Soumaya gerät ins Schwärmen, wenn sie von den friedlichen Demonstrationen aus dem Jahr 2019 erzählt, die ihr Land verändert haben. Die 30-Jährige promoviert in Pharmazie an der Universität in Algier und hatte sich wie Hunderttausende ihrer Landsleute den Protesten gegen die algerische Regierung, gegen Korruption und Vetternwirtschaft angeschlossen. Die führten schließlich im April 2019 zum Rücktritt des langjährigen Machthabers Abdelaziz Bouteflika. Die Stimmung auf den Straßen sei überwältigend gewesen, erzählt Soumaya, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will. „Männer und Frauen marschierten nebeneinander und plötzlich machte es keinen Unterschied, woher du kommst, wie alt du bist, welcher sozialen Schicht du angehörst. Die Jugendlichen schienen die Reife und Gelassenheit der Alten übernommen zu haben, und die Alten wirkten entschlossen und vital wie die Jungen.“
Vor genau zwei Jahren, im Februar 2019, hatten die landesweiten Demonstrationen begonnen. Dreizehn Monate dauerten sie an, bevor die Corona-Pandemie ihnen ein jähes Ende bereitete. Bis dahin waren Algerierinnen und Algerier jeden Dienstag und Freitag auf die Straße gegangen: gewaltlos, umsichtig, Ruhe bewahrend. Die Menschen ließen sich von „zufällig“ herumliegenden Pflastersteinen nicht provozieren: Viele meinen, die Sicherheitskräfte hätten sie absichtlich am Rande der Demonstrationszüge platziert, um die Menschen zu Ausschreitungen anzustacheln und dann härter eingreifen zu können. Die Demonstranten kehrten nach den Protesten die Straßen und sammelten den Müll ein, organisierten sich online über die sozialen Netzwerke, dezentral und eigenverantwortlich. Sie gaben sich selbst den Namen „Hirak“, arabisch für Bewegung. „Das Wunder des Hirak ist, dass die Leute sich neu erfunden haben“, erklärt die Politikwissenschaftlerin Naoual Belakhdar von der Freien Universität Berlin. „Sie haben erlebt, dass sie etwas bewirken können.“
Doch mittlerweile ist die Aufbruchstimmung verflogen, die Begeisterung ist der Ernüchterung gewichen. Denn im Schatten der Pandemie hat die neue algerische Regierung, die faktisch aus der alten Garde besteht, hunderte Aktivistinnen und Blogger, Journalisten, Anwälte und unbequeme Geistliche ins Gefängnis geworfen. „Der Anstieg von Gerichtsverfahren gegen Journalisten ist extrem beunruhigend und markiert einen offensichtlichen Verfall der Pressefreiheit in Algerien“, warnt Reporter ohne Grenzen.
„Anstiftung zu einer unbewaffneten Versammlung“
Der aufsehenerregendste Fall der vergangenen Monate war die Verurteilung des bekannten Journalisten Khaled Drareni zu zwei Jahren Haft. Dem 40-jährigen Chefredakteur der oppositionellen Internetzeitung „Casbah Tribune“, der auch an Demonstrationen der Bürgerbewegung Hirak teilgenommen hat, wird „Anstiftung zu einer unbewaffneten Versammlung“, die „Gefährdung der nationalen Einheit“ sowie die Verbreitung von regierungskritischen Informationen in sozialen Netzwerken vorgeworfen.
Autorin
Elisa Rheinheimer
Elisa Rheinheimer betreut als freie Mitarbeiterin den Webauftritt von "welt-sichten". Ihre Themenschwerpunkte sind Nordafrika, arabische Welt und EU-Politik.Das Europäische Parlament hat Ende November eine Resolution verabschiedet, in der es europäische Institutionen und Regierungen aufruft, die algerische Zivilgesellschaft zu unterstützen. Das EU-Parlament erwarte, dass die EU bei Verhandlungen mit der algerischen Regierung „die Situation der Menschenrechte an erste Stelle setzt“, heißt es in der Resolution. Das bleibt wohl ein frommer Wunsch. Denn die algerische Regierung ist ein wichtiger Partner für Europa, die EU bezieht bis zu dreißig Prozent ihrer Erdgas- und Erdölimporte aus dem nordafrikanischen Land. An Veränderung sind europäische Politiker daher wenig interessiert. Frankreich gebärdet sich in den Augen vieler Algerier noch heute als Kolonialmacht, die Verbindungen zur algerischen Machtelite sind eng. Und in der Flüchtlingsabwehr dient das autoritäre Regime mit seinem hochgerüsteten Militär Europa als Türsteher. Die Waffen dafür kommen auch aus Deutschland: Algerien ist einer der Hauptabnehmer deutscher Rüstungsgüter.
„Weltweite Solidarität mit den algerischen Aktivisten und ihren Forderungen nach Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit? Fehlanzeige!“, kommentiert der Politikberater und Algerien-Kenner Francis Ghilès vom Barcelona Centre for International Affairs. „Westliche Regierungen unterstützen wortreich die pro-demokratischen Aktivisten in Hongkong, sie interessieren sich für die Proteste in Belarus, schweigen aber zu denen in Algerien und bestätigen dadurch, dass sie es weiterhin bevorzugen, mit einem autoritären Regime zu kooperieren“, sagt er. Allerdings will die Bürgerbewegung Hirak auch gar keine Einmischung von außen: Die Regierung wirft ihr ohnehin schon vor, sie sei „von ausländischer Hand“ gesteuert.
