Globalisierung geht durch den Magen

Wie wachsender Wohlstand und die Urbanisierung die Essgewohnheiten verändern

Von Elke Proell

In Schwellenländern wie Indien oder China wandeln sich mit den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen auch die Ernährungsgewohnheiten. Fastfood und Fertigmahlzeiten werden immer beliebter und die Menschen werden wie in den reichen Ländern immer dicker. Dennoch bleiben viele ihren traditionellen Mahlzeiten treu: In Mumbai lassen sich täglich 200.000 Kunden das hausgemachte Curry an den Arbeitsplatz liefern.

„Der Mensch ist, was er isst“: In allen Kulturen und Gesellschaften ist Essen mehr als die biologisch notwendige Aufnahme von Nährstoffen. Es definiert Gruppenzugehörigkeit und Status. Die Auswahl der Nahrungsmittel, die Art ihrer Zubereitung und die Regeln, wie sie verspeist werden, sind Ausdruck kultureller und sozialer Identität. Mahlzeiten spiegeln familiäre und gesellschaftliche Beziehungen sowie Lebensstile wider.

Die Änderung von Ernährungsgewohnheiten in vielen Ländern ist nicht nur eine Folge wachsenden Wohlstands, sondern zugleich Ausdruck von kulturellem Wandel und von Veränderungen im Sozialgefüge. Das gilt vor allem für Schwellenländer, in denen sich die wirtschaftlichen und sozialen Lebensumstände rasch wandeln. Mit steigendem Einkommen essen die Menschen dort nicht nur mehr, sondern abwechslungsreicher, wenn auch nicht unbedingt gesünder. Teurere und verarbeitete Nahrungsmittel werden dort immer beliebter, der Konsum von Fleisch, Milchprodukten und Zucker steigt. Essen wird zum Statussymbol und zum Ausdruck individueller Vorlieben.

Diese aus ernährungswissenschaftlicher Sicht verhängnisvolle Entwicklung, die als „Wandel im Ernährungsverhalten“ (nutrition transition) bezeichnet wird, führt zu einem dramatischen Anstieg von Übergewicht und damit einhergehenden Erkrankungen. Als besonders alarmierend gilt die Situation in China, wo inzwischen jeder fünfte Erwachsene und jedes fünfte Schulkind in den Städten zu dick ist. Mexiko ist inzwischen – nach den USA – das Land mit der zweithöchsten Anzahl an Fettleibigen.

Zunächst ist Übergewicht meist ein Problem der reicheren Mittelschichten in den Städten. Doch mit wachsendem Wohlstand erreicht das Problem zunehmend auch ländliche Regionen und ärmere Bevölkerungsschichten. Zugleich bleibt in vielen Ländern mit vielen Übergewichtigen Unterernährung ein ebenso dringliches Problem. Gerade Indien hat mit dieser doppelten Last zu kämpfen. Laut dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen Unicef sind trotz des beeindruckenden Wirtschaftswachstums 43 Prozent der indischen Kinder unter fünf Jahren untergewichtig.

Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen, Innovationen und der Austausch mit anderen Völkern und Kulturen haben schon immer dazu geführt, dass sich Auswahl, die Zubereitung und der Verzehr von Nahrungsmitteln verändert haben. Der Wandel der Nahrungsmuster von der Steinzeit bis heute ist spannende Kultur- und Sozialgeschichte. Die Einführung des Kartoffelanbaus in Preußen in der Mitte des 18. Jahrhunderts zeigt etwa, dass auch früher schon bislang unbekannte und daher zunächst abgelehnte Nahrungsmittel mit Werbung, aber auch mit Druck verbreitet wurden.

Aus heutiger Sicht war die Kartoffelpolitik Friedrichs des Großen vorausschauend, weil sie die Nahrungsversorgung der wachsenden Bevölkerung erheblich verbesserte. Doch damals hat es einige Jahrzehnte gedauert, bis die Deutschen die Kartoffel akzeptiert und zum Grundnahrungsmittel gemacht hatten. Denn „was der Bauer nicht kennt, isst er nicht“. Auch heutzutage nimmt die Agrarpolitik Einfluss auf den Anbau bestimmter Produkte, beispielsweise Biotreibstoffe oder andere Güter für den Export. Dadurch kommt es zu Verschiebungen im Nahrungsmittelangebot und die Bevölkerung muss ihre Ernährungsgewohnheiten ändern.

Zwar verlaufen die Entwicklungen jetzt schneller, doch es ergeben sich ähnliche Muster, wenn man zum Beispiel Untersuchungen über Änderungen der Esskultur in Deutschland während der Indus­trialisierung mit dem derzeitigen Wandel in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern vergleicht. Auch dort wird das Essverhalten zunächst von der Änderung der Lebensumstände beeinflusst, die mit der Urbanisierung einhergehen. Nahrungsmittel können nicht mehr oder höchstens noch in begrenztem Umfang selbst angebaut werden. Der Verzehr von verarbeiteten Produkten, von Mahlzeiten am Straßenrand, Snacks und Fertignahrung steigt, wenn Menschen außer Haus arbeiten, lange Arbeitszeiten haben und deshalb nicht mehr regelmäßig selbst kochen können. In Massenmedien wird zudem oft ein westlicher Lebensstil idealisiert. Die Werbung für nicht traditionelle Nahrungsmittel ist allgegenwärtig.

Bei einer Milliardenbevölkerung wie in Indien können schon relativ kleine Änderungen der Gewohnheiten auf individueller Ebene erhebliche Folgen für die Lebensmittelwirtschaft haben. Nach wie vor sind die meisten Inder Vegetarier, der Anteil tierischer Produkte am gesamten Verzehr von Lebensmitteln beträgt landesweit nicht einmal zehn Prozent, in Deutschland sind es 30 Prozent und in China immerhin 20 Prozent. Inder verzehren im Durchschnitt also noch immer sehr wenig tierische Produkte, der Fleischkonsum liegt nur bei gut fünf Kilogramm pro Kopf und Jahr. In Deutschland ist er zwölfmal so hoch.

