Herr Ellmers, welchen Stellenwert hatte das Treffen zur Entwicklungsfinanzierung?
Es geht auf eine Initiative zurück, die im Mai Kanada, Jamaica und der UN-Generalsekretär ergriffen haben. Denn der formale Prozess „Financing for Development“ (FfD) in den UN, wo es einmal im Jahr ein viertägiges Forum bei den UN gibt, hatte im April zu keinen Ergebnissen geführt, die den Folgen der Corona-Krise angemessen wären. Da ist die Initiative "Financing for Development in the Era of Covid-19" in die Bresche gesprungen. Sie begann im Mai mit einem hochrangigen Treffen – virtuell natürlich –, an dem erstaunlich viele Staatschefs teilnahmen. Über den Sommer haben dann sechs thematische Arbeitsgruppen ein umfassendes Papier mit Handlungsoptionen erarbeitet, das am 8. September von einem Treffen der Finanzminister besprochen und Ende September veröffentlicht wurde. Am 29. September haben dann immerhin knapp 50 Staatschefs über die Initiative gesprochen. Eine formelle Legitimation in den UN hat der Prozess allerdings nicht.
Bestand auf dem Treffen am 29. September Einigkeit über die Diagnose?
Weitgehend ja. Es ist ja offensichtlich: Bei allen Säulen der Entwicklungsfinanzierung gab es fast gleichzeitig einen Einbruch. Die Auslandsdirektinvestitionen und die Rücküberweisungen von Migranten sind zurückgegangen. Eine große Kapitalflucht aus Entwicklungsländern hat zu Beginn der Krise eingesetzt – sie hat sich dann teilweise wieder umgekehrt, weil die europäische und US-amerikanische Zentralbank die Zinsen niedrig halten und Geld in den Markt pumpen. Ein riesiges Problem ist, dass wegen des Rückgangs der Wirtschaftstätigkeit die Steuereinnahmen in Entwicklungsländern eingebrochen sind mit der Folge von großen Staatsdefiziten, die nur schwer mit neuen Krediten zu finanzieren sind. Weil die Verschuldung schon vor der Corona-Krise angestiegen war, droht im Gegenteil manchen Ländern jetzt eine Schuldenkrise.
Und die öffentliche Entwicklungshilfe?
Der Trend ist uneinheitlich, im Moment sieht es nicht nach großen Kürzungen aus – Deutschland hat seine Mittel für Entwicklungshilfe noch erhöht. Es ging aber jetzt nicht um Zusagen für diese Hilfe, sondern der Fokus war, wie in der Krise kurzfristig finanzieller Spielraum für Entwicklungsländer geschaffen und längerfristig das System krisenfester gemacht werden kann.
Welche Lösungsansätze liegen dafür auf dem Tisch?
Erstaunlich viele. Ein Vorteil des von Kanada und Jamaica angestoßenen Prozesses ist, dass man begonnen hat, über den engen Horizont des FfD-Prozesses hinaus zu denken. So wird vorgeschlagen, dass der IWF neue Sonderziehungsrechte schafft. Das sind Reserveguthaben beim IWF, welche die IWF-Mitgliedstaaten in harte Währung wie US-Dollar oder Euro eintauschen können. Das schafft kurzfristig Geld, ähnlich wie die lockere Geldpolitik der EZB. Auch neue internationale Kreditfazilitäten werden diskutiert. Entwicklungsländer zahlen hohe Zinsen, wenn sie etwa Konjunkturprogramme auf Kredit finanzieren – in Afrika acht bis zehn Prozent, wenn sie überhaupt Kredit bekommen. Vorgeschlagen wird nun, diese Finanzierungskosten mit vergünstigten Krediten zu verringern. Viele neue Töpfe sind dafür im Gespräch. Zum Beispiel möchten die kleinen Inselstaaten spezielle Töpfe für Länder, die stark vom Einbruch des Tourismus betroffen sind, aber zum Teil keinen Zugang zu vergünstigten Entwicklungskrediten haben, weil ihr Einkommensniveau dafür zu hoch ist.
Gemeint sind öffentliche Kredite, etwa von Entwicklungsbanken?
Ja, zum Beispiel Kreditlinien bei der Weltbank. Man kann das vergleichen mit dem EU-Wiederaufbaufonds, der jetzt in den EU-Haushalt integriert wurde: Da nehmen die EU-Länder gemeinsam Kredite auf und reichen die teils als Kredit, teils als Zuschuss an ärmere EU-Länder weiter, die alleine höhere Zinsen zahlen müssten als die EU insgesamt.
Heißt das, wie im Fall der EU müssten wirtschaftlich starke Länder im Norden die Kredite armer Länder im Süden zumindest zum Teil garantieren?
Richtig. Diskutiert wird tatsächlich vor allem eine gemeinsame Haftung.
Und neue Sonderziehungsrechte – sind die ohne Zustimmung der USA möglich?
Kaum. Das ist ein großes Problem. In sehr kleinem Rahmen können reichere Länder einen Teil ihrer Sonderziehungsrechte armen Ländern zur Verfügung stellen; das hat Kanada zum Beispiel getan. Aber wenn im IWF neue geschaffen werden sollen, müssen die USA zustimmen und ab einer bestimmten Summe sogar der US-Kongress. So große Summen zieht niemand in Betracht, aber auch bei kleineren hat es an der Ablehnung aus Washington gehakt. Die USA äußern sich selten explizit dazu, aber es ist bekannt, dass sie neue Sonderziehungsrechte ablehnen, weil die unter allen IWF-Mitgliedsstaaten ausgeschüttet würden, auch an Länder wie Iran oder Venezuela.
