Zeitenwende in Nepal

Die Monarchie muss der Republik weichen

Von Thomas Döhne

In Nepal sind fast 240 Jahre Feudalherrschaft zu Ende gegangen. Die verfassungsgebende Versammlung hat bei ihrer konstituierenden Sitzung nahezu einstimmig die Hindu-Monarchie abgeschafft und das Land zur Republik erklärt. Vorausgegangen war ein zweijähriger Friedensprozess, der am 10. April zur Wahl der Verfassungsversammlung führte. Sie gilt als Meilenstein auf dem Weg zu einer politischen Neuordnung des Landes, das von einem jahrelangen Bürgerkrieg gezeichnet ist.

Nepal steht an einer historischen Zeitenwende. Mit der Abschaffung der Monarchie und der Ausrufung der Republik hat die verfassungsgebende Versammlung am 28. Mai entscheidende Weichen auf dem Weg zur Bildung eines demokratischen Staates gestellt. König Gyanendra erhielt 15 Tage Zeit, den Palast zu räumen. Die verfassungsgebende Versammlung fungiert als Übergangsparlament und bildet die Regierung. Die darin vertretenen Parteien haben sich grundsätzlich darauf geeinigt, dass Nepal künftig eine föderale demokratische Republik mit einem Premierminister an der Spitze sein soll. Der Präsident soll lediglich repräsentative Aufgaben wahrnehmen. Der 28. Mai soll künftig als Tag der Republik der Nationalfeiertag sein.

Stärkste Kraft in der verfassungsgebenden Versammlung ist die Kommunistische Partei Nepal-Maoisten (CPN-M). Die Maoisten verfügen zwar über 220 der 601 Sitze und stellen damit die stärkte Fraktion, sind aber zur Bildung der Regierung auf die Zusammenarbeit mit anderen Parteien angewiesen. Aufgabe der Versammlung ist es zudem, in einem breiten Konsultationsprozess eine neue Verfassung zu erarbeiten. Dafür ist ein Zeitraum von zwei Jahren vorgesehen. Experten gehen jedoch davon aus, dass der Prozess länger dauern wird. Die schwierigste Aufgabe wird die Verständigung über eine föderale Staatsstruktur sein, das heißt die administrative Neugliederung Nepals in Bundesländer mit einem gewissen Maß an regionaler Autonomie. Für ein Land mit hundert ethnischen Gruppen und 60 registrierten Sprachen, einem hohen sozialen Gefälle sowie großer Armut in weiten Teilen der Bevölkerung liegt darin beträchtlicher sozialer und politischer Sprengstoff. Die verfassungsgebende Versammlung spiegelt die ethnische Vielfalt des Himalaya-Staates wider. Erstmals sind darin in größerem Umfang Angehörige von ethnischen Gruppen und andere bisher benachteiligter Bevölkerungsgruppen vertreten.

Ihr Anteil von etwa einem Drittel der Sitze war niemals zuvor so hoch in einem Parlament. Ähnliches gilt für von Frauen, deren Anteil ebenfalls bei mehr als 30 Prozent liegt. Im letzten Repräsentantenhaus gab es unter 205 Abgeordneten nicht einen einzigen Vertreter der Unberührbaren (Dalits) und nur zwölf Frauen.

Mit dem Madesh Janadhikari Forum (MJF) und der Terai Madhesh Loktantrik Party (TMLP) konnten zudem zwei erst vor kurzem im nepalesischen Tiefland Terai gegründete regionale Parteien in die Gruppe der fünf stärksten Parteien aufsteigen. Damit setzt sich ein seit Mitte der 1990er Jahre anhaltender Linkstrend fort. Die Mehrzahl der Abgeordneten gehört zum linken Parteienspektrum. Zudem scheint sich das politische Zentrum zunehmend von der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu in das wirtschaftlich bedeutende Terai zu verlagern, in dem schon heute die Mehrheit der nepalesischen Bevölkerung lebt.

Das Wahlergebnis ist ein klares Votum für Veränderung. „Die Wählerinnen und Wähler haben die Maoisten nach mehr als zehnjährigem bewaffnetem Kampf  als legitime Kraft in der nepalesischen Politik etabliert. Zugleich haben sie ihren Zielen zugestimmt: Restrukturierung des Staates auf föderaler Grundlage, Demokratie, nachhaltiger Frieden und radikale Reformen“, kommentiert Dev Raj Dahal, ein Politologe und Leiter der Friedrich-Ebert- Stiftung in Kathmandu.

