Namgyal Lhamo Taklha Die Frauen von Tibet Nymphenburger Verlag, München 2007, 286 Seiten, 19,90 Euro
Vorsicht schien geboten. Wenn Namgyal Lhamo Taklha, eine hohe Adelige und Schwägerin des Dalai Lama, über die alte tibetische Gesellschaft schreibt, könnte sie leicht Gefahr laufen, das Vergangene zu idealisieren,denn gerade ihre Schicht hat unter der chinesischen Besetzung all ihre Privilegien verloren.Namgyal Lhamo Taklha erliegt dieser Gefahr nicht. Ihr Buch ist eine umfassende und gleichzeitig sehr persönliche Schilderung verschiedener Frauenschicksale, die ein umfassendes Bild von den Lebensumständen und den Entfaltungsmöglichkeiten der weiblichen Hälfte der tibetischen Bevölkerung vermittelt.
Natürlich war das alte Tibet von Emanzipation im europäischen Sinne weit entfernt. Alle öffentlichen Ämter wurden von Männern bekleidet. Die Nonnen, die ohnehin kaum zehn Prozent der Geistlichkeit ausmachten, erhielten nicht die volle Ordination, sondern durften nur das Novizengelübde ablegen. Ebenso waren andere Formen der institutionellen Diskriminierung verbreitet. Dennoch bringen viele Reisende aus Europa immer wieder ihre Verwunderung zum Ausdruck, wie selbstbewusst und selbstbestimmt die tibetischen Frauen auftreten. Schon vor Jahrhunderten waren sie in der Öffentlichkeit viel präsenter als etwa die Frauen in den Nachbarländern China und Indien.
Namgyal Lhamo Taklha macht deutlich,warum das so ist. Dabei doziert sie nicht, sondern lässt die Frauen selbst zu Wort kommen. Nomadenfrauen schildern ihren harten Alltag mit den Viehherden, Nonnen die Freiheiten des Klosterlebens und ihre Hingabe an die buddhistische Lehre, Adelige ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen und Zwänge.
Auch die Mutter des Dalai Lama, in Tibet die „Große Mutter“ genannt, kommt ausführlich zu Wort. Bis zur Geburt ihres Sohnes, der im Alter von zwei Jahren als Dalai Lama erkannt wurde,war sie eine einfache Bäuerin aus dem Nordosten Tibets, nicht weit von der chinesischen Grenze, und sie kannte das harte, von Arbeit und Gebeten geprägte Leben. Mit der Anerkennung ihres Sohnes als tibetisches Oberhaupt änderte sich für sie alles und sie benötigte lange, um das zu begreifen. Doch obwohl sie „keinen Finger mehr rühren musste (...), sorgte sie sich nur um das Wohl anderer“, so ihre Schwiegertochter, Namgyal Lhamo Taklha.
Vor allem die Adeligen verschweigen in ihren Erzählungen nicht die patriarchalen Strukturen des alten Tibet.Wenn zum Beispiel die Sippe Ehen arrangierte, wurde vor allem darauf geachtet, den eigenen Einfluss zu vergrößern. Aber viele tibetische Frauen hatten die Kraft, sich innerhalb dieser Strukturen Freiräume zu erkämpfen und eigene Visionen zu verwirklichen. Namgyal Lhamo Taklha legt ein beredtes Zeugnis davon ab.
Klemens Ludwig
welt-sichten 1-2008