Ungleichheit macht krank

Viele soziale Missstände gehen auf hohe Einkommensunterschiede zurück

Von Richard Wilkinson

Vergleiche zwischen hoch entwickelten Gesellschaften zeigen, dass bei höherer Ungleichheit der Gesundheitsstand schlechter und soziale Probleme wie Gewaltverbrechen häufiger sind. Das liegt daran, dass große Unterschiede zwischen den Einkommen einhergehen mit stärker hierarchischen sozialen Beziehungen und schärferer Statuskonkurrenz. Der dadurch verursachte Stress löst Krankheiten aus.

Viele Menschen glauben, dass Ungleichheit den Zusammenhalt der Gesellschaft untergräbt. Doch wie sie sich auswirkt, gilt weithin als Frage von persönlichen Ansichten und Meinungen. Empirische Untersuchungen zeigen jedoch: Ungleichheit ist die wichtigste Erklärung dafür, dass einige der wohlhabendsten Gesellschaften ungeachtet ihres außerordentlichen materiellen Erfolgs sozial gescheitert sind. Für Gesellschaften, in denen die Einkommensunterschiede zwischen Reich und Arm geringer sind, zeigen statistische Indikatoren mehr sozialen Zusammenhalt und Vertrauen zwischen den Menschen an. Das Ausmaß der Gewalt ist geringer, Morde sind seltener. Tendenziell ist dort auch der durchschnittliche Gesundheitszustand besser und die Lebenserwartung höher.Die meisten Probleme, die mit so genannter relativer Deprivation (Entbehrung im Verhältnis zu anderen) einhergehen, kommen seltener vor: Es sitzen weniger Menschen im Gefängnis, weniger Minderjährige werden schwanger, die Lese- und Mathematikleistungen sind etwas höher und weniger Menschen sind fettleibig.

Damit werden eine große Zahl Missstände mit Ungleichheit in Verbindung gebracht. Doch alle diese Verbindungen sind mindestens an zwei Vergleichsgruppen statistisch nachgewiesen: zwischen den reichen entwickelten Staaten sowie zwischen den 50 Bundesstaaten der USA. In beiden Gruppen schneiden Regionen mit geringerer Einkommensungleichheit jeweils besser ab, und das kann nicht auf Zufall beruhen.

Natürlich trägt Ungleichheit zu manchen Problemen stärker bei als zu anderen und ist keineswegs die einzige Ursache von sozialen Missständen. Doch anscheinend ist das Ausmaß der Ungleichheit der wichtigste einzelne Bestimmungsgrund für die enormen Unterschiede in der Häufigkeit von sozialen Problemen.

Die naheliegendste Erklärung dafür ist, dass es in stärker ungleichen Gesellschaften auch mehr arme Menschen gibt. Doch das kann nicht der wichtigste Grund sein. Die meisten Auswirkungen hoher Ungleichheit zeigen sich nämlich nicht nur unter den Armen der jeweiligen Region sondern unter der großen Mehrheit der Bevölkerung: In stärker ungleichen Gesellschaften sind auch Angehörige der begüterten Mittelschichten im Durchschnitt weniger gesund, weniger ins Gemeinschaftsleben eingebunden, eher fettleibig und öfter Opfer von Gewalt. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder in der Schule schlecht abschneiden, Drogen konsumieren und als Minderjährige Eltern werden, ist in solchen Gesellschaften höher.

Man muss sich klar machen, dass wir es hier mit Effekten von relativer, nicht von absoluter Armut zu tun haben. Probleme wie Gewalt, Gesundheitsmängel und Schulversagen kann man nicht mittels wirtschaftlichen Wachstums beheben:Wenn alle reicher werden, ohne dass eine Umverteilung die Ungleichheit verringert, hilft das nichts.

In ärmeren Ländern bleibt Wirtschaftswachstum natürlich wichtig. Hier sind sowohl Wachstum als auch weniger Ungleichheit entscheidend, um zum Beispiel den Gesundheitszustand zu verbessern. Doch der statistische Zusammenhang zwischen dem Bruttosozialprodukt pro Kopf und der Lebenserwartung wird immer schwächer je reicher ein Land wird und verschwindet schließlich ganz. Unter den reichsten 25 oder 30 Staaten findet man keinerlei Trend, wonach der Gesundheitszustand in den wohlhabendsten besser wäre als in weniger wohlhabenden Ländern. Das gleiche gilt für die Verbreitung von Schwangerschaften unter Minderjährigen, für das Niveau der Gewalt, für Lese- und Mathematikleistungen unter Kindern und sogar für die Raten der Fettleibigkeit. Die reichen Länder haben einen Entwicklungsstand erreicht, auf dem ein weiterer Anstieg des materiellen Lebensstandards nichts dazu beiträgt, soziale Probleme oder die Krankheitslast zu verringern.