Was ist gegen die Gefahr von Schuldenkrisen im Gespräch – auch ein internationaler Entschuldungsmechanismus?
Ja, das war ein großes Thema. Im April haben die G20-Länder schon den Schuldendienst für arme Länder suspendiert. Im Moment wird zum einen diskutiert, das zu verlängern, sonst läuft dieses Moratorium Ende 2020 aus. Zum anderen gilt der Zahlungsaufschub nur für von den Geberstaaten vergebene öffentliche Kredite; weder multilaterale Gläubiger wie die Weltbank noch private Kreditgeber machen mit. Und private Kredite an Entwicklungsländer sind gerade die mit hohen Zinsen. Deshalb müssen diese Länder jetzt Erleichterungen bei öffentlichen Krediten nutzen, um den Schuldendienst an private Gläubiger weiter zu leisten; das bringt ihnen kein neues Geld. Außerdem ist es eine Frage der Fairness, dass sich alle Gläubiger an Schuldenerleichterungen beteiligen. Leider haben viele Länder, inklusive Deutschland, sich in den vergangenen Jahren erfolgreich dagegen gewehrt, dass internationale Regeln und Institutionen für die Entschuldung von Staaten geschaffen werden, mit denen man die Beteiligung privater Gläubiger erzwingen könnte. Jetzt wollen alle diese Beteiligung – der Vertreter des deutschen Finanzministeriums hat das ausdrücklich gesagt.
Seit langem wird auch gefordert, Steuervermeidung und Kapitalflucht zu erschweren, damit Entwicklungsländer leichter eigene Steuern erheben können. Gibt es dazu neue Ansätze?
Da gibt es in der Initiative einige ambitionierte Vorschläge – zum Beispiel eine UN-Steuerkonvention abzuschließen, die transnationalen Konzernen die Verlagerung von Profiten in Steueroasen erschweren würde. Damit hat sich eine Arbeitsgruppe befasst, aber man will die Ergebnisse des hochrangigen sogenannten FACTI- Panels zum Thema, das die UN eingerichtet haben, im Februar abwarten.
Bisher wollen die OECD-Staaten, überwiegend Industrieländer, das Thema unter sich regeln. Sehen Sie Anzeichen, dass sie den Widerstand gegen eine Behandlung in den UN aufgeben, in der auch Entwicklungsländer mitreden?
Es stimmt, zwischen den UN und der OECD gibt es ein Gerangel, wer bei internationalen Steuerregeln den Ton angibt. Die Debatte ist aber neu aufgebrochen aus Enttäuschung darüber, dass auch die OECD hier feststeckt – vor allem wegen Streit über Digitalsteuern, in dem die USA ihre schützende Hand über ihre Digitalkonzerne halten und den Prozess blockieren. Auch in der OECD schon beschlossene Abkommen gegen Steuervermeidung von transnationalen Konzernen haben sich als wenig wirksam erwiesen. Die OECD kann deshalb nicht länger behaupten, dass sie bei internationalen Steuerregeln eher vorankommt als die UN. Das stärkt deren Position.
Welche dieser Vorschläge haben Aussicht, politisch umgesetzt zu werden und den Finanzspielraum von Entwicklungsländern zu verbessern?
Die größte schnelle Hilfe wären neue Sonderziehungsrechte des IWF. Nach der Finanzkrise von 2008 wurden die schon genutzt und dafür scheint es eine Mehrheit zu geben, wenn man von den USA absieht, die im IWF ein Veto haben. Nach der Wahl in den USA könnte sich da etwas bewegen. Aussicht auf Umsetzung haben auch einige neue Kreditfazilitäten. Die Frage ist allerdings, inwiefern sie mit frischem Geld gespeist würden statt durch Umverteilung aus existierenden Töpfen. Und auch Schuldenerlasse sind jetzt denkbar – vor allem sogenannte Swaps. Das sind Schuldenerlasse unter der Bedingung, dass Entwicklungsländer freiwerdendes Geld für Klimaschutz, den Corona-Wiederaufbau oder die UN-Nachhaltigkeitsziele einsetzen. Die Gläubigerländer scheinen nicht bereit, bedingungslose Schuldenerlasse zu geben, aber die Unterstützung für solche Swaps wächst, gerade in Europa.
Die meisten dieser Themen werden im UN-Prozess „Financing for Development“ schon fast zwanzig Jahre diskutiert und das hat in der Praxis kaum weitergeführt. Was nutzt da die Initiative jetzt?
Sie hat eine große Dynamik entfaltet. Das Treffen der Finanzminister am 8. September war das am besten besuchte jemals im Rahmen der Vereinten Nationen und immerhin knapp 50 Staatschefs haben Ende September über die Initiative gesprochen. Dass der neue Prozess keine formelle Legitimation in den UN hat, kann allerdings für die Umsetzung zum Problem werden: Die Ergebnisse müssen in formale Gremien eingespeist werden, zum Beispiel in Entscheidungsgremien von IWF oder Weltbank und in Verhandlungen im UN-Wirtschafts- und Sozialrat ECOSOC.
Das Gespräch führte Bernd Ludermann.
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