Dekolonisierung falsch verstanden

Wolfgang Ammer
Die Dekolonisierungsindustrie reduziert Afrikaner auf nur zwei mögliche Beziehungen zur Moderne: Opfer oder Widerständler.
Kolonialismus und die Folgen
Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft in Afrika sind immer noch von den kolonialen Beziehungen zu den reichen Ländern des Nordens geprägt, der Kontinent muss endlich vollständig dekolonisiert werden – das sagen viele. Doch diese Sichtweise vereinfacht vielschichtige Phänomene und diskreditiert wichtige Beiträge der afrikanischen Geisteswissenschaften, Kultur und Politik.

Die Idee, Afrika müsse vollständig dekolonisiert werden, ist sehr populär. Trotzdem plädiere ich dafür, dass wir sie vergessen – zumindest wenn es darum geht, den Kontinent betreffende Phänomene zu beschreiben und zu erklären. Die Idee ist auf brüchigen Grundlagen gebaut, ignoriert die Komplexität der Wirklichkeit, betrachtet disparate Einheiten als einheitlich und ist mit begrifflichen Verschleierungen durchsetzt. Das hat zur Folge, dass viele Analysen und Erklärungen kaum einer Prüfung standhalten oder unser Verständnis erhellen.

Der Grund dafür ist: Dekolonisierung hat mindestens zwei Bedeutungen, und die Vertreter der Dekolonisierungsidee halten sie nicht präzise auseinander. Die ursprüngliche Bedeutung bezieht sich auf die Befreiung ehemaliger Kolonien in Afrika und anderswo. Hier bietet uns der Begriff einen stabilen Halt, ein klares Ziel, einen messbaren Prozess und vor allem ein Enddatum. Das war erreicht, als die Kolonisierten wieder zu autonomen Herren ihrer Geschichte wurden, wie Amilcar Cabral es ausgedrückt hat, der Denker, Politiker und Kämpfer für die Unabhängigkeit in Guinea-Bissau. Sie haben die Kontrolle über die Geschicke ihrer Territorien übernommen, ihrer Völker, vor allem in Politik und Wirtschaft. Ich bin der Meinung, dass nur hier von Dekolonisierung gesprochen werden sollte.

Autor

Olúfẹ́mi Táíwò

stammt aus Nigeria und lehrt Philosophie am Africana Studies and Research Center der Cornell University in Ithaca, USA. Gerade ist sein Buch „Against Decolonisation: Taking African Agency Seriously“ erschienen.
Die andere Bedeutung von Dekolonisierung gründet auf der Vorstellung, die Afrikaner, ihre Gebiete und ihre Angelegenheiten – von der Politik bis zur Wirtschaft, von der Religion bis zur Literatur, von der Sprache bis zur Musik – seien in gewissem Sinne weiterhin kolonisiert. Da die afrikanischen Länder seit der Unabhängigkeit weiter in vielerlei Hinsicht von Unterordnung geprägte Beziehungen zu ihren früheren Kolonialherren unterhalten, argumentieren viele, die Dekolonialisierung sei unvollständig geblieben.

Dieses allgegenwärtige Verständnis von Dekolonialisierung hat meiner Meinung nach schädliche Folgen für die afrikanische Wissenschaft. Anstatt afrikanische Wissenschaftler zu stärken, wie seine Befürworter behaupten, verleugnet oder infantilisiert es die afrikanische Handlungsfähigkeit und schadet der Wissenschaft auf dem Kontinent.

Das Wesen des Lebens unter dem Kolonialismus

Zu verlangen, dass wir heute auf alles verzichten – Ideen, Institutionen, Praktiken –, dem auch nur der geringste Hauch des Kolonialen anhaftet, heißt das Wesen des Lebens unter dem Kolonialismus verkennen. Als Frantz Fanon warnte, die koloniale Welt sei eine „manichäische Welt“, beschrieb er nicht die Realität, sondern die Scheinwelt, die die Kolonisatoren und ihre Ideologen konstruierten. Denn egal, was die sagten: Die Realität in der kolonialen Welt war, dass Kolonisierte und Kolonisatoren eine menschliche Welt bewohnten, die durch ständige Interaktionen im Alltag gekennzeichnet war, wie sie das soziale Leben mit sich bringt. Wenn wir jetzt so tun, als ob es keinen Austausch, keine gegenseitige Beeinflussung und keine Aneignungen in beide Richtungen gegeben hätte – von der Sprache bis zur Küche, von den Regierungsformen bis zur Religion, von der Musik bis zur Literatur –, dann verkennen wir, was wirklich geschehen ist. Es ist nicht abwegig festzustellen, dass nicht nur die Kolonisatoren verschiedene Elemente des Lebens von den Kolonisierten entliehen oder gestohlen haben, sondern das Gleiche umgekehrt für die Kolonisierten in Bezug auf die Kolonisatoren gilt.