Dass zum Beispiel die USA unter den Industrieländern die höchsten Raten von Mord und Totschlag, Teenager-Schwangerschaften und Gefängnisinsassen aufweisen und bei der Lebenserwartung an 28. Stelle stehen, liegt daran, dass dort die Einkommensunterschiede am höchsten sind. Im Gegensatz dazu schneiden Länder wie Japan, Schweden und Norwegen, die ein weniger hohes Pro-Kopf-Einkommen, aber auch weniger Ungleichheit aufweisen, bei all diesen sozialen Indikatoren gut ab. Und von den 50 US-Bundesstaaten haben die mit geringerer Ungleichheit bei den meisten der erwähnten Sozialindikatoren ähnlich gute Werte wie eher egalitäre Staaten.

Innerhalb der reichen Länder sind jedoch der Gesundheitsstand und die Häufigkeit sozialer Probleme eng mit dem Einkommen verknüpft: In relativ ärmeren Regionen treten die meisten sozialen Probleme häufiger auf. Wie ist es zu verstehen, dass die Einkommensunterschiede innerhalb reicher Gesellschaften sich in der Gesundheitsstatistik stark auswirken, zwischen ihnen aber nicht? Das bedeutet es kommt darauf an,welche Position wir im Verhältnis zu anderen in unserer eigenen Gesellschaft einnehmen. Entscheidend sind der soziale Status und das Einkommen im Vergleich zu Mitbürgerinnen und Mitbürgern.

Wie aber können sich Statusunterschiede auf die Gesundheit auswirken? Der durchschnittliche Gesundheitszustand wird von den unteren Schichten bis ganz nach oben durch die gesamte Gesellschaft hindurch besser: Selbst begüterte Mittelschichten haben statistisch eine geringere Lebenserwartung als die sehr Reichen. Dass jemand weniger Rasenfläche zum Mähen hat oder ein Auto weniger in der Garage, ist keine plausible Erklärung für diese Unterschiede. Vielmehr, so hat die Forschung gezeigt, sind psycho-soziale Faktoren von Bedeutung. Freundschaften, ein Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben sowie gute Erfahrungen in der frühen Kindheit fördern die Gesundheit, während sich etwa Feindseligkeit und Angst sehr schädlich auswirken. Chronischer Stress macht anfälliger für Krankheiten, weil er das Immunsystem und das Herz-Kreislauf- System angreift – anfälliger für so viele Krankheiten, dass Stress mit vorzeitigem Altern verglichen worden ist.

FOLGEN DES SOZIALEN STATUS FÜR DIE GESUNDHEIT

Wir wissen heute, dass die psychologischen und emotionalen Folgen des sozialen Status ein wesentlicher Faktor der Unterschiede im Gesundheitszustand sind. Studien an Affen haben das eindrucksvoll bestätigt. Die Auswirkungen des sozialen Status auf Menschen kann man analytisch nicht eindeutig von denen besserer materieller Lebensumstände trennen. Bei Experimenten mit Tieren ist diese Unterscheidung jedoch möglich.

So hat man bei mehreren Gruppen von Makaken den sozialen Status einzelner Tiere dadurch manipuliert, dass man sie von einer Gruppe in eine andere verlegt hat, wo sie einen niedrigeren oder höheren Rang bekamen. Dabei wurden die Ernährung und die sonstigen Lebensbedingungen für alle konstant gehalten. Die Studie hat gezeigt, dass der im niedrigeren Status begründete Stress auf die Makaken körperliche Auswirkungen hat – und zwar ganz ähnliche wie auf Menschen. Spätere Studien an anderen Affenarten haben ergeben, dass dieser Stress je nach der Art der Hierarchie unter den Tieren und der Qualität ihrer sozialen Beziehungen untereinander verschieden stark ist.