Doch der Einfluss hinduistischer Ernährungsregeln wird schwächer, und immer mehr Menschen entscheiden sich für eine zumindest nicht mehr streng vegetarische Lebensweise. Moderne Inder können sich der Verführungskraft preisgünstiger Chicken Tandooris an vielen Straßenecken auf Dauer offensichtlich nur schwer entziehen. Selbst der Verzehr von Rindfleisch nimmt zu – im Hinduismus ein absolutes Tabu.

Der Nachfrage stehen Angebote gegenüber, die sich ebenfalls rasch wandeln. Die Globalisierung macht Nahrungsmittel weltweit verfügbar. Nicht nur internationale Supermarktketten wie Wal Mart, Carrefour und Metro haben es darauf abgesehen, einen möglichst großen Teil des Hunderte Milliarden Euro schweren indischen Einzelhandelsmarktes zu erobern. Auch einheimische Ketten drängen ins erhofft gute Geschäft, der Industriekonzern Reliance beispielsweise plant bis 2010 die Eröffnung von Tausenden Supermärkten und Einzelhandelsgeschäften.

Die geschätzten 12 bis 15 Millionen Kleinhändler in Indien hingegen wollen nicht widerstandslos hinnehmen, dass sie von Supermarktketten aus dem Geschäft gedrängt werden. Immer wieder kommt es bei der Eröffnung neuer Supermärkte zu Protesten und teils gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Regierung im bevölkerungsreichen Bundesstaat Uttar Pradesh sah sich im vergangenen August gezwungen, gut ein Dutzend gerade eröffneter Supermärkte kurzzeitig zu schließen, um die öffentliche Sicherheit zu wahren.

Auch bei den Kunden stößt der neue Einkaufsstil nicht immer auf Gegenliebe. In Internet-Blogs finden sich leidenschaftliche Plädoyers für den Gemüsehändler von nebenan, der sich durch gute Qualität seiner Waren sowie faire, weil verhandelbare Preise und das persönliche Verhältnis zu seiner Kundschaft auszeichnet. Die Supermarkt-Fans halten dagegen, dass die Hygiene beim Krämer um die Ecke oft ebenso zweifelhaft ist wie die Genauigkeit seiner Waage. Den Einkauf im Supermarkt finden sie viel angenehmer und weniger zeitraubend, weil man alles unter einem Dach und noch dazu in klimatisierter Umgebung bekommt.

Geteilt sind die Meinungen auch beim Fastfood. Die internationalen Ketten unternehmen große Anstrengungen, um in Schwellenländern Fuß zu fassen. In Indien, das nach der Unabhängigkeit lange seine eigenen Wege gesucht hat, gilt das als besonders schwer. Erst 1996 eröffnete McDonald’s sein erstes Restaurant in Neu-Delhi. Im vergangenen Jahr haben in Deutschland täglich noch immer zehnmal so viele Menschen bei McDonald’s gegessen wie in Indien.

Dabei hat sich der Hamburger-Konzern auf Indiens kulturelle Besonderheiten und regionale Vorlieben eingestellt. Er wirbt in Indien mit eigens entwickelten vegetarischen Menüs, gibt sich mit dem McVeggie Burger „as Indian as you and me“ (Werbeslogan) und verzichtet auf Rind- oder Schweinefleisch. Nach eigenen Angaben sind die Produktionsprozesse so gestaltet, dass die strikte Trennung von vegetarischen und nicht vegetarischen Nahrungsmitteln von der Beschaffung über die Zubereitung bis zum Service garantiert ist. Und selbst Mayonnaise wird nach einem eigens für den indischen Markt entwickelten Rezept ohne Ei hergestellt.

Wie wichtig es vielen Indern ist, an ihrem traditionellen Essen festzuhalten, zeigt das Beispiel der Dabbawallahs. In Deutschland sind „Henkelmänner“, in denen Arbeiter früher ihre Suppe oder Brotzeit verstaut haben, längst Geschichte. Ihre indischen Pendants hingegen, die dabbas, erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit. Der perfekt organisierte Lieferservice der Dabbawallahs in Mumbai ist legendär. Fast 200.000 Kunden erhalten jeden Mittag pünktlich an ihrem Büroarbeitsplatz, was ihre Frauen daheim oder aber Köchinnen, die für den Service arbeiten, für sie zubereitet haben. Mag es an religiösen Vorschriften der Essenszubereitung, traditionellem Kastendenken oder lediglich kulinarischen Neigungen liegen – die Kunden der Dabbawallahs finden die Angebote der Supermärkte und Fastfood-Ketten nicht verlockend.

Fraglich bleibt, wie viele Menschen in Indien sich überhaupt jemals einen modernen Ernährungsstil leisten könnten – selbst wenn sie es wollten. Denn anders als wohlhabende Konsumenten, die sich zwischen Luxusrestaurants und Fastfood in den vielen neuen Shopping Malls entscheiden können, haben 600 Millionen Inder gar keine Wahl. Sie können sich kaum die staatlich subventionierten Lebensmittel leisten. Drei Mahlzeiten am Tag sind für viele Familien ein Wunschtraum. Und die Chancen, sich jemals ihr Essen aussuchen zu können, stehen für die meisten von ihnen schlecht.

Elke Proell ist Ernährungswissenschaftlerin und freie Journalistin mit Schwerpunkt Entwicklungszusammenarbeit in Saarbrücken.

welt-sichten 6-2008

 

erschienen in Ausgabe 6 / 2008: Welternährung
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