Ungleichheit kann die Demokratie gefährden

Ungleichheit kann die Demokratie gefährden

Agrarreformen sind ein Weg, die soziale Kluft zu verkleinern

Gespräch mit Professor Hans-Jürgen Burchardt

Hohe Ungleichheit erschwert demokratische Regierungsformen. Trotzdem können Länder mit tiefer sozialer Kluft stabile Demokratien sein. Lateinamerika ist ein Beispiel dafür.

Teilen Sie die Befürchtung, dass wachsende Ungleichheit innerhalb von Staaten die Demokratie und den sozialen Zusammenhalt gefährdet?

Ja. Allerdings wird Ungleichheit verschieden definiert, und entsprechend werden ideologische Schlachten darüber geschlagen,ob sie zu- oder abgenommen hat. Die meisten Indikatoren zeigen eine Zunahme der Ungleichheit in dem Sinn, dass innerhalb der meisten Staaten einzelne Regionen und Bevölkerungsgruppen reicher geworden sind, andere aber ärmer. Ungleichheit bedeutet, dass Menschen sehr unterschiedlich an der Gesellschaft und ihren Ressourcen teilhaben können. Das umfasst mehr als wirtschaftliche Aspekte, auch etwa die Chance zu politischer Teilhabe.Wenn Ungleichheit, so verstanden, ein gewisses Maß überschreitet, dann ist nach meiner Überzeugung grundsätzlich auch die Demokratie in Gefahr.

Kann man empirisch zeigen, dass in Ländern mit sehr ungleicher Einkommens- und Vermögensverteilung demokratische Regierungsformen oder Demokratisierungsprozesse öfter scheitern?

In Lateinamerika – der Region, mit der ich mich besonders beschäftige – sind im Vergleich zu Asien viele Staaten demokratisch regiert, obwohl dort im weltweiten Vergleich das höchste Maß an Ungleichheit herrscht. Eine drastische Gefährdung der Demokratie sehe ich dort bisher zwar nicht. Allerdings: Dass die Überwindung der Diktaturen in Mittel- und Südamerika kaum zu grundlegenden Sozialreformen geführt hat, kann durchaus in manchen Ländern die Demokratie wieder in Frage stellen. Grundsätzlich gilt:Demokratisierungsprozesse sind unter Bedingungen hoher Ungleichheit mit Sicherheit schwieriger, weil es mehr Veto- Spieler gibt, die versuchen, eine Ausweitung der politischen Teilhabe einzuschränken.

Halten Sie in Lateinamerika politische Rückschritte für möglich?

Einige Trends weisen darauf hin, dass sich das Leitbild der Demokratie in der Region zu erschöpfen beginnt. Umfragen über das Vertrauen zu politischen Organisationen und Institutionen zeigen, dass die Bereitschaft, einem autoritären Führer zu folgen, sofern er wirtschaftliche Prosperität verspricht, in Lateinamerika deutlich gewachsen ist. Die einflussreichsten Institutionen sind für viele nicht der Staat oder die Parlamente, sondern die Kirche sowie das Militär und die Medien. Trotzdem muss man betonen: Angesichts des enormen Maßes an sozialer Ungleichheit sind die Demokratien bisher recht robust. Es hat noch keine dramatischen Umstürze Richtung Autoritarismus gegeben. In Bolivien herrscht ein gewisses Maß an politischer Instabilität, und das System in Venezuela wird von einigen bereits als Autoritarismus bezeichnet. Diese Einschätzung teile ich aber nicht.

Sind populistische Bewegungen wie in Venezuela und Bolivien eine Reaktion auf die tiefe soziale Kluft?

Das spielt eine Rolle. Bolivien ist eines der Länder der Region, in dem in den letzten Jahren versucht wird,weitreichende Strukturreformen durchzusetzen und so gegen krasse Ungleichheit vorzugehen. Dies erfordert ein gewisses Maß an politischer Mobilisierung, und das ist mit Mitteln des Populismus erreicht worden. Populismus birgt immer Gefahren in Richtung Autoritarismus, diese sind in Bolivien bisher aber noch nicht sichtbar geworden. Dazu muss man sagen, dass sich der Begriff Populismus nicht auf bestimmte Inhalte der Politik bezieht, sondern auf Formen der Mobilisierung. Es gibt sowohl „rechten“ als auch „linken“ Populismus, und die Beziehung zur Demokratie ist ambivalent. Einerseits gelingt es mit Hilfe populistischer Politikformen wie einer Einheitsrhetorik in Ländern wie Bolivien und Venezuela eine gewisse Zeit, Menschen um ein neues politisches Projekt zu scharen und Ungleichheit abzubauen, also mehr Teilhabe zu garantieren. Andererseits sind populistische Bewegungen auf Führungspersonen konzentriert und gegen Institutionen gerichtet, sie vernachlässigen demokratische Verfahren oder verachten sie sogar. Damit öffnen sie eine Flanke zum Autoritarismus.