Die große Bedeutung der sozialen Umwelt für die Gesundheit wirft die Frage auf, ob die Qualität der sozialen Beziehungen in stärker ungleichen Gesellschaften anders ist als in weniger ungleichen. Dies lässt sich aus den Daten eindeutig beantworten. Zum Beispiel sind in den Bundesstaaten der USA mit der höchsten Ungleichheit 35 bis 40 Prozent der Bevölkerung überzeugt, man könne anderen nicht trauen, dagegen nur 10 Prozent in den am wenigsten ungleichen Bundesstaaten. International sind die Unterschiede ähnlich groß. Andere Indikatoren für das „soziale Kapital“ und für die Beteiligung am Gemeinschaftsleben bestätigen, dass hohe Ungleichheit sich zersetzend auf die sozialen Beziehungen auswirkt. Und das muss einer der wichtigsten Wege sein, auf denen Ungleichheit die Lebensqualität beeinträchtigt.

Das Ausmaß der Einkommensungleichheit ist ein Anhaltspunkt dafür, wie hierarchisch eine Gesellschaft ist und wie groß die Klassenunterschiede sind. Die wenigen vergleichbaren Daten zur sozialen Mobilität in verschiedenen Ländern weisen darauf hin, dass diese in Ländern mit hoher Ungleichheit geringer ist.

So sind die USA keineswegs das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, die soziale Mobilität ist dort vergleichsweise gering. Offenbar hat zudem das Anwachsen der Einkommensungleichheit in den USA und in Großbritannien zu einer stärkeren Abschottung von Reich und Arm in eigenen Wohnbezirken geführt. Größere Unterschiede bedeuten also weniger Mischung und Austausch, sowohl sozial als auch räumlich.

Ungleichheit verschärft zudem die mit relativer Deprivation verbundenen Probleme – sie ist wie gezeigt mit höheren Raten von Gefängnisinsassen und Fettleibigkeit, mehr Gewalt und schlechterer Gesundheit verbunden. Das bedeutet wahrscheinlich: Je größer die Einkommens- und Statusunterschiede sind, desto wichtiger werden der soziale Status und desto schärfer die Status-Konkurrenz und der damit verbundene Stress.

Aber warum reagieren wir so sensibel darauf? Warum greift Ungleichheit uns so an? Hinweise auf die dafür verantwortlichen Mechanismen finden wir in den psycho-sozialen Faktoren,welche die Gesundheit beeinträchtigen. Unter diesen stechen drei stark gesellschaftlich bestimmte Faktoren hervor: niedriger sozialer Status, schwache Freundschaftsnetze und schlechte Erfahrungen in der frühen Kindheit. Studien belegen, dass genau dies in wohlhabenden Gesellschaften die am weitesten verbreiteten Ursachen von chronischem Stress sind.

Alle drei können Indikatoren für unterschwellige soziale Ängste sein. Unsicherheiten, die wir aus der frühesten Kindheit mit uns tragen, können denen ähneln, die mit niedrigem sozialen Status einhergehen, und die einen machen uns verletzlicher für die anderen. Freundschaften hingegen bieten persönliche Bestätigung: Freunde genießen unsere Gesellschaft, lachen über unsere Scherze, suchen unseren Rat. Dadurch fühlen wir uns wertgeschätzt.Wer keine Freunde hat, fühlt sich ausgeschlossen und von Selbstzweifel erfüllt. Zahlreiche Experimente belegen, dass die Art Stress, der die größte körperliche Wirkung hat – sichtbar an der Ausschüttung von Stresshormonen –, eben von „Bedrohungen der sozialen Wertschätzung“ ausgelöst wird, also von der Infragestellung des Selbstwertgefühls oder des sozialen Status.

Demnach hat offenbar in modernen Gesellschaften die am weitesten verbreitete und stärkste Art Stress mit unserer Sorge zu tun, wie andere uns sehen, mit unseren Selbstzweifeln und sozialen Unsicherheiten. Als soziale Wesen beobachten wir, wie andere auf uns reagieren. Scham und Verlegenheit sind als die sozialen Emotionen schlechthin bezeichnet worden: Sie prägen unser Verhalten, so dass wir uns akzeptablen Normen fügen und das Gefühl vermeiden, wie sich der Magen zusammenzieht,wenn wir uns in Gegenwart von anderen zum Narren gemacht haben. Mehrere renommierte Soziologen haben die Ansicht vertreten, dass dies der Weg zu unserer Sozialisation ist. Und es sieht so aus, als sei es auch der Weg, auf dem die Gesellschaft uns unter die Haut geht und unsere Gesundheit angreift.

Da die soziale Pyramide als eine Hierarchie von ganz oben bis ganz unten wahrgenommen wird, ist leicht zu erkennen, auf welche Weise größere Statusunterschiede die Bedrohungen für das Selbstwertgefühl erhöhen und die Konkurrenz um Status anheizen. Das erklärt auch, warum höhere Ungleichheit mit mehr Gewalt einhergeht. Viele Studien betonen, dass die Auslöser von Gewalt sehr oft in Problemen von Respekt und Missachtung, Gesichtsverlust und Beleidigung zu suchen sind.

