Anfang Juni starb der Innenminister von Dagestan bei einem Attentat, zwei Wochen später wurde der inguschische Präsident schwer verwundet. Ist der Nordkaukasus eine besonders gefährliche Region?
Im Vergleich zu anderen Teilen der russischen Föderation ist er in jedem Fall die konfliktträchtigste Region, hier kommt es zu den meisten bewaffneten Zwischenfällen. Das hat sich gerade in den vergangenen Wochen wieder gezeigt. Die russische Regierung behauptet zwar, die Lage habe sich in jüngster Zeit normalisiert. Dem wird aber auch in russischen Medien deutlich widersprochen.
Wo verlaufen die Hauptkonfliktlinien?
Lange Zeit war Tschetschenien das Epizentrum der Gewalt in der Region. Dort herrscht inzwischen kein Krieg mehr, obwohl die Republik von Befriedung weit entfernt ist. Dafür hat die Gewalt in den umliegenden Regionen umso mehr zugenommen, vor allem in Dagestan und Inguschetien. In den vergangenen fünf Jahren sind zudem zunehmend Teilrepubliken wie Kabardino-Balkarien in den Blick geraten, wo die Zahl der Gewalttaten zunimmt und neue islamistische Netzwerke entstanden sind. Das Bild vom instabilen Nordkaukasus hat sich also über Tschetschenien hinaus deutlich verbreitert.
Wo liegen die Wurzeln der Konflikte?
Sie haben zunächst eine ethnische Komponente. Der Nordkaukasus ist in der Russischen Föderation die Region mit der größten Zahl nationaler Teilrepubliken – sieben sind es von Adygien im Westen nahe dem Schwarzen Meer bis nach Dagestan im Osten am Kaspischen Meer. Und sie sind in sich noch einmal höchst komplex. So hat etwa Dagestan, ein Gebiet so groß wie Baden-Württemberg mit ungefähr 2,5 Millionen Einwohnern, allein 14 Hauptnationalitäten; die Gesamtzahl der Volksgruppen ist noch weit größer. Der Zerfall der Sowjetunion war von einem Prozess begleitet, den ein sowjetischer Ethnologe als „ethnische Explosion“ bezeichnet hat. Das trifft ganz besonders auf den Nordkaukasus zu. Es entstanden zahlreiche ethnische Bewegungen, die für die Rechte ihrer jeweiligen Volksgruppe eintraten, im Falle Tschetscheniens auch für einen eigenen Staat. Inzwischen hat sich der ethnische Aufruhr etwas abgeschwächt und die islamische Mobilisierung spielt eine stärkere Rolle. Aber es kommt immer noch zum Streit zwischen Volksgruppen, etwa wenn es um die Verteilung politischer Macht oder um Land geht.
Welche Rolle spielen historische Faktoren?
Russland ist bei seiner kolonialen Expansion im Nordkaukasus auf großen Widerstand gestoßen. Nirgendwo anders gab es eine so starke Widerstandsbewegung gegen das russische Vordringen im 19. Jahrhundert, vor allem unter islamischen Führern wie dem Imam Schamil in Dagestan und Tschetschenien. Dieser historische Bezug ist bis heute vorhanden, etwa bei der tschetschenischen Sezessionsbewegung in den 1990er Jahren oder bei den islamistischen Gruppierungen, die heute für ein kaukasisches Emirat kämpfen – also einen islamischen Staat, der sich von Russland abwendet.
Wie groß ist der Einfluss islamischer Extremisten? Haben sie Rückhalt in der Bevölkerung?