Am 1. November nun haben die Algerier über eine neue Verfassung abgestimmt. Die Regierung verkaufte das Referendum und die Mehrheit der Stimmen als Sieg. Angesichts der geringen Wahlbeteiligung von knapp 24 Prozent entpuppt sich das aber als Augenwischerei. Der Hirak hatte so wie die meisten Oppositionsparteien zuvor zu einem Boykott aufgerufen.
Es ist schwierig, Expertinnen zu finden, die sich zustimmend zur neuen Verfassung äußern. Das liegt auch an der besonderen Rolle, die sie dem algerischen Militär zuweist. Seit der Unabhängigkeit Algeriens 1962 bestimmen Generäle die Politik maßgeblich mit. Die neue Verfassung sieht eine Konzentration der Macht im Präsidentenamt vor – und das wird vom Militär kontrolliert. Präsident Abdelmadjid Tebboune selbst war vor einem Jahr mit Rückendeckung des Militärs ins Amt gekommen. Zudem sorgt Artikel 30 der neuen Verfassung für besondere Kritik: „Die Armee verteidigt die vitalen und strategischen Interessen des Landes“, heißt es darin. Das ist derart offen formuliert, dass sich die Militärführung unmittelbar in politische Belange einmischen kann.
„Diktatur mit demokratischer Fassade“
„Die Armee müsste ihre Macht umgehend an zivile Kreise übergeben“, fordert hingegen der Menschenrechtsaktivist Rabah Arkam. Und präzisiert: „Der Ursprung aller Probleme in Algerien liegt nicht in der Verfassung – welcher auch immer –, sondern in einer Legitimitätskrise der politischen Macht.“ Arkam, der heute in den USA lebt, schrieb sogar einen Brief an UN-Generalsekretär António Guterres, um die Vereinten Nationen auf die sich verschlechternde Menschenrechtslage in Algerien aufmerksam zu machen. Darin heißt es: „Algerien nennt sich demokratische Volksrepublik, aber es ist weder republikanisch noch demokratisch noch volksnah. Hinter dieser semantischen Hülle verbirgt sich eine Diktatur mit demokratischer Fassade und populistischer Rhetorik.“ Eine Antwort hat er nicht bekommen.
Für die 43 Millionen Algerier ist das, was Arkam anprangert, bittere Realität – und der Grund dafür, dass sich so wenige Menschen am Verfassungsreferendum beteiligt haben. Viele interessieren sich nicht für die einzelnen Artikel, über die politische Analysten streiten. Der Inhalt ist ihnen egal. Weil sie wissen, dass Papier geduldig ist. Weil ihre Verwandten und Nachbarinnen, Kommilitonen und Freunde eingeschüchtert oder verhaftet werden, während die Regierung die Freiheiten der neuen Verfassung preist. Darum ist auch Samy am Tag des Referendums zu Hause geblieben. „Wozu brauchen wir eine neue Verfassung? Die bisherige ist nicht schlecht, wenn sich die Politik denn mal danach richten würde“, sagt er. Schon die alte Verfassung garantierte etwa die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. Samy ist mit seiner düsteren Einschätzung nicht allein. Auch Verfassungsexperten bemängeln, die Rechte wie zum Beispiel die Meinungs- und Pressefreiheit, die die neue Verfassung garantiere, seien nicht einklagbar und damit leere Versprechen.
Für Frustration sorgte aber vor allem der Verfassungsprozess selbst. Die vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen – ob Frauengruppen oder Studentenorganisationen – die sich im Laufe der vergangenen zwei Jahre gebildet haben, waren nämlich in keiner Weise eingebunden worden. Dabei hatten sich zahlreiche Algerier bemüht, eine breite Diskussion über eine neue Verfassung anzustoßen. Zum Beispiel der Aktivist Hichem Rouibah, der auf Facebook eine Gruppe namens Aktab Doustourek (Schreibe deine Verfassung) ins Leben rief und zu Beiträgen einlud. Oder der Musiker Amazigh Kateb, der das sogenannte Machmoul-Projekt initiierte: Über ein Jahr lang sammelte er Meinungen über die Richtung der neuen Verfassung und veröffentlichte den Textvorschlag im Frühjahr 2020. Zuvor hatte bereits die Tageszeitung „Liberté“ den Entwurf einer Bürgercharta herausgegeben, in dem 160 Intellektuelle Verfassungsartikel vorschlugen. Aber nichts davon finde sich in der Verfassung wieder, die die Regierung ausgearbeitet hat, sagt der algerische Kommentator Yacine Abderahmane, der für die Denkfabrik Arab Reform Initiative einen Essay zur Verfassungsreform geschrieben hat. „Denn die Regierung ist an einem wirklichen Wandel nicht interessiert.“
Der Aktivist Samy ist dennoch verhalten optimistisch. „Den neuen Mut der Menschen zu erleben, ist wie eine Wiedergeburt für Algerien“, sagt er. Auch Politikwissenschaftler Francis Ghilès ist überzeugt: „Der Hirak hat bedeutende demokratische Samen gesät“. Ob die Saat aufgeht, hängt in erster Linie davon ab, ob Teile der herrschenden Elite dies zulassen – wenigstens ansatzweise. Auch Europa spielt eine Rolle. Träten Staatschefs wie Emmanuel Macron oder Angela Merkel in ihren Beziehungen zu Algerien konsequenter für die Menschenrechte ein und würden sie deren Einhaltung zur Bedingung für wirtschaftliche Beziehungen erklären, könnte dies das algerische Regime zu Veränderungen drängen. Momentan sieht es nicht danach aus. Doch feststeht: Dem Hirak ist es gelungen, die Barriere der Angst in den Köpfen und Herzen der Menschen niederzureißen. Das zumindest ist unumkehrbar.
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