„Es gibt noch Freiheiten in Afghanistan“

picture alliance/dpa/Oliver Weiken
Afghanische Mädchen in einer Grundschule in Kabul. Die Taliban erlauben nur Jungen, eine weiterführende Schule zu besuchen. Welche Möglichkeiten es für Mädchen trotzdem gibt, erläutert Anna Dirksmeier im Gespräch.
Afghanistan unter den Taliban
Mädchen und Frauen in Afghanistan wird Bildung komplett verwehrt – diese Wahrnehmung herrscht hierzulande vor. Doch das ist in dieser Pauschalität falsch, sagt Anna Dirksmeier, Afghanistan-Länderreferentin von Misereor, und berichtet von den Erfahrungen vor Ort.

Anna Dirksmeier ist Afghanistan-Länderreferentin von Misereor.
Die taz berichtete vor einiger Zeit, dass in neun von 34 Provinzen Afghanistans die Oberschulen für Mädchen weiterhin geöffnet seien. Machen Sie ähnliche Erfahrungen?
Das deckt sich mit unseren Erfahrungen, ja. Es hängt stark von der Region innerhalb Afghanistans ab, in der man tätig ist. Unsere Frauenzentren in Afghanistan laufen glücklicherweise weiter. Im nördlichen Teil des Landes gibt es weniger Probleme. Die größten Schwierigkeiten haben Frauen in Kabul. Das würde man nicht vermuten, da viele denken, in den Hauptstädten gehe es besonders modern und aufgeschlossen zu, aber in Afghanistan ist das anders.

Inwiefern?
Kabul ist gut von den Taliban zu kontrollieren und dient ihnen zudem als eine Art „Visitenkarte“ nach außen. Die Hardliner, die die Regierung bilden, sitzen dort und wollen allen nach innen und außen zeigen, dass nun andere Zeiten angebrochen sind. So ist in Kabul als erstes das Frauenministerium geschlossen worden und es geht dort besonders streng zu. Im Straßenbild von Kabul sind fast nur noch vollverschleierte Frauen zu sehen – anderswo im Land ist das nicht so. Es gibt durchaus Taliban, die etwa dafür plädieren, dass Mädchen und Frauen sich bilden. Man darf dabei nichts beschönigen: In allen Provinzen geht es streng und frauenfeindlich zu, aber es gibt  Spielräume. So wie früher ist es keineswegs, aber unsere Partner vor Ort haben es geschafft, die Projekte so anzupassen, dass sie weiterlaufen können. Entgegen der westlichen Wahrnehmung gibt es in manchen Regionen noch Freiheiten für Frauen in Afghanistan, auch wenn sie beschnitten sind.

Welche Freiheiten gibt es denn?
Etwa im Bildungsbereich: Wir betreiben in Afghanistan Bildungszentren für Mädchen und Frauen. Dort bieten wir Fortbildungen an, Nachhilfeunterricht für Kinder, Computerschulungen und Englischkurse. All das ist explizit vor allem für Frauen – und es wird von den Taliban toleriert, dass diese weiterhin solche Kurse besuchen.

Welche Maßnahmen mussten Ihre Partner ergreifen, um das möglich zu machen?
Im Norden Afghanistans kamen die Taliban in unsere Bildungszentren und haben geschaut, dass getrennte Klassen für Frauen und Männer eingeführt werden oder zumindest ein Vorhang die jungen Männer und Frauen trennt. Wenn das geschehen ist, darf weiterhin unterrichtet werden. Allerdings mussten die Volleyballkurse für Mädchen, die einst draußen stattfanden, nun nach drinnen verlegt werden, wo sie den Blicken der Männer entzogen sind. Die Taliban dulden keinen Frauensport. Aber mit Fantasie kann im Geheimen das eine oder andere stattfinden. Dazu bringen unsere Partner vor Ort den Mut auf. Schwieriger wird es bei der Vorgabe der Taliban, dass Mädchen nur von Frauen unterrichtet werden dürfen. Es ist zum Beispiel im IT-Bereich gar nicht so leicht, genügend ausgebildete Lehrerinnen einzustellen. Viele kompetente Fachkräfte haben das Land verlassen.