Islamistische Gewalt ist im Nordkaukasus weit verbreitet. Allein in den letzten Wochen gab es etliche Vorfälle, für die Gruppierungen wie die „Scharia Jama’a“ in Dagestan oder eine von Schamil Bassajew, dem wohl berüchtigtsten kaukasischen Kriegsherrn, gegründete Gruppe namens „Riyad us Salihin“ die Verantwortung übernommen haben. Das heißt aber nicht, dass diese Bewegungen in der Bevölkerung verankert sind. In Tschetschenien werden die Wahhabiten, die den Dschihad, den Heiligen Krieg, propagieren, und vom islamischen Fundamentalismus arabischer Prägung beeinflusst sind, von der Bevölkerung als Fremdkörper empfunden. Vor allem zwischen jüngeren und älteren Muslimen gibt es innerhalb der islamischen Gemeinden Konflikte. Da tritt der Gegensatz hervor zwischen jungen Wahhabiten und Traditionalisten, die auch zu Zeiten der Sowjetunion ihre islamische Lebensform praktiziert haben.
Bekommen die Extremisten im Nordkaukasus Unterstützung aus dem Nahen Osten?
Diesen Einfluss gibt es. Die Frage ist, wie er gewertet wird. Von russischer Seite, aber auch in den Republiken selbst, wird er sehr stark betont und überzeichnet. Mitunter hat man den Eindruck, als seien die Unruhen zum größten Teil vom Ausland gesteuert. Dem ist mit großer Vorsicht zu begegnen. Die Regierungen sind geneigt, die Gründe für hausgemachte Probleme im Ausland zu suchen. Aber es steht außer Frage, dass vor allem nach dem ersten Tschetschenien-Krieg 1994 bis 1996 der Einfluss islamistischer Akteure aus arabischen Ländern auf den Nordkaukasus zugenommen hat.
Welchen Anteil haben soziale und wirtschaftliche Probleme an den Konflikten?
In einigen nordkaukasischen Teilrepubliken wie Dagestan oder Inguschetien sind Armut und Arbeitslosigkeit im Vergleich zu anderen Regionen der Russischen Föderation besonders groß. Vor allem viele Jugendliche haben weder einen Ausbildungs- noch einen Arbeitsplatz. Sie sind empfänglich für Gruppierungen, die „islamische Gerechtigkeit“ propagieren und zum Aufstand gegen korrupte lokale Machteliten aufrufen.
Trägt die Finanzkrise zur weiteren Destabilisierung bei?
Die Finanzkrise hat im gesamten postsowjetischen Raum vor allem zu einer Krise der Arbeitsmigration geführt. Viele Migranten, auch aus dem Nordkaukasus, haben in Russland gearbeitet. Dort gibt es nun weniger Jobs und sie werden entlassen. Auf diese Weise verschärft die Finanzkrise die Lage in der Region, die bereits zuvor unter erheblichen sozioökonomischen Problemen gelitten hat.
Welche Strategie verfolgt Russland im Nordkaukasus?
Die Region sollte in die sogenannte Machtvertikale eingebaut werden, die Wladmir Putin seit Beginn seiner ersten Präsidentschaft aufgebaut hat. Besonders nach dem Terroranschlag von Beslan in Nordossetien 2004 setzte Moskau trotz großer Widerstände durch, die Gouverneure von Regionen oder Präsidenten von Teilrepubliken direkt einzusetzen. Einer der bekanntesten war der neue Präsident von Inguschetien, Junus-Bek Jewkurow, der nun durch das Attentat schwer verletzt wurde. Moskau hat so versucht, seinen Einfluss auf die Region zu stärken. Zugleich hat der Kreml in Tschetschenien dem dortigen starken Mann, Ramsan Kadyrow, weitgehende Freiheiten gelassen. Das geht so weit, dass Kadyrow sich zunehmend in die Politik der Nachbarrepubliken einmischt und dort entsprechenden Widerstand hervorruft.
Heißt das, Russland verliert die Kontrolle über den Nordkaukasus?