Ist Demokratie ein Weg zu weniger Ungleichheit?

Das scheint zwar für einige Länder zuzutreffen, wird von der Erfahrung in Lateinamerika aber nicht bestätigt. Trotz Konsolidierung der Demokratie wächst dort die Ungleichheit. Das ist ein Paradox, das meines Erachtens in der Wissenschaft wie in der Politik viel zu wenig berücksichtigt wird. Es ist Zeit, sich dieser Frage zu stellen. Dabei müssen wir auch über unsere Vorstellungen von Demokratie kritisch nachdenken. Sonst laufen wir Gefahr, dass Strategien wie die Förderung von guter Regierungsführung und Demokratie nicht nur scheitern, sondern das Gegenteil von dem erreichen, was sie wollen.

Wie erklärt sich das Paradox? Wieso ist in Lateinamerika trotz hoher Ungleichheit die Demokratie stabil und weshalb nimmt trotz Demokratie die Ungleichheit nicht ab?

Da muss man sich die jeweilige demokratische Kultur genauer ansehen. Zum einen den Grad der Institutionalisierung. In Venezuela versucht die Regierung, eine neue Form von Sozialpolitik umzusetzen, die zunächst einmal Teile der Bevölkerung politisch mobilisiert. Aber diese Mobilisierung mündet nicht in Institutionen und langfristige Strategien, sie ist schwankend und sozusagen flüchtig. In Brasilien ist politische Beteiligung stärker institutionalisiert.

Zum Beispiel in Gewerkschaften oder Parteien?

Genau. Das ist sehr wichtig. Trotzdem kommt es nicht zu Änderungen der Strukturen, in denen die Ungleichheit wurzelt. Meiner Ansicht nach muss man, um das zu verstehen, die Oberschichten genauer in den Blick nehmen. Hohe Ungleichheit bedeutet ja nicht nur, dass viele Menschen sehr schlecht gestellt sind, sondern auch, dass einige wenige ungleich besser gestellt sind. Die entscheidende Frage ist, ob diese Oberschichten, Eliten oder strategischen Gruppen – wie immer wir sie nennen wollen – bereit sind, mehr Teilhabe zuzulassen. Das tun sie meistens,wenn sie verstehen, dass eine Verminderung der Ungleichheit das ganze System stabilisiert und damit auch ihren Interessen am Ende dient. In Lateinamerika haben wir es jedoch mit einer Art aristokratischer politischer Kultur zu tun. Sie ist geprägt von Beziehungen, bei denen Herren ihrer Gefolgschaft ein gewisses Maß an Schutz garantieren und diese dafür den Herren Loyalität schuldet. Die Kultur, dass gewählte Regierungen sich mit ihren Leistungen legitimieren müssen, ist schwach ausgeprägt. Öffentliche Ämter werden oft als Mittel persönlicher Bereicherung oder Machtausübung begriffen, eine nur dem Gesetz verpflichtete rationale Verwaltung fehlt weitgehend. Vor diesem Hintergrund schafft es die Oberschicht immer wieder, Umverteilungsmaßnahmen zu verhindern. Zum Beispiel werden in keiner anderen Weltregion im Verhältnis zum Sozialprodukt so wenig Steuern gezahlt. Auch das ist ein Ausdruck der Tatsache, dass sich die Oberschichten Lateinamerikas gesellschaftlicher Verantwortung entziehen.

Gilt das für alle lateinamerikanischen Länder, zum Beispiel auch für Chile?

Chile ist das einzige Land des Subkontinents, das in den vergangenen Jahren das Steueraufkommen gesteigert hat. Der Anteil der Steuern am Bruttosozialprodukt liegt aber immer noch unter dem in den meisten afrikanischen und asiatischen Ländern. Steuerzahlungen sind Ausdruck einer Solidargemeinschaft. Die niedrigen Steuerquoten in Lateinamerika zeigen also, dass die vermögenden und am besten verdienenden Schichten sehr wenig bereit sind, ihren Anteil an der gesellschaftlichen Entwicklung zu leisten. Dies gilt auch für Chile, das heute im übrigen nicht nur das Erfolgsmodell für Wirtschaft und Demokratie, sondern auch eines der ungleichsten Länder Lateinamerikas ist.

Wo sehen Sie denn erfolgreiche Ansätze, Ungleichheit zu verringern?

Entscheidend war etwa in ostasiatischen Ländern eine Agrarreform. Die wäre immer noch ein Königsweg, um in armen Ländern die soziale Kluft zu verringern und gleichzeitig eine ökonomische und politische Stabilisierung zu erreichen.

