Geschichten aus einer schwierigen Zukunft

Zum Thema
Literatur
Wie sieht die Welt aus, wenn der Klimawandel fortschreitet? Damit befasst sich die Literatur schon seit langem – zunehmend auch Autorinnen und Autoren aus dem globalen Süden. Vier Lesetipps.

Wie mag es in der Dominikanischen Republik wohl in den 2030er Jahren aussehen? In ihrem Roman „Tentakel“ zeichnet Rita Indiana das Bild einer Zukunft im Klimawandel: Mehrere Tsunamis haben ganze Küstenabschnitte zerstört und zudem hoch giftige Chemikalien von Kampfstoffen freigesetzt, die dort gelagert waren. Das Meer ist mehr oder minder tot, die Küste ebenfalls – das Leben geht trotzdem weiter. 

Etwas entfernt im Inland hat sich eine Gesellschaft etabliert, die von diesen Folgen des Klimawandels sowie von denen der Digitalisierung und des Neoliberalismus geprägt ist: Die Reichen leben abgeschottet, Roboter sorgen vor der Tür dafür, dass illegale Armutsmigranten aus Haiti im wahrsten Sinn des Wortes „automatisch“ entsorgt werden. Die weniger Reichen, die immerhin aber die richtige Staatsangehörigkeit haben, leben meist in Ghettos, ihre Aussichten mies zu nennen, wäre Schönfärberei.

Rita Indiana, Tentakel, Übersetzt von Angelica Ammar, Wagenbach-Verlag, Berlin 2018, 18 Euro
Alles in allem ist diese gesellschaftliche Situation – bei immenser Hitze – untragbar und unerträglich. Was müsste geschehen, um die Lage zu ändern, möglicherweise sogar grundlegend? Hier kommt Acilde ins Spiel, früher Prostituierte, heute Dienstmädchen einer so mächtigen wie korrupten Voodoo-Priesterin, die sogar den Präsidenten berät. Acilde scheint ein Niemand zu sein, tatsächlich ist sie eine Auserwählte, die die Menschheit vor der denkbar größten Katastrophe retten kann. Das allerdings ist eigentlich unmöglich, gegen alle Wahrscheinlichkeit, sie muss sämtliche Grenzen sprengen, die von Arm und Reich, die von Zeit und Raum und die zwischen den Geschlechtern.

Rita Indiana, geboren 1977, ist in Lateinamerika ein Star als Sängerin; dass sie auch exzellent schreiben kann, war bislang nicht so bekannt. Doch „Tentakel“ ist ein herausragender Roman zum Klimawandel, eine völlig verrückte Geschichte, die einen über Wochen gedanklich beschäftigt, dabei nicht einmal 200 Seiten lang. Gerade weil die Geschichte so vielschichtig und gebrochen ist, aber doch ein sinnvolles Ganzes ergibt, wird sie dem Thema gerecht. Die Schrecken der Folgen des Klimawandels macht Rita Indiana spürbar; zugleich begegnet sie ihnen in ihrem engagierten Text mit einem erzählerischen Feuerwerk. Das macht „Tentakel“ zu einem der herausragenden Bücher der letzten Jahre überhaupt, nicht nur im Genre der Klimawandelliteratur aus dem globalen Süden.

Ignácio de Loyola Brandão, Kein Land wie dieses, Übersetzt von Ray-Güde Mertin, Suhrkamp Taschenbuch, 1984, oder Volk & Welt, 1990. Nur noch antiquarisch erhältlich.
„Climate Fiction“ zeichnet Zukünfte auf Basis von Gegenwärtigem. In Büchern dieses Genres geht es seltener um weiter entfernte Zeiten, sondern meistens um unmittelbar bevorstehende – wie bei Rita Indiana, die deshalb wie andere auch von einem „spekulativen Realismus“ spricht. Die Folgen des Klimawandels werden immer deutlicher, noch liegen sie aber größtenteils in der Zukunft. Was wird dann passieren? Naturwissenschaftler beschreiben Szenarien mit Daten und Fakten. Um sie verständlich zu machen, braucht es Narrative – und das ist die Kernkompetenz der Literatur.