Kadyrows Beispiel zeigt in der Tat, dass Russland die Region nicht im Griff hat. Es setzt immer noch auf Leute wie ihn, die bekannt dafür sind, dass sie die Probleme mit Gewalt lösen wollen. Man hat immer noch nicht gelernt, dass diese Strategie die Gewaltspirale nur weiter antreibt. Das hat sich auch in Inguschetien gezeigt. Der vorherige Präsident, Murat Sjasikow, wurde ebenfalls direkt von Russland eingesetzt und war ein hoher russischer Geheimdienstoffizier. Er hat mit seinem gewaltsamen Vorgehen eine Art Kriegszustand zwischen Regierung und Bevölkerung hervorgerufen. Es kam immer wieder zu schlimmen Übergriffen der Sicherheitsorgane. In dieser Region gibt es nicht annähernd so etwas wie Rechtsstaatlichkeit. Die Sicherheitsorgane sind zumeist kaum zu unterscheiden von anderen Akteuren, die Gewalt anwenden, immer wieder auch gegen die Zivilbevölkerung.
Was geschieht zur Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit in der Region?
2004 hat Moskau Dmitri Kosak als Verantwortlichen für den südlichen Föderalbezirk, zu dem der Nordkaukasus gehört, eingesetzt. Er hat als erster versucht, Programme zur Bewältigung dieser Probleme auf den Weg zu bringen. Die nordkaukasischen Republiken hängen am Tropf Moskaus. Bis zu 80 Prozent ihrer Staatshaushalte stammen aus Zuschüssen aus dem Haushalt der Föderation. Nach dem Krieg gegen Georgien im August 2008 hat der Kreml mit den Abchasen und Südossetien eine weitere Last auf sich genommen – sie erhalten ebenfalls Geld aus dem föderalen Haushalt. Damit allein löst man natürlich die Probleme vor Ort nicht, die allerdings für jeden externen Akteur sehr schwer zu bewältigen sind. Der Präsident von Inguschetien, Jewkurow, hat versucht, neue Ansätze zu verfolgen. Der Anschlag auf ihn ist ein schwerer Rückschlag. Aber Moskau scheut sich bis heute, den früheren Präsidenten Ruslan Auschew nach Inguschetien zurückzubringen, der großes Vertrauen in der Bevölkerung genossen hat. Er hat sich mit Moskau überworfen, weil er Kritik an der Tschetschenien-Politik des Kremls geäußert hat.
Sind die Konflikte im Nordkaukasus miteinander und mit denen im Südkaukasus verquickt?
Ja, es gibt zahlreiche Schnittstellen. Das wird ganz besonders deutlich bei Abchasien, das sich mehr zum Nord- als zum Südkaukasus zugehörig fühlt. Es gilt aber auch für Ossetien, das zu Zeiten der Sowjetunion in einen nördlichen Teil auf russischem und einen südlichen Teil auf georgischem Gebiet getrennt wurde. Schon Monate vor dem Krieg zwischen Russland und Georgien sickerten bewaffnete Freiwillige aus dem Nordkaukasus nach Abchasien und Südossetien ein, um die Einwohner gegen das georgische Militär zu unterstützen. Und das Pankisi-Tal im Grenzgebiet von Georgien und Tschetschenien stand 2000 bis 2002 im Mittelpunkt sicherheitspolitischer Aufmerksamkeit, weil dort angeblich tschetschenische Guerilla-Verbände auf georgisches Gebiet vorgedrungen waren. Man kann in der Analyse der regionalen Konflikte und Sicherheitsdefizite den Nordkaukasus nicht strikt vom Südkaukasus trennen.
Die Konflikte haben auch Zehntausende Menschen vertrieben. Verschärft das die Spannungen?
Ja, zum Beispiel zwischen Nordossetien und Inguschetien. Hier brach 1992 der erste bewaffnete Konflikt in Russland aus, es ging um ein inguschisch besiedeltes Gebiet in der nordossetischen Hauptstadt Wladikawkas. Das sind bis heute ungelöste Probleme, die zu einer Verschärfung der Situation beitragen. Darüber hinaus lösten vor allem die beiden Tschetschenienkriege große Fluchtbewegungen in die Nachbarrepubliken aus. Vorübergehend war die Zahl der Flüchtlinge in Inguschetien höher als die der Einheimischen.
Das Gespräch führte Gesine Wolfinger.
Uwe Halbach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Russland/GUS bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Der Kaukasus zählt zu seinen Forschungsschwerpunkten.