Kernkraft für das Klima?

UN-Klimakonferenz
Mehr Atomkraftwerke sind ein Beitrag zum Klimaschutz, behaupten ihre Fürsprecher im Vorfeld des kommenden UN-Klimagipfels. Das ist falsch und irreführend.

Die UN-Klimakonferenz im schottischen Glasgow, die wegen der Corona-Pandemie verschoben werden musste, findet nun Anfang November dieses Jahres statt. 30.000 Teilnehmende hatten sich vergangenes Jahr dazu angemeldet – darunter eine wundersam angewachsene Zahl sogenannter nichtstaatlicher Organisationen (NGOs), die sich für möglichst viele Atomkraftwerke (AKW) in aller Welt einsetzen, weil die nur wenig oder gar keine Treibhausgase verursachen würden. 

Die Klimakrise soll als neuer Rettungsanker für die AKW-Industrie herhalten. Die Atombranche darbt, seit der „größte anzunehmende Unfall“ im Reaktor in Tschernobyl 1986 den Neubau von Atomkraftwerken stark gebremst hat. Zwanzig Jahre lang wurden nur bereits vorher vertraglich beschlossene Reaktoren gebaut und erst dann wieder wenige neue Projekte vergeben; nur China begann mit neuen Planungen. Die Finanzkrise von 2008 und die Fukushima-Katastrophe von 2011 dämpften den Neubau erneut, und die wenigen Großprojekte in Industriestaaten – in Finnland (Olkiluoto), Frankreich (Flamanville) und Großbritannien (Hinkley Point) – wachsen sich zu Finanzgräbern für staatliche Mittel aus. Die Behauptung, dass Atomstrom preisgünstiger ist als Strom aus anderen Quellen, ist längst nur noch mit statistischen Tricks aufrecht zu erhalten.

Doch der Bedarf an Elektrizität wächst weltweit, während die fatalen Folgen der Verstromung von Kohle und Erdöl für das Klima immer mehr anerkannt werden. Dieses Dilemma hat dem angeblich treibhausgasarmen Atomstrom zu einem Platz auf der Bühne der UN-Klimakonferenzen verholfen. Das Pariser Klimaabkommen von 2015 lässt offen, wie die Mitgliedstaaten ihre Verpflichtung zur Minderung der Treibhausgase umsetzen und was genau als Beitrag zu dieser Minderung angerechnet werden kann. Eine Reihe von Staaten setzt hier auf Atomkraft.

Folgelasten und Folgekosten

Aber stimmen die Rechnungen? Richtig ist, dass der Betrieb eines AKW nur wenige Treibhausgase freisetzt – sehr viel weniger, als Kohle, Öl oder Erdgas in Kraftwerken zu verheizen. Aber das ist nur ein Bruchteil der Treibhausgasbilanz. Im gesamten Lebenszyklus der Reaktoren sieht es anders aus, weil Folgelasten wie der Rückbau und die Lagerung des Mülls lange Zeit viel Energie verbrauchen. Die Folgekosten sind zudem schlicht noch nicht berechenbar, weil der gefährlichste radioaktive Abfall, ein Plutonium-Isotop, erst nach Jahrtausenden zerfallen ist und es deshalb noch keine Erfahrungswerte für die Kalkulation geben kann.

Autor

Heimo Claasen

ist freier Journalist in Brüssel und ständiger Mitarbeiter von "welt-sichten".
Zum anderen sind die Aussichten für neue Anlagen nicht günstig. Seit zwanzig Jahren werkeln Firmen und Institute zwar an der Entwicklung von kleinen und modularen Atomreaktoren, die auf Inseln oder in isolierten Gebieten wie in Bergwerksregionen von Sibirien und Kanada Strom liefern könnten. Aber das Konzept ist bislang kein Verkaufsschlager, schon gar nicht in ärmeren Ländern des Südens, für die es vom Weltverband der Atomwirtschaft (World Nuclear Association, WNA) angepriesen wird. Und das ist kein Wunder: In der Fachpresse ist klar zu lesen, dass Strom aus kleinen modularen Reaktoren zum teuersten überhaupt gehören würde.

Stattdessen wurden seit der Jahrtausendwende nur wenige herkömmliche, große AKW-Blöcke geplant, noch weniger begonnen und kaum eine Handvoll bisher in Schwellenländern in Betrieb genommen: in Brasilien, Pakistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). Nur ohnehin schon mit vielen Atomkraftwerken ausgestattete Länder bauen weiterhin neue: Russland, Indien, China und Südkorea – Letzteres aber nurmehr für den Export. Deshalb ist nicht zu erkennen, dass Atomkraft erheblich zur globalen Minderung von Emissionen beitragen könnte.

