stehlen. Auch werden bei solchen Auseinandersetzungen regelmäßig Kinder entführt, um sie dann als Angehörige des eigenen Stamms großzuziehen und somit den Stamm zu vergrößern.

Tausende Menschen sind bei Konflikten umgekommen

Örtlichen Organisationen zufolge soll es allein zwischen 2011 und 2017 rund 5000 Tote bei ethnischen Auseinandersetzungen um Weideland gegeben haben. So wurden bei einem Massaker 2011 im Bezirk Uror in Jonglei 640 Menschen getötet und 3400 Häuser sowie ein Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen niedergebrannt. Zum Jahreswechsel 2011/2012 kam es im Pibor Distrikt zu Kämpfen zwischen den Murle und den Lou Nuer, die ankündigten, die Murle ausradieren zu wollen. Nach Angaben der Murle sollen dabei mehr als 3000 Zivilisten getötet worden sein, 1300 Kinder seien entführt und knapp 400.000 Herdentiere gestohlen worden. Im Februar 2020 kam es in Jonglei erneut zu Massakern mit mehr als 300 Toten.

Auch der südsudanesische Bürgerkrieg von Dezember 2013 bis Februar 2020 war von ethnischen Spannungen geprägt. Das Ergebnis der demokratischen Präsidentenwahl 2010 zählte offenbar weniger als die Frage der ethnischen Abstammung. Der gewählte Präsident Salva Kiir ist ein Dinka, während sein Hauptkontrahent im Bürgerkrieg Riek Machar ein Nuer ist. Nach einer Studie der London School of Hygiene and Tropical Medicine sollen bis April 2018 schätzungsweise 380.000 Menschen in diesem Krieg gestorben sein. Mehr als vier Millionen mussten fliehen.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2022: Leben in Krisenzeiten
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