Sie denken etwa an Südkorea oder Taiwan, die in den 1950er Jahren Bodenreformen durchgeführt haben?

Genau. Im Gegensatz dazu ist in Lateinamerika nirgends eine solche Reform gelungen.Wo sie versucht wurde, haben die Eliten eine Gegenbewegung in Gang gebracht, zum Teil mit Hilfe eines Militärputsches und ausländischer Interventionen. Ein weiterer entscheidender Weg zum Abbau von Ungleichheit ist der Zugang zu Bildung. Leider werden in vielen Ländern weiterbildende Schulen und Universitäten unverhältnismäßig stark gefördert, statt energisch in die Grundschulen und besonders die Bildung von Frauen und Mädchen zu investieren. Dass dies funktioniert, zeigen etwa Brasilien und Venezuela,wo Schulspeisungen in den Grundschulen die armen Haushalte entlasten und einen Anreiz zum Schulbesuch setzen. Bildung senkt die Ungleichheit nicht kurzfristig. Wenn aber solche Programme länger durchgehalten und um andere Maßnahmen ergänzt werden, können sie die Ungleichheit verringern.

Behindert große Ungleichheit die ökonomische Entwicklung oder fördert sie die eher?

Kurzfristig kann sie das Wachstum fördern, mittelfristig funktioniert das aber nicht. Zudem kommt es auf die Art des Wachstums an. Wenn dieses vor allem vom Weltmarkt abhängt und von Exporten getragen wird, kann eine Gesellschaft bei hoher Ungleichheit hohes Wachstum in einzelnen Segmenten erreichen. Ein robustes Wachstum, das auch internationale Finanz- oder Wirtschaftskrisen übersteht, setzt aber einen entwickelten Binnenmarkt voraus. Und der ist nur mit mehr sozialer Gleichheit zu erreichen. Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass die am meisten entwickelten und prosperierenden Länder der Welt auch die am wenigsten ungleichen sind. Selbst in den USA,wo die Ungleichheit unter den OECD-Ländern am höchsten ist, ist sie weit geringer als in Lateinamerika. Wie sieht das in Schwellenländern wie Südkorea und Taiwan aus? Gerade dort hat im Zuge der Demokratisierung die Ungleichheit abgenommen. Das bestätigt den Zusammenhang zwischen beidem. Allerdings darf man sich nicht der romantischen Vorstellung hingeben, dass allein freie Wahlen weniger Ungleichheit bewirken. Das zu erreichen, hat harte soziale Kämpfe erfordert. Beispielsweise gab es in Südkorea in den 1980er Jahren sehr dramatische Arbeitskämpfe.

War in den ostasiatischen Ländern zu Beginn ihrer Entwicklung das Ausmaß der Ungleichheit geringer als in Lateinamerika?

Es kommt nicht so sehr auf das Niveau der Ungleichheit zu Beginn an, sondern darauf, ob die Agenten der Entwicklung – also die Eliten – sie zu verringern suchen oder nicht. Das Problem in Lateinamerika ist, dass die Eliten das nicht tun und es auch nicht tun müssen. Sie haben ja aus ihrer Sicht alles richtig gemacht: Sie konnten über Jahrzehnte ihren Einfluss und ihre Privilegien behalten. Auch deshalb haben hoffnungsvolle Reformprojekte wie unter Präsident Lula in Brasilien und Präsidentin Bachelet in Chile mit so großen Schwierigkeiten zu kämpfen. In Brasilien hat die Ungleichheit in den vergangenen Jahren abgenommen, es ist aber immer noch eins der ungleichsten Länder der Welt: Etwa ein Prozent der Bevölkerung hält über die Hälfte des Volkseinkommens. Das ist mit Sicherheit nicht entwicklungsfördernd. Wer davon redet, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert Brasiliens oder Chinas wird, überschätzt meist die Volkswirtschaften und politische Verfasstheit dieser Länder. Um zur Weltmacht aufzusteigen,müssen diese Staaten noch einiges an Hausarbeiten bewältigen. Mehr sozialer Ausgleich und mehr Teilhabe aller steht dabei ganz oben auf der Tagesordnung.

Die Fragen stellte Bernd Ludermann.

Hans-Jürgen Burchardt ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Kassel mit dem Schwerpunkt Nord-Süd-Beziehungen sowie Sprecher des Promotionskollegs „Global Social Policies and Governance“, das die sozialen Dimensionen der Globalisierung in den Nord-Süd-Beziehungen erforscht. 

welt-sichten 1-2008

 

erschienen in Ausgabe 1 / 2008: Globale Ungleichheit
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