Die Treffen von Regierungshäuptern und Atomwirtschaft

Umso heftiger wirbt die Atomwirtschaft genau dafür. Dem kommt entgegen, was im politischen Jargon inzwischen als „Clubisierung“ bezeichnet wird – die mehr oder weniger umfangreichen, formellen oder informellen Treffen der Regierungshäupter aus führenden Staaten: von sieben großen Industrieländern in der G7, zwanzig Industrie- und Schwellenländern in der G20, aber auch im Weltwirtschaftsforum, im Petersberg-Dialog und im April beim Treffen der 40 „Leader“ in Washington. Mit dabei sind meist die obersten Vertreter der Atomwirtschaft. So war Fatih Birol, der Direktor der Internationalen Energie-Agentur (IEA) der OECD-Länder, zu Bidens Treffen geladen.

In diesen Klubs wird vorbesprochen, was auf der UN-Klimakonferenz COP26 verhandelt wird: Welche Vorhaben kann sich ein Staat als Erfüllung der eigenen Klimaschutz-Zusagen anrechnen lassen? Schon jetzt ist aus Äußerungen von Klubteilnehmern, etwa Staaten mit AKW, ersichtlich, dass die Kernthesen der Atomwirtschaft Gehör finden: Es sei nötig, weltweit einen Mindestanteil der Stromerzeugung aus Atomkraft zu gewährleisten; die Technik dazu sei flexibel und zuverlässig; neue AKW-Technologie könne den wachsenden Strombedarf decken; und Kernkraft sei (ein Argument mit Blick auf Europa) gut für die Erzeugung von Wasserstoff nutzbar sowie (mit Blick auf wasserarme Länder wie die arabischen) für die Entsalzung von Meerwasser.

Das sind Mythen, besonders wenn es um Länder des globalen Südens geht. Laut der WNA können erneuerbare Energien zwar den Verzicht auf Kohle und den verminderten Gebrauch von Öl und Gas in der Stromerzeugung ausgleichen. Aber angesichts des steigenden Strombedarfs müsse der Anteil des Atomstroms global steigen – laut WNA auf bis zu 25 Prozent. Zudem müssten die jetzt laufenden Anlagen bis 2050 ersetzt werden. In der Summe würden bis 2050 rund tausend neue Kraftwerke gebraucht. Das ist angesichts der erwähnten hohen Kosten des Atomstroms völlig illusorisch.

Angeblich können AKW, anders als Wind- und Solarkraftwerke, eine Grundversorgung rund um die Uhr und zu allen Jahreszeiten gewährleisten. Aber so verlässlich ist Atomstrom nicht, und je höher sein Anteil an der Produktion, desto größer das Risiko für einen Ausfall des gesamten Stromnetzes, wenn eine Anlage abgeschaltet werden muss. Zudem ist Atomkraft unflexibel: Reaktoren können nur langsam hochfahren. 

Reaktoren auf dem Reißbrett

Kleine Reaktoren, die zu größeren Anlagen zusammensetzbar wären, sollen dieses Problem lösen und zusätzlichen Strom liefern, verspricht die Atomwirtschaft – gerade für Inseln und für Regionen ohne Stromnetz in Entwicklungsländern. Aber solche Reaktoren existieren bisher nur auf dem Reißbrett, und trotz hoher staatlicher Subventionen, besonders in den USA und Kanada, kommen bis zum Jahr 2050 bestenfalls Versuchstypen zustande.

Und es gibt einen anderen, gefährlichen Haken: Kleine Reaktoren wurden und werden von Russland, China, Frankreich und den USA seit Jahrzehnten für Kriegsschiffe gebaut und benötigen höher und sogar hoch angereichertes Uran. Diese Art Brennstoff ist bombenfähig. In einigen der Entwürfe für kommerzielle Klein-AKW ist zwar vorgesehen, mit ganz neuer Technik den atomaren Treibstoff für gefährlichen Missbrauch untauglich zu machen, aber das sind bestenfalls Phantasien fürs nächste Jahrhundert.

Schließlich: Mit überschüssigem Atomstrom nebenbei Wasserstoff zu produzieren, ist hinsichtlich der Energiebilanz und mehr noch ökonomisch Unsinn. Das Gleiche gilt für Meerwasserentsalzung mit Atomkraft, denn gerade wo die gefragt wäre, ist Solarstrom im Überfluss und viel billiger zu haben. Zudem brauchen Atommeiler Kühlwasser, Salzwasser ist dafür ungeeignet. Kernkraft ist weder unter ökologischen noch unter ökonomischen Gesichtspunkten ein sinnvoller Beitrag, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Die Teilnehmer der COP26 sind gut beraten, auf diese Versprechen nicht hereinzufallen.

 

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erschienen in Ausgabe 10 / 2021: Pfingstler auf dem Vormarsch
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