Die Maoisten sind nun gefordert, den Wandel von einer kampferprobten Guerillaorganisation zu einer politischen Kraft, die der Gewalt abschwört, zu vollziehen. Für ihren Wahlerfolg dürften ein starker Wunsch nach dauerhaftem Frieden und große Unzufriedenheit mit der Politik der etablierten Parteien ausschlaggebend gewesen sein. Vor allem viele junge Nepalesen wollen einen politischen Neuanfang, der wirtschaftlichen Aufschwung und Arbeit verspricht.

Wirtschaftliche Stagnation, bedrücken¬de Armut auf dem Land und zehn Jahre Guerillakrieg haben dazu geführt, dass Hunderttausende junger Männer in den Nahen Osten, nach Indien, SüdKorea und in andere Länder gehen, um dort für Niedriglöhne zu arbeiten. Nepal bildete in den vergangenen zehn Jahren mit einem durchschnittlichen jährlichen Wirtschaftswachstum von drei Prozent das Schlusslicht in Südasien. Gleichzeitig ist die Kluft zwischen Arm und Reich besonders hoch.

Die Maoisten haben den bewaffneten Kampf mit dem Versprechen geführt, das feudale Erbe des „alten Regimes“ zu beseitigen und ein „neues Nepal“ zu errichten. Für Arme, benachteiligte Gruppen und junge Men¬schen, denen es an beruflichen Perspektiven fehlt, sind diese politischen Versprechen attraktiv und sie sind bereit, ihnen eine Chance zu geben. Daneben hat jedoch sicher auch der Angstfaktor eine Rolle gespielt – die offene Drohung der Maoisten mit einer „friedlichen Revolte“, falls der Wahlausgang für sie nicht akzeptabel wäre.

Die wenigen Ansätze zur Einführung demokratischer Strukturen in Nepal waren bislang stets gescheitert. 1951, nach dem Ende der hundertjährigen Feudalherrschaft der Rana-Dynastie, hatte der aus indischem Exil zurückgekehrte König Tribhuvan schon einmal Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung versprochen, aber dann eine Wiederherstellung der absolutistischen Macht verfolgt. 1959 fanden die ersten Parlamentswahlen in der Geschichte Nepals statt. Dabei errang die Ende der 1940er Jahre in Indien gegründete Nepali Congress Party einen deutlichen Sieg, nachdem sie eine Politik zugunsten der Pächter und Landlosen versprochen hatte.

Dies führte unweigerlich zu Spannungen zwischen dem neu gewählten Parlament und den Land besitzenden Eliten, einschließlich des Königshauses. Ende 1960 ließ der damalige König Mahendra das Parlament auflösen, die politischen Parteien verbieten, deren Führer verfolgen und übernahm selbst die Staatsführung. Das kurze demokratische Zwischenspiel war beendet. Es folgten fast 30 Jahre absoluter Königsherrschaft unter einem autoritären Panchayat-System, einer Form dörflicher Selbstverwaltung durch lokale Räte. Politische Parteien und jede Form von Kritik oder Opposition waren verboten. Als tragende Säulen der Gesellschaft wurden die Kastenordnung der Hindureligion, Nationalismus und die Loyalität zum König angesehen.

Im Frühjahr 1990 gelang es der Nepali Congress Party und einem Bündnis von sieben kommunistischen Parteien, eine Demokratiebewegung zu organisieren, die das Panchayat-System in wenigen Wochen beseitigte. Der damalige König Birendra ließ das Parteienverbot aufheben und stimmte der Einführung eines demokratischen Mehrparteiensystems und der Errichtung einer konstitutionellen Monarchie zu. Er beauftragte eine Kommission mit der Erarbeitung einer neuen Verfassung, in der unter anderem eine unabhängige Gerichtsbarkeit sowie ein Grundrechtekatalog nach internationalem Standard festgeschrieben war.

Allerdings orientierte sich der Staat weiter an hinduistischen Grundhaltungen und Denkweisen. Angehörigen ethnischer und regionaler Gruppen, Dalits, Madeshis sowie Frauen blieb eine gleichberechtigte Teilhabe an politischen Entscheidungen verwehrt. Zudem wurden dem König Sonderrechte eingeräumt. Als Oberster Befehlshaber der Armee reichten seine Befugnisse weit über die eines konstitutionellen Monarchen hinaus.   