Geradezu visionär mutet ein weiterer Roman an, der leider nur noch im Antiquariat erhältlich ist: In „Kein Land wie dieses. Aufzeichnungen aus der Zukunft“ hat der brasilianische Schriftsteller Ignácio de Loyola Brandão schon Anfang der 1980er Jahre die Art dystopischer Gesellschaft entworfen, wie sie auch in vielen jüngeren Klimawandelromanen der letzten Jahre geschildert wird: unerträgliche Hitze, eine geplünderte Umwelt, Konzerne, die Profit erwirtschaften um jeden Preis, sei er auch tödlich, eine korrupt-despotische Politik, die den Einzelnen unterdrückt. Ein Klimawandelroman? Schwer zu sagen, auf jeden Fall aber ein wichtiger Vorläufer der Climate Fiction. 

Christa Morgenrath und Eva Wernecke (Hg.), Imagine Africa 2060, Übersetzt von Jutta Himmelreich, Gudrun Honke und Michael Kegler, Peter-Hammer-Verlag, Wuppertal 2019, 20 Euro
Mit Blick auf den afrikanischen Kontinent hat ausgerechnet eine deutsche Auftragsarbeit besonders interessante Klimawandelliteratur hervorgebracht: „Stellen Sie sich die Gesellschaft im Jahr 2060 vor: Was könnte geschehen bis dahin? Wie werden wir leben?“ Das war Thema der Anthologie „Imagine Africa 2060. Geschichten zur Zukunft eines Kontinents“, die die Macherinnen der Kölner Lesereise „Stimmen Afrikas“ für ein Erscheinen im Frühjahr 2020 in Auftrag gaben. Viele aktuelle Themen werden darin zu Geschichten, die Digitalisierung etwa, Genderdiskurse, Migration und natürlich der Klimawandel mit seinen Folgen. 

Bis auf eine sind alle Geschichten des Bandes original für die Anthologie verfasst worden. Der angolanische Schriftsteller José Eduardo Agualusa steuert einen Romanausschnitt bei, der es in sich hat: Der Text „Als die Welt untergegangen war ...“ schildert eine unbewohnbare Erde in der Zukunft. Die Zerstörung hat der Menschheit nur eine Chance gelassen: in den Lüften zu leben, weit entfernt von den Folgen des katastrophalen menschlichen Wirkens, dessen Folgen aber natürlich weiterhin zu spüren sind. Dieser Textausschnitt verspricht einen herausragenden Klimawandelroman, der hoffentlich bald komplett ins Deutsche übersetzt werden wird. 

Amitav Ghosh, Die Inseln, Übersetzt von Barbara Heller und Rudolf Hermstein, Blessing-Verlag 2019, 22 Euro
Ein weiterer Fund ist der indische Schriftsteller Amitav Ghosh, geboren 1956 in Kalkutta, einer der nachdrücklichsten Mahner in Sachen Klimawandel. Ghosh fordert schon lange mehr Aufmerksamkeit für das Thema auch in der Literatur „des Westens“. Sein grandios komponierter und gut zu lesender Roman „Die Inseln” ist ein fast unglaubliches Abenteuer, das durch Zeit und Raum führt, exzellent informiert ist, spannende Charaktere vorstellt und Themen wie Menschenhandel, Migration, Wissenschaft, Mystik, Meeresbiologie und die Folgen des Klimawandels auf beeindruckende Weise verknüpft – und zwar lehrreich, ohne belehrend zu sein. Ghosh ist ein großer, bildstarker Erzähler unserer Zeit! Nebenbei schildert sein Roman eine beeindruckende Reise nach Indien, in die USA, nach Italien und schließlich aufs Mittelmeer, wo sich letztlich – mit Hilfe eines Wunders – das Wohl und Wehe der Menschheit entscheidet. Damit schließt sich, ganz ähnlich und doch ganz anders, der Kreis zu Rita Indiana.

 

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erschienen in Ausgabe 12 / 2020: Auf die Heißzeit vorbereiten
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