Sie und Ihre Partner betreiben auch Berufsausbildungszentren. Laufen auch die weiter?
Ja, da sind die Taliban durchaus pragmatisch. Angesichts der wirtschaftlichen Not sehen auch sie – zumindest in unserer Projektregion – die Notwendigkeit, dass Frauen zum Haushaltseinkommen beitragen. Wir bilden sie zum Beispiel zu Schneiderinnen aus. Die Zentren haben wir nach der Machtübernahme der Taliban aus Sicherheitsgründen zunächst geschlossen, dann wurde vorsichtig eruiert, was möglich ist, und sie wurden nach und nach wieder geöffnet. Ich möchte betonen, dass es dem Mut vieler afghanischer Frauen zu verdanken ist, dass es weiterläuft.

Das müssen Sie erklären.
Frauen dürfen sich ja offiziell nicht mehr frei bewegen, sondern nur mit männlicher Begleitung das Haus verlassen. Unsere Partnerorganisationen vor Ort haben deshalb überlegt, Bus- oder Rikscha-Dienste anzubieten, um die Frauen zuhause abzuholen und in die Berufsbildungszentren zu fahren. Das haben sich aber viele Frauen nicht bieten lassen. Sie wollten ihre Freiheiten nicht aufgeben, wollten weiter zu Fuß dorthin gehen – alleine. Das tun sie nach wie vor.

Und das akzeptieren die Taliban in der Region?
Ja, das wird akzeptiert. Man muss die kleinen Spielräume vor Ort weiter ausbauen. Nun gilt es, den Taliban klarzumachen: Wenn Mädchen nur von Frauen unterrichtet werden dürfen, muss es auch genug Lehrerinnen geben – und die Möglichkeit, dass sich junge Frauen entsprechend qualifizieren.

Arbeiten Sie mit den Taliban zusammen?
Wir unterstützen keine staatliche Einrichtungen, sondern nur den zivilgesellschaftlichen Sektor. Natürlich müssen wir aufpassen, dass die Regierung keinen Zugriff auf unsere Projektgelder erhält. Als Hilfswerk können und wollen wir zudem nicht staatliche Aufgaben ersetzen – erst recht nicht, wenn es sich um ein Unrechtsregime handelt. Aber wir wollen auch nicht, dass alles kollabiert und die Zivilisten die Leidtragenden sind. Das ist ein Spagat und immer wieder aufs Neue ein Abwägen: Unterstützen wir ein unrechtmäßiges Regime, wenn wir weiter im Land tätig sind? Oder sollten wir uns zurückziehen – dann aber die Bevölkerung noch mehr leiden sehen? Wir verhandeln mit lokalen Behörden, aber nicht mit der Führung der Taliban. Die lokalen Behörden sind zwar im Sommer 2021 von den Taliban übernommen worden, aber die neuen Machthaber haben schnell gemerkt, dass sie eine komplette Neuorganisation in ihrem Sinne nicht leisten können. Also haben sie schleunigst die zuvor entlassenen Menschen – etwa Schuldirektoren – wieder eingestellt.

Oft wird die Befürchtung geäußert, dass von den Taliban genehme Schuldirektoren Fächer wie Mathematik und Naturwissenschaften abschaffen könnten. Teilen Sie diese Sorge?
Nein, das passiert zumindest in unseren Projekten nicht. Wir bieten Fortbildungen für Lehrerinnen an, die im Anschluss an staatlichen Schulen unterrichten. Hier sind Naturwissenschaften und Mathematik explizit eingeschlossen.

Das klingt fast so, als ob die Lage für Frauen in Afghanistan halb so schlimm sei…
Oh nein, dieser Eindruck wäre grundfalsch: Auch Misereor musste gefährdete Partnerinnen außer Landes bringen. Sehr bedroht sind nach wie vor ehemalige Politiker, Journalistinnen und Frauenrechtlerinnen – all jene gut ausgebildeten Männer und vor allem Frauen, die den Mut hatten, die Gesellschaft zu verändern. Deren Gefährdung darf man nicht schönreden. Auch wenn in unseren Partnerregionen die Arbeit weiterhin möglich ist, mussten wir einiges ändern, um kein Aufsehen zu erregen. Dass man Spielräume vorsichtig ausloten muss, um niemanden vor Ort zu gefährden, zeigt ja, in welchem Maße sich die Situation verschlechtert hat und dass ein „normales“ Arbeiten wie vor der Machtübernahme der Taliban nicht möglich ist. Aber gerade in schwierigen Zeiten dürfen die Menschen vor Ort nicht im Stich gelassen werden. 

Das Gespräch führte Elisa Rheinheimer.

 

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