Es folgten Jahre politischer Instabilität, begleitet von häufig wechselnden Regierungsbündnissen und Machtkämpfen zwischen und innerhalb der Parteien sowie zwischen Politikern, die in der Hauptstadt Kathmandu saßen, ihre Klientel bedienten und sich bereicherten, ohne sich um die Belange der Menschen auf dem Land zu kümmern. Im Februar 1996  begannen die Maoisten ihren bewaffneten Aufstand mit der zentralen Forderung nach einer umfassenden Neustrukturierung des Staates. Damit einher ging eine zunehmende Politisierung der Erwartungen und Forderungen von marginalisierten Gruppen.

Der Staat reagierte mit harter Repression, die auch viele Unbeteiligte traf. Dem Bürgerkrieg fielen Schätzungen zufolge bis 2005 rund 12.000 Menschen zum Opfer. Der Konflikt spitzte sich 2001 zu, als der Kronprinz den König Birendra und fast seine gesamte Familie massakrierte und sich dann selbst tötete. So kam Birendras Bruder Gyanendra an die Macht. Nach dem Scheitern erster Friedensgespräche mit den Aufständischen rief er den Ausnahmezustand aus und mobilisierte die Armee. Dies führte zu einer weiteren Eskalation der Gewalt. Im Oktober 2002 setzte König Gyanendra in einem verdeckten Putsch die gewählte Regierung von Ministerpräsident Sher Bahadur Deuba ab und später in kurzer Abfolge drei weitere Regierungen ein. Als all diese Versuche gescheitert waren, übernahm Gyanendra am 1. Februar 2005 mit Hilfe des Militärs selbst die Regierungsgeschäfte. Er verhängte erneut den Ausnahmezustand, setzte zahlreiche Grundrechte außer Kraft und ließ Tausende verhaften.

Bald darauf formierte sich eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung gegen seine autokratische Herrschaft. Zehn Monate später wurde in Indien ein Abkommen von sieben Parteien mit den Maoisten zur Beseitigung der Monarchie geschmiedet. Im April 2006 schließlich zwang eine breite Volkserhebung den König zur Machtaufgabe. Das Parlament von 1999 wurde wieder eingesetzt, sechs Monate später wurde ein umfassendes Friedensabkommen mit den Maoisten geschlossen. Im Januar 2007 trat eine gemeinsam erarbeitete Übergangsverfassung in Kraft, auf deren Grundlage ein neues Übergangsparlament unter Beteiligung der Maoisten nominiert wurde. Dessen Mandat endete mit der Konstituierung der verfassungsgebenden Versammlung.

Die Maoisten werden als stärkste politische Kraft federführend an der Staatsbildung beteiligt sein. Die Anforderungen sind allerdings so groß, dass sie nur gemeinsam mit anderen Parteien zu bewältigen sind. Die Ex-Guerilla muss ihre Regierungs- und Konsensfähigkeit unter Beweis stellen, auch um internationale Akzeptanz zu finden. Sie muss der Gewalt ab¬schwören und die von ihr geschaffenen Parallelstrukturen auflösen. Sie muss Perspektiven für die mehr als 20.000 Ex-Kombattanten der maoistischen Guerillaarmee PLA entwickeln, die seit 15 Monaten in Lagern unter Aufsicht der Friedensmission der Vereinten Nationen UNMIN leben. Die Reform der Sicherheitsapparate und die von den Maoisten geforderte Integration der ehemaligen Kämpfer in die nepalesische Armee sind Probleme, für die es bislang keine Lösung gibt.  

Um die internationale Gebergemeinschaft und die Geschäftswelt zu beruhigen, geben sich die Führer der Maoisten seit ihrem Wahlsieg äußerst moderat. Sie betonen, die Wirtschaft werde sich an kapitalistischen Prinzipien und öffentlich-privaten Partnerschaften orientieren. Sie müssen die unterschiedlichen Interessen in der Gesellschaft unter einen Hut bringen und zugleich die Armen im Land unterstützen. Denn auch in Nepal sind die Preise für viele Grundnahrungsmittel in den vergangenen Monaten stark angestiegen. Darunter leiden vor allem Landlose und städtische Arme, die ihre Nahrungsmittel kaufen müssen.

