Nobelpreis für kaum überraschende Erkenntnisse

scott eisen/Getty images

Esther Duflo und ihr Mann Abhijit Banerjee.

Armutsforschung
Esther Duflo, Abhijit Banerjee und Michael Kremer haben den Wirtschafts­nobelpreis für ihre Arbeit in der Armutsforschung bekommen. Doch der Sinn und die Aussagekraft der von ihnen entwickelten Feldstudien ist zweifelhaft.

Als ich Anfang der 1990er Jahre Wirtschaftswissenschaft studierte, kam in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit eine neue Idee auf: Man begann, sogenannte randomisierte kontrollierte Feldstudien (RCTs) durchzuführen, um die Wirksamkeit von Armutsbekämpfungsprogrammen empirisch zu überprüfen. Die Methode arbeitet mit Kontrollgruppen und war schon lange aus der medizinischen Forschung bekannt.

Eine der ersten Studien beschäftigte sich damit, wie sich der Einsatz von Medikamenten gegen parasitäre Würmer auf den Schulbesuch von Kindern auswirkt. Dabei wählten die Forscher Schulen, in denen die Mittel angewandt wurden, nach dem Zufallsprinzip aus und verglichen die Ergebnisse mit benachbarten Schulen, in denen die Schülerinnen und Schüler nicht behandelt wurden. Ähnlich wurde seither erforscht, was zusätzliche Lehrkräfte in einem Klassenraum oder die Überwachung ihrer Anwesenheit mit Kameras bringen. In anderen Studien ging es darum, was der Zugang zu Bank- oder Mikrofinanzkrediten bewirkt, oder wie bestimmte Aufrufe von Kandidaten und Kandidatinnen in Wahlkämpfen das Wählerverhalten beeinflussen.

Einen Höhepunkt erreichte das Interesse an RCTs im Oktober dieses Jahres durch die Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an einige der Pioniere dieser Methode in der Armutsforschung: Esther Duflo, Abhijit Banerjee und Michael Kremer. Die Königliche Schwedische Wissenschaftsakademie erklärte, die von den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen durchgeführten Untersuchungen „seien in der Entwicklungsökonomie mittlerweile vorherrschend“. Dass sich der zuvor kaum beachtete Ansatz durchgesetzt hat, sieht das Nobelpreiskomitee als Beweis für wissenschaftlichen Fortschritt und für einen Durchbruch, der uns deutlich stärker befähige, „das Leben der ärmsten Menschen auf der ganzen Welt zu verbessern“. Wir wären alle froh, wenn es so einfach wäre. Dass RCTs die Entwicklungsökonomie heute derart prägen, ist aber möglicherweise nicht als Erfolgsgeschichte, sondern als Warnhinweis zu sehen.

Arbeit mit Kontrollgruppen

Der Trend hin zu RCTs wurde von zwei Faktoren verstärkt, einerseits aus der Wirtschaftswissenschaft selbst heraus, andererseits von Entwicklungen außerhalb der Wissenschaft. Innerhalb der Disziplin versprach die Methode, ein Problem zu lösen, das die Bemühungen um eine empirische Bewertung von Entwicklungsprogrammen erschwerte. Gemeint ist hier, dass es oft genau jenen Menschen nach einer Veränderung der Umstände besser geht, die auch stärker motiviert oder in irgendeiner Weise besser in der Lage sind, aus der Veränderung einen Vorteil zu ziehen. Es gab keine sichere Möglichkeit zu unterscheiden, ob entwicklungspolitische Interventionen nur aus diesen Gründen funktionieren oder weil sie an sich etwas bringen. Wissenschaftler, die mit statistischen Methoden an das Problem herangehen, arbeiteten lange unter der Prämisse, dass Experimente mit Menschen nicht möglich seien. Die „Randomistas“ – wie die Vertreter der Arbeit mit Kontrollgruppen später genannt wurden – ignorierten diese Annahme frech und schlugen vor, genau solche Experimente zu versuchen.

Gleichzeitig wurde der Aufstieg der RCTs von äußeren Umständen gefördert: Zum einen schwand zunehmend das Vertrauen, dass Maßnahmen des Staates wirtschaftliche Entwicklungen dauerhaft verändern können. Diese Skepsis äußerte sich dann in der weltweiten Strukturanpassungswelle der 1980er und 1990er Jahre, die zu Sparpolitik und marktorientierten politischen Reformen in fast hundert Ländern auf der ganzen Welt führte. Zudem entstanden angesichts der anhaltenden ökonomischen Stagnation in großen Teilen der Welt Zweifel an der Wirksamkeit internationaler Entwicklungshilfe. Das verstärkte das Interesse herauszufinden, welche entwicklungspolitischen Maßnahmen funktionieren und welche nicht.

Dahinter steckte die Idee, dass erfolgreiche kleine Interventionen ausgeweitet werden könnten, indem sie von großen nichtstaatlichen Organisationen, staatlichen Hilfsagenturen, privaten Stiftungen, Impact-Investment-Fonds und Regierungen unterstützt werden. Zugleich verstärkte sich ein Trend hin zu Erklärungsansätzen, die sich auf Individuen konzentrieren, die das Beste aus den Umständen machen, eventuell mit Hilfe bestimmter Interventionen – daher auch die wachsende Faszination für das Mikrofinanzwesen.

Autor

Sanjay G. Reddy

lehrt Wirtschaftswissenschaft an der New School for Social Research in New York. Der Text ist zuerst auf Englisch in „Foreign Policy“ erschienen.
Vor diesem Hintergrund schwappte eine RCT-Welle über die Welt. Seither wurden mehr als tausend Studien durchgeführt und einige davon haben zu Finanzierungsentscheidungen und politischen Maßnahmen von nationalem oder internationalem Ausmaß beigetragen. Tatsächlich finanzieren einige Hilfsorganisationen und Regierungen bevorzugt die Projekte, die im Rahmen einer solchen Feldstudie geprüft sind. Die Bewegung der sogenannten ethischen Altruisten argumentiert sogar, es sei nur sinnvoll, Geld für Programme auszugeben, denen von einer RCT-Studie Wirkung attestiert worden sei. Das führt allerdings zur Konzentration auf eine sehr schmale Bandbreite an Entwicklungsinitiativen, wie etwa zur Entwurmung und zur Malariabehandlung.

Clevere Idee zur Armutsbekämpfung?

Der RCT-Trend ist auch in den reichen Länder angekommen: Die Methode wird etwa eingesetzt, um die Wirksamkeit unterschiedlicher Lehrmethoden an US-amerikanischen Schulen und in anderen Ländern zu bewerten. Tatsächlich wurden mittels Kontrollgruppen ursprünglich in den 1960er und 1970er Jahren die Auswirkungen von Einkommenssicherheit und Krankenversicherungen auf individuelles Verhalten in den USA untersucht. Aber das ist weitgehend in Vergessenheit geraten.

RCTs gewannen stetig an Einfluss: Die Medien feierten sie als clevere, revolutionäre Idee zur Armutsbekämpfung. Politiker begrüßten die Methode und trugen häufig entscheidend dazu bei, dass Studien durchgeführt werden konnten – mit sehr großzügiger Unterstützung von privaten und öffentlichen Geldgebern.

Rund 15 Jahre lang gab es kaum Kritik aus der Wissenschaft. Doch im Jahr 2010 brach der Damm. Andere Ökonomen, die sich mit Entwicklung beschäftigten oder an Statistikmethoden interessiert waren, darunter einige renommierte Vertreter der Mainstream-Ökonomie, begannen auf Schwächen in der Argumentation der „Randomistas“ hinzuweisen. Ihre Kritik setzt an drei Punkten an: Erkenntniswert, Zuverlässigkeit und Angemessenheit.

Was die Erkenntnis angeht, hinterfragen die Kritiker die Annahme, dass RCTs bedeutende neue Fakten oder ein Verständnis von Entwicklungsprozessen gebracht haben, welches es ohne sie nicht gegeben hätte. RCTs sind langwierig und kosten viel Geld, leicht können Hunderttausende Dollar zusammenkommen. Aber näher betrachtet bestätigen sie meist nur, was der gesunde Menschenverstand ohnehin sagt.

Die Studien bestätigen meist nur das Erwartbare

In einigen Fällen scheint es, dass die Randomisierung etwas Überraschendes aufgedeckt hat – etwa dass Mikrofinanzierung weniger gebracht hat, als viele bis dahin angenommen hatten. In anderen Fällen bestätigten die Studien nur das, was zu erwarten war, etwa dass die Behandlung ansteckender Krankheiten der ganzen Gemeinschaft zugutekommt.

Ähnlich verhält es sich mit diesem Ergebnis: Wird öffentliche Gesundheitsvorsorge kostenlos, gegen geringe Zuzahlung oder im besten Falle durch Anreize flankiert angeboten, erhöht sich die Zahl derer, die sie nutzen. Das Nobelpreiskomitee zitiert diese Studie ausdrücklich, weil sie den traditionellen Ansatz, von den Patienten Gebühren für die medizinische Grundversorgung zu verlangen, abgelöst habe. Das verdreht die historischen Tatsachen. Denn solche Gebühren für die Bürger wurden schon lange zuvor abgelehnt, teilweise von Gesundheitsaktivisten, darunter prominenten Wirtschaftswissenschaftlern wie dem US-Amerikaner Jeffrey Sachs. Ich war Ende der 1990er Jahre selbst an dieser Debatte beteiligt, als die Weltbank, die Weltgesundheitsorganisation und andere Institutionen eine solche Kostenbeteiligung noch befürworteten.

RCTs können nicht sehr viel über kausale Prozesse aussagen, da sie in ihrem Kern darauf ausgelegt sind, zu erforschen, ob Entwicklungsmaßnahmen etwas bewirken, aber nicht, wie sie wirken. Um mit diesem Problem umzugehen, haben die „Randomistas“ versucht, Studien zu konzipieren, die untersuchen, ob Variationen der Maßnahmen verschiedene Auswirkungen haben. Voraussetzung dafür ist aber eine Vorstellung von den kausalen Mechanismen, die am Werk sind. Ein fehlendes Verständnis davon kann den Wert von aus RCTs gewonnenen Erkenntnissen einschränken, sowohl was das Verständnis ökonomischer Vorgänge als auch die Planung weiterer Strategien und Interventionen betrifft.

Letztlich überprüfen die „Randomistas“, was sie für überprüfenswert halten. Das enthüllt vor allem ihre eigene Voreingenommenheit und ihre Annahmen – obwohl sie zahllose Stunden damit verbringen, den Armen zuzuhören. Es überrascht daher nicht, dass Ökonomen, die solche Untersuchungen durchführen, sich hauptsächlich auf die Auswirkungen von Anreizen auf individuelles Verhalten konzentrieren, etwa ob Lehrer mit Zeitverträgen, die Angst um ihren Job haben müssen, effektiver arbeiten als Kollegen mit Beschäftigungsgarantie.

Aus dem Englischen von Carola Torti.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2019: Armut: Es fehlt nicht nur am Geld
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