Mit der Tagung erinnerten Misereor und die Katholische Fakultät an den zwanzigsten Jahrestag des Massakers an sechs Jesuiten und zwei Frauen in El Salvador. Vielleicht haben die Namen der zu der Tagung eingeladenen Befreiungstheologen Gustavo Gutiérrez und Jon Sobrino das Publikum angezogen. Der erste, der allerdings kurzfristig aus Krankheitsgründen absagen musste, hat der Befreiungstheologie in den 1970er Jahren ihren Namen gegeben. Und Sobrino sorgte vor zwei Jahren unfreiwillig für Schlagzeilen: Die Glaubenskongregation des Vatikan veröffentlichte 2007 eine Erklärung, in der sie vor den Thesen des Jesuiten aus El Salvador warnte. Die Frage, wie die Amtskirche mit Befreiungstheologen umgeht, wurde bei der Tübinger Tagung aber nur am Rande gestreift. Vielmehr interessierte das Publikum die Befreiungstheologie selbst.
Die Menschheit sei nur zu retten, wenn sie von einer Zivilisation des Reichtums, in der es um die Anhäufung von Kapital geht, zu einer Zivilisation der Armut finde, in der die Solidarität und die universale Befriedigung der Grundbedürfnisse im Zentrum stehe, sagte Sobrino und zitierte dabei Ignacio Ellacuría, den damaligen Rektor der Jesuitenuniversität in San Salvador, auf den es die Todesschwadronen der Armee am 16. November 1989 abgesehen hatten. „Die Tragödie der Welt wird in Schweigen gehüllt“, sagte Sobrino. „Der Krieg im Kongo findet schweigend statt.“ Und wo Schweigen nicht möglich sei, würden Tatsachen verschleiert. „Der Hungertod wird Ernährungskrise genannt, obwohl es sich um Mord handelt“, betonte der 71-Jährige, der 1989 nur durch Zufall dem Massaker entging, weil er zu dieser Zeit auf Reisen war.
Das „gekreuzigte Volk“, das unter Ungerechtigkeit leide, bekomme bewusst keine Öffentlichkeit, „damit es unsere westliche und bourgeoise Ruhe nicht stört“, zitierte der Jesuit Sobrino noch einmal seinen ermordeten Freund Ellacuría. „Die Dritte Welt ist wie ein invertierter Spiegel. Wenn die Erste Welt in ihn hineinschaut, erkennt sie sich in ihrer tiefsten Wahrheit.“
Doch um diese Wahrheit versucht sich die Erste Welt herumzudrücken. Nach der großen Finanzkrise scheint sich wenig geändert zu haben. Bankmanager erhalten dieses Jahr 140 Milliarden Euro Boni. Das sind zehn Prozent mehr als im Rekordjahr 2007. Und gleichzeitig ist eine Milliarde Menschen auf der Welt von Hunger bedroht. Vielleicht macht gerade dieser Skandal die Befreiungstheologie so aktuell. Vor ein paar Jahren hätte eine solche Tagung noch im kleinen Kreis stattgefunden.