Die staatliche Ölgesellschaft NOC fährt seit langem hohe Defizite ein und ist praktisch pleite. Eigentlich müsste sie ihre Preise dem Weltmarktniveau anpassen, um das Defizit auszugleichen. Doch die Regierung ist bisher vor den politischen Folgen einer solchen Preiserhöhung zurückgeschreckt. Die anhaltende Krise bei der Energieversorgung hat in der regenarmen Jahreszeit Stromunterbrechungen von wöchentlich bis zu 50 Stunden verursacht. Das Land verfügt über große Wasserkraftpotenziale. Davon werden derzeit jedoch nur ein Prozent genutzt, da die Kapazitäten in den vergangenen Jahren nicht hinreichend ausgebaut wurden. Durch den Konflikt, aber auch aufgrund von Korruption und Streitigkeiten mit Indien über die Wassernutzung kam es bei neuen Projekten immer wieder zu erheblichen Verzögerungen. Die Energieknappheit wird aufgrund der steigenden Nachfrage und begrenzter Ressourcen  deshalb voraussichtlich auch in den nächsten Jahren anhalten.    

Die größte Herausforderung für die Maoisten jedoch liegt zweifellos im Tiefland des Terai. Die dort neu entstandenen Parteien stellen ein ernstzunehmendes politisches Gegengewicht dar. „Die Maoisten haben den Landlosen eine Landreform versprochen. Im Madesh Janadhikari Forum sitzen jedoch die Landbesitzer, die das verhindern wollen. Daher dürfte es für die Maoisten sehr schwierig werden, einen akzeptablen Weg zu finden“, meint der Politikwissenschaftler Dev Raj Dahal. Zudem haben sich im Terai militante bewaffnete Gruppen formiert, meist handelt es sich dabei um Abspaltungen von regionalen maoistischen Unterorganisationen. Einige von ihnen schüren bewusst die Spannungen zwischen den indischstämmigen Teraibewohnern, den Madhesi, und den vor Generationen aus den Bergen zugewanderten ethnischen Gruppen, den Pahadi. Falls der Friedensprozess in Nepal nicht weiter vorankommt, wächst die Gefahr, dass das Land in Anarchie abgleitet.

Thomas Döhne ist freier Journalist in Bonn mit Spezialgebiet Nepal.

 

Nepalkunde: Von Menschen und Kulturen zwischen Monsunwald und Bergwüste

Politische Ereignisse haben den Himalaya-Staat Nepal in den vergangenen Wochen ins Licht der Weltöffentlichkeit gerückt: die Abschaffung der letzten Hindu-Monarchie und die erstaunliche Wandlung der Maoisten von einer Guerillaorganisation in eine Regierungspartei. Der Kölner Politikwissenschaftler und Publizist Wolf Donner schildert in seiner „Nepalkunde“, wie es zu dieser Entwicklung gekommen ist.

Und er weitet den Blick auf das Land über das politische Geschehen hinaus. Der schmale Band ist eine fundierte und konzentrierte Einführung in die Geschichte und Gegenwart Nepals, das bis zum Beginn des maoistischen Aufstandes in den 1990er Jahren vielen als verwunschenes Märchenreich galt. Donner, der selbst in den 1960er Jahren in Nepal gelebt hat, beschreibt neben der politischen Geschichte auch Landschaft und Klima, Kulte und Kulturen. Ferner setzt er sich kritisch mit der Wirtschaftsentwicklung des Landes auseinander, analysiert Versäumnisse und skizziert Auswege aus der Krise. Nepal habe bereits vieles von dem eingebüßt, was es noch vor Jahrzehnten so anziehend und interessant machte, lautet sein ernüchterndes Fazit. Mit seinem Buch, das eine Reihe von Literaturempfehlungen und Internet-Adressen zum Weiterlesen enthält, trägt er aber dazu bei, das Interesse an dem Land an der Grenze zwischen Zentral- und Südasien wachzuhalten – oder zu wecken.

(gwo)

Wolf Donner Nepalkunde. Edition Kathmandu Bergisch Gladbach 2007 160 Seiten, 14 Euro.

welt-sichten 6-2008

 

erschienen in Ausgabe 6 / 2008: Welternährung
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