Wenn wir heute in Afrika in politischen Arrangements oder kulturellen Ausdrucksformen Elemente des Lebens finden, die denen während der Kolonialherrschaft ähneln oder sie nachahmen, dann ist es zumindest problematisch und in vielen Fällen wahrscheinlich falsch, ihr Fortbestehen auf die anhaltende Macht des Kolonialismus zurückzuführen. Das Problem mit der Forderung nach Dekolonialisierung besteht darin, dass sie in den Fällen, in denen komplexe Erklärungen erforderlich sind, aufschlussreichere Untersuchungen verhindert. Die Dekolonisierungsindustrie sieht überall Kolonialismus, was auf Kosten besserer Erklärungen für das Leben und Denken auf dem Kontinent geht.

Moderne, Kolonialismus und "Verwestlichung" miteinander vermengt

Die zweite Art und Weise, wie die Industrie der Wissenschaft schadet, hat mit der vorherrschenden Geschichtsschreibung zu tun, die Moderne, Kolonialismus und „Verwestlichung“ miteinander vermengt. Ihre Anhänger behaupten, die Moderne sei durch den Kolonialismus nach Afrika gekommen und die antikoloniale Bewegung insofern gleichzeitig eine Bewegung gegen die Moderne gewesen. Nach dieser Lesart heißt die Moderne anzunehmen, den Kolonialismus anzunehmen. Das reduziert Afrikanerinnen und Afrikaner – Wissenschaftler, Denker, Künstler – auf nur zwei mögliche Beziehungen zur Moderne: Opfer oder Widerständler.

Ich verstehe nicht, warum irgendjemand glaubt, dass ein solcher Schritt die Menschen in Afrika ermächtigt oder die Qualität der afrikanischen Wissenschaft verbessert. Nein, dank dieser Vorgehensweise schließen Wissenschaftler der Dekolonisierungsindustrie die originellen und bedeutenden Beiträge einiger unserer wichtigsten Denker zum politisch-philosophischen Diskurs der Moderne aus. Auch junge angehende Wissenschaftler auf dem Kontinent selbst tragen dazu bei: Ihnen wird immer wieder gesagt, die Annahme der Moderne sei gleichbedeutend mit der Annahme des Kolonialismus. Folglich ignorieren sie die sozialen, politischen und philosophischen Ideen von Denkern wie Léopold Sédar Senghor, Julius K. Nyerere, Obafemi Awolowo und Mourad Wahba oder Nelson Mandela. Es ist an der Zeit, dass wir diese Idee hinter uns lassen – zum Wohle des Kontinents.

Derzeit kämpfen alle – ich wiederhole: alle – afrikanischen Länder wie auch viele andere Länder auf der ganzen Welt darum, moderne Staaten zu errichten, die sich auf die philosophische Vorlage der Moderne stützen. Dieses Modell ist gekennzeichnet von der Idee, dass die unantastbare Würde auch des geringsten Individuums unter uns geschützt ist, sowie von Regierungen, die von Bürgern eingesetzt werden und diesen verantwortlich sind, und von Rechtsstaatlichkeit. Gerade heute, da wir unseren zweiten Freiheitskampf führen, der sich auf diese Merkmale konzentriert, braucht unser Kontinent seine ernsthaften Intellektuellen, um sich angemessen damit auseinanderzusetzen. Stattdessen aber ist die Dekolonialisierungsindustrie damit beschäftigt, eben diese Prinzipien zu verteufeln – als ob bestimmte Ideen nur bestimmten Völkern vorbehalten wären!

Ich hoffe, dass Wissenschaftler und Studierende sich für die Ideen und Gedanken afrikanischer Denker öffnen, die nie akzeptiert haben, dass ihr Platz nur in der Betrachtung von partikularen Besonderheiten liegt, sondern immer versucht haben, aus ihrem eigenen historischen Kontext heraus das Universelle anzusprechen – selbst dann, wenn sie der Sklaverei oder der Kolonialisierung unterworfen waren.

Aus dem Englischen von Tillmann Elliesen.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2022: Leben in Krisenzeiten
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