Dass Gewalt unter den Bedingungen größerer Ungleichheit häufiger ist, liegt auch daran, dass Menschen, die nicht über Statussymbole wie Einkommen, Arbeitsstellen, Häuser und Autos verfügen, besonders sensibel dafür werden, wie andere sie sehen: Das Verletzende am Besitz von zweitklassigen Gütern ist, dass man als zweitklassige Person angesehen wird.

Ähnliche Mechanismen wirken an dem Phänomen mit, dass Schulleistungen von Kindern oft mit ihrem Status steigen. Eine Studie im Auftrag der Weltbank hat kürzlich gezeigt, dass in ländlichen Gebieten Indiens Kinder aus oberen und niederen Kasten, denen der Unterschiede zwischen den Kasten nicht bewusst war, eine Serie von Rätseln gleich gut lösen konnten. Sobald man ihnen aber den Kastenunterschied bewusst machte, verschlechterte sich die Leistung der Kinder aus niederen Kasten erheblich.

Seit Tausenden Jahren bestand der beste Weg, die Lebensqualität zu verbessern, darin, den materiellen Lebensstandard anzuheben. Wir in den wohlhabenden Industrieländern sind die erste Generation, die ans Ende dieses Prozesses gelangt ist: Wirtschaftswachstum verbessert nicht länger unsere Gesundheit oder unser Wohlbefinden.Wenn es uns wirklich um mehr Lebensqualität geht, dann müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die soziale Umwelt und die Qualität unserer sozialen Beziehungen richten.

Statt weiter jedes soziale Problem für sich anzugehen – zum Beispiel mehr für Ärzte, die Polizei, Sozialarbeiter oder die Rehabilitation von Drogenabhängigen auszugeben –, können wir, wie wir inzwischen wissen, das psycho-soziale Wohlbefinden und die Funktion ganzer Gesellschaften verbessern. Denn die Qualität der sozialen Beziehungen beruht auf materiellen Grundlagen: auf dem Ausmaß der materiellen Ungleichheit.

VERRINGERUNG DER UNGLEICHHEIT UND DIE BEGRENZUNG DES KLIMAWANDELS

Diese Einsicht ist noch aus einem anderen Grund wichtig: In den kommenden Jahrzehnten wird die Politik wohl vor allem bestimmt sein von der Notwendigkeit, die Emissionen von Treibhausgasen und insbesondere Kohlendioxid zu verringern. Mehr Gleichheit wird dafür eine entscheidende Rolle spielen. Denn einige Ökonomen – etwa Robert Frank – haben gezeigt, dass die Konkurrenz um Status ein sehr wichtiger Antrieb hinter dem Wunsch nach immer mehr Konsum ist. Die Fixierung auf Konsum spiegelt soziale Neurosen und Unsicherheiten, die von Ungleichheit und der damit verbundenen Status-Konkurrenz angefacht werden. Die Werbung spielt mit diesen Ängsten, indem sie suggeriert, bestimmte Produkte machten den Konsumierenden attraktiver oder ließen ihn exklusiv wirken. Geringere Einkommensunterschiede machen es einfacher, diesem Druck zu entgehen, indem sie die Qualität der sozialen Beziehungen verbessern.

Die Veränderungen, die nötig sind, um das Problem der Erderwärmung zu bewältigen, können wohl nur dann Unterstützung finden, wenn sie als fair erscheinen. Wenn Menschen an einer gemeinsamen Anstrengung zur Verminderung der Emissionen mitwirken sollen, müssen die Lasten fair verteilt werden. Politische Entscheidungen, die die Armen einseitig belasten, aber den Reichen erlauben, ihre ökologisch sehr viel schädlicheren Lebensweisen beizubehalten,werden in der Gesellschaft kaum akzeptiert werden.

Literaturhinweis Robert Frank, Luxury Fever: Why money fails to satisfy in an era of success. Free Press, New York 1999.

Richard Wilkinson ist an der medizinischen Hochschule der Universität Nottingham (England) Professor für soziale Epidemiologie (sie befasst sich mit gesellschaftlichen Faktoren bei der Verbreitung und Bekämpfung von Krankheiten). Er ist Autor des Buches „The Impact of Inequality: how to make sick societies healthier“ (New York 2005).

welt-sichten 1-2008

 

erschienen in Ausgabe 1 / 2008: Globale Ungleichheit
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