Wie eine brasilianische Millionenstadt Abfallbeseitigung mit Sozialpolitik verknüpft
Von Karl Otterbein
Im südbrasilianischen Curitiba sammeln seit Ende der 1980er Jahre die Bewohner der Armenviertel Abfälle und bekommen dafür von der Stadt Lebensmittel, Schulhefte oder Busfahrscheine. Dank des Tauschprogramms kann die Millionenstadt eine beachtliche Recycling-Quote vorweisen. Die Stadt ist sauberer geworden und die Lebensbedingungen in den armen Randbezirken haben sich verbessert.
Curitiba, die rund 1,7 Millionen Einwohner zählende Hauptstadt des südbrasilianischen Bundesstaates Paraná, hat nicht nur ein effizientes Bussystem, sondern auch ein vorbildliches Abfallmanagement. Es basiert auf der Beteiligung der ärmeren Bevölkerungsgruppen und setzt weltweit Maßstäbe für eine soziale und umweltschonende Stadtentwicklung. 1989 startete die Stadtverwaltung unter Oberbürgermeister Jaime Lerner an den öffentlichen Schulen die Erziehungskampagne „Müll, der kein Müll ist“, um mit Broschüren und Fernsehspots die Schüler für das Trennen von Abfall zu gewinnen. Lerner, von Haus aus Stadtplaner, hatte sich vorgenommen, eine Lösung für die Müllentsorgung in den engen und verwinkelten Favelas zu finden, in die keine größeren Lastwagen fahren können.
Die Stadt rief das Programm „Cambia Verde“ – „Grüner Tausch“ ins Leben: Die Favela-Bewohner sammeln die Abfälle in Müllsäcken und tauschen sie an rund 80 Sammelstellen gegen Lebensmittel oder Schulhefte. Für vier Kilo vorsortierte Wertstoffe wie Papier, Pappe und Plastik bekommen sie ein Kilo im Umland erzeugtes Obst und Gemüse, Mehl und Eier. Für Alu-Dosen gibt es Bargeld, und für den organischen Abfall erhalten die Favela-Bewohner Busfahrscheine, mit denen sie zu ihren meist im Stadtzentrum gelegenen Arbeitsplätzen fahren können. Nach Schätzungen tauschen die Bewohner von Curitibas Armenvierteln pro Jahr etwa 10.000 Tonnen vorsortierten Müll gegen knapp eine Million Bustickets und 1200 Tonnen Lebensmittel. Die Erlöse aus dem Verkauf der verwertbaren Abfallstoffe an lokale Recycling-Betriebe fließen vornehmlich in Sozialprogramme. Curitibas Müllprogramm ist auch wirtschaftlich rentabel: Es ist nicht teurer als die Entsorgung über Deponien.
Gute Quote bei der Mülltrennung
In den vergangenen Jahren ist die Recycling-Rate leicht gesunken, weil die Nachfolger von Bürgermeister Lerner, der seit 1992 Gouverneur von Paraná ist, das Thema weniger wichtig genommen haben. Mit einer Trenn-Quote von derzeit 22 Prozent des gesamten Müllaufkommens weist Curitiba aber laut der städtischen Umweltbehörde immer noch einen guten Wert auf. Insgesamt ist die Stadt nach einhelliger Auffassung in den früher vernachlässigten armen Wohnbezirken deutlich sauberer geworden. Vor allem die Kinder sind ständig unterwegs, um „Tauschobjekte“ zu sammeln. Weniger Schmutz auf den Straßen bedeutet auch weniger Krankheiten, und das wiederum verbessert unmittelbar die wirtschaftliche Lage der Bewohner. Der „Grüne Tausch“ ist deshalb auch ein Modell für die soziale Integration randständiger Bevölkerungsgruppen. Das Programm fördert die lokale Wertschöpfung und die Versorgung mit gesunden Lebensmitteln und verbessert die Bildungschancen der Kinder. In den städtischen Müllsortieranlagen sind vor allem schwer vermittelbare oder behinderte Arbeitskräfte beschäftigt. Zudem garantiert der „Grüne Tausch“ den Kleinbauern im Umland von Curitiba einen stabilen Absatzmarkt und hält dadurch eine funktionierende Kreislaufwirtschaft in Gang.
Karl Otterbein ist Mitarbeiter von „welt-sichten“.
welt-sichten 4-2008