Neneng liebte ihre Arbeit als Kindergärtnerin. Als ihr Ehemann Dimas ins Krankenhaus musste, sagte ihre Chefin: „Mach Dir keine Sorgen. Kümmere dich erst mal um Deinen Mann.“ Bei Dimas (beide Namen geändert) diagnostizierten die Ärzte zunächst eine Lungenentzündung, dann ein Lungenempyem. Einen Monat war er in der Klinik. Neneng kümmerte sich um ihn. Sie fütterte ihren fiebernden, völlig entkräfteten Mann, begleitete ihn zur Toilette, wusch ihn – die Pfleger und Krankenschwestern hatten dafür keine Zeit. Die Operation, die die Ärzte empfahlen, sollte 2000 Euro kosten. So viel Geld konnte das Paar nicht bezahlen. Dimas ist Künstler, eine Krankenversicherung hat er nicht. Er verließ das Krankenhaus ohne den Eingriff. Als Neneng zu ihrer Arbeit in die Kita zurückkehren wollte, hatte man dort bereits jemand anderen eingestellt.
Das ist Alltag in Indonesien, der drittgrößten Demokratie der Welt und Mitglied der Gruppe der G20, der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Wer eine ärztliche Behandlung nicht bezahlen kann, wird nicht versorgt. Ab 2014 soll das anders werden. Dann will Indonesien ein flächendeckendes Sozialversicherungssystem einführen. Die gesetzlichen Weichen dazu wurden im Oktober 2011 gestellt: Das Parlament beschloss die Einrichtung von Sozialversicherungsträgern, die ab 2014 Krankenversicherungen und ab 2015 Lebensversicherungen, Unfallversicherungen und Rentenversicherungen verwalten sollen. Ende November hat Präsident Susilo Bambang Yudhoyono das Gesetz unterschrieben.
Indonesien hat zwar schon ein Sozialversicherungssystem, doch es kommt nur einem Teil der Bevölkerung zugute. