Seit mehr als einem Jahr ist Atie jetzt tot. Mbu Malonis bester Freund wurde im Oktober 2010 erstochen. Gerade hatte Mbus Leben begonnen, sich zum Guten zu wenden – zum ersten Mal in 17 Jahren. Er war im HOKISA-Kinderhaus in Masiphumelele, einem Township bei Kapstadt, aufgenommen worden. Das war nicht ganz einfach, denn die Mädchen und Jungen, die in diesem „Home for Kids in South Africa“ ein Zuhause finden, sind entweder Aids-Waisen oder selbst mit dem HI-Virus infiziert. Mbu war „nur“ ein Straßenjunge – doch ein besonders ehrgeiziger. Jeden Morgen ging er in die Schule, fast immer pünktlich. Egal, wo er die Nacht verbracht hatte. Egal, ob er etwas gegessen hatte. Oft hatte er nicht und manchmal wurde er im Unterricht ohnmächtig.
Mbu war ein ruhiger, schüchterner Junge. Sein Durchhaltewillen beeindruckte das HOKISA-Team. Mbu wollte unbedingt die Schule abschließen. „Du bist der klügste von uns allen. Wenn jemand das Abi schaffen kann, bist Du es“, hatte Atie einmal gesagt. Als Kind stellte Mbu sich die Schule als einen Ort vor, an dem magische Kräfte verliehen werden. Heute sagt er: „Bildung ist das einzige, was Dir niemand nehmen kann.“ Und Mbu weiß, wovon er spricht. „Er sagte uns, er sei ein guter Dieb“, erinnert sich der Schriftsteller und Mitbegründer von HOKISA, Lutz van Dijk, schmunzelnd an Mbus „Vorstellungsgespräch“.
Als bei HOKISA ein Bett frei wurde, zog Mbu in das Kinderhaus in Masiphumelele. „Masi“ ist eines der ärmsten Townships in der westlichen Kap-Provinz, doch auf Xhosa bedeutet der Name „Wir werden es schaffen“. Der Optimismus ist typisch für Township-Namen. Auch in Masi hat sich in den vergangenen Jahren einiges verbessert, für viele Menschen allerdings immer noch sehr langsam.
Autorin
Christina Kamp
ist freie Journalistin und Übersetzerin mit Schwerpunkt Tourismus und Entwicklung.Doch Mbu ist einer, der es schaffen kann – mit seinem Ehrgeiz und dem neuen Zuhause. Das heißt für ihn: „Ein sicherer Ort, an dem Dich niemand angreift. Wo Du zu essen bekommst, ohne darum kämpfen zu müssen. Wo Du Deine paar Habseligkeiten sicher und sauber aufbewahren kannst. Wo nicht hinter Deinem Rücken über Dich geredet wird. Wo Du ohne Angst schlafen kannst.“ Mbu ist angekommen – bei Leuten, die zu ihm halten.
Mbu war ein Straßenjunge, aber kein Waisenkind. Sein Vater hat kein Interesse an ihm. Seine Mutter lebt mit einem neuen Partner zusammen, der viel trinkt und wenig mit ihm anfangen kann. Sein älterer Bruder Mavusi, der sich als einziger um ihn kümmerte, starb an Tuberkulose. Mbu lief weg. „Alles war besser, als an den Ort des dauernden Schreiens und Saufens zurückzukehren“, schreibt er in seinem Buch. Im Kinderhaus tut Mbu das, was Jungen in seinem Alter tun sollten: Er geht weiter zur Schule. In seinem Lieblingsfach Geschichte beschäftigt er sich mit der Russischen Revolution. Im nahe gelegenen Fish Hoek spielt er Fußball und trainiert als Läufer im Leichtathletik-Club.
Doch diese vorher nie gekannte „Normalität“ währte nur zwei Monate. Dann wurde Atie erstochen, mit knapp 16, von einem 17-Jährigen – und, wie Mbu sagt, „einfach so“. Denn für die Gewalt im Township muss es keinen triftigen Grund geben, nicht einmal einen konkreten Anlass. Mbu musste einen Weg finden, mit seiner Trauer und seinem Schmerz umzugehen. Früh hatte er gelernt, seine Gefühle zu kontrollieren. „Hör auf mit Heulen – halte die Klappe. Sei ruhig. Rede nicht. Reden bringt nur Ärger.“ Lange dachte er so. Das änderte sich erst langsam in der Gemeinschaft der Kinder und Mitarbeiter bei HOKISA. Er begann über sein Leben nachzudenken und zu schreiben – seine Geschichte. „Vorher habe ich über die schlimmen Sachen in meinem Leben nicht gesprochen. Als ich anfing zu schreiben, fing ich an, offen zu sein.“
Heute will er seine Erfahrungen mit anderen Jugendlichen teilen. „Weil ich einfach weiß, dass es Millionen andere Kids gibt, die denken, dass sie nichts zu melden haben. Die denken, dass sie nichts sind. Schlimmer als nichts – wie Abfall. Schmutzig, hungrig, stinkend“, sagt Mbu. Aber das sei nicht wahr: „Jeder von uns will jemand sein. Möchte gehört werden.“
Ein Buch zu schreiben, sei harte Arbeit, hatte Lutz van Dijk ihn gewarnt. Und das war es auch. „Wenn ich an Stellen kam, die schmerzhaft waren, musste ich weinen“, erinnert sich Mbu. Als erfahrener Jugendbuchautor half van Dijk ihm beim Schreiben. „Meist haben wir erst geredet, er machte Notizen, ich brachte ihm meine Notizen“, erzählt Mbu. Und dass er immer wieder Pausen machen musste. Vieles musste er auch weglassen. Und weiter machen – bis das Werk soweit war, bei den Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern im Kinderhaus einen Test zu durchlaufen. Den bestand es mit Bravour.
Lutz van Dijk hat es ins Deutsche übersetzt. Schon mit früheren Titeln wie „Township Blues“ und „Themba“ hat er gezeigt, wie Bücher Jugendlichen helfen können, sich mit schwierigen Themen wie Aids auseinanderzusetzen – nicht nur in Deutschland, sondern auch in Südafrika. Auch Mbu hat die Bücher gelesen und war beeindruckt, in den Geschichten oft ganz normalen jungen Leuten zu begegnen, die nur etwas Ungewöhnliches tun: „Sie versuchen, ihr Leben zu ändern. Sie versuchen füreinander da zu sein. Sie übernehmen Verantwortung für ihre Zukunft.“ Solche Bücher schaffen Vorbilder. Das will Mbu auch: „Ich hoffe, dass andere Kids in schwierigen Situationen ermutigt werden, niemals aufzugeben.“
Inzwischen hat Mbu die ersten beiden Lesungen in Kapstadt erfolgreich hinter sich gebracht. Sein Freund Sonwabiso hat ihm bei den Vorbereitungen geholfen, sein Freund Yamkela begleitete ihn auf der Orgel. Die Säle waren voll. Zur ersten Lesung, die eine Buchhandlung Anfang November 2011 im nahe gelegenen Kalk Bay organisiert hatte, kamen mehr als hundert Besucher. Mbu ist jetzt 19 und gerade in die 12. Klasse der Masiphumelele High School versetzt worden – die Abschlussklasse vor dem südafrikanischen Abitur. Mit dem Vorschuss für sein Buch hat er ein Bankkonto eröffnet. Damit und mit den Einnahmen aus dem Buch will er Ausbildung und Studium finanzieren. Er träumt davon, Journalist zu werden – ein Traum, der nun in immer greifbarere Nähe rückt.
„Ich bin glücklich und stolz auf mich“, sagt Mbu. Denn er hat es sogar geschafft, seinem Vornamen gemäß etwas „zurückzugeben“. Auf Xhosa bedeutet Mbuyiseli, abgekürzt Mbu, „Derjenige, der etwas zurückgibt“. Seine Mutter habe ihn so genannt, weil ihr im Leben nie etwas geschenkt worden sei und sie gehofft habe, dass ihre Kinder ihr eines Tages etwas geben werden. Vor kurzem hat Mbu für sie und seine kleinen Halbgeschwister Aman und Aphelele eine neue Unterkunft gebaut. Die alte Baracke hat er abgerissen. Und er will weiter Verantwortung übernehmen: „Es liegt an mir, dafür zu sorgen, dass mein Bruder und meine Schwester besser aufwachsen als ich. Und dass sie auch zur Schule gehen.“
LITERATURTIPP:
Mbu Maloni
Niemand wird mich töten
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2011
153 Seiten, 12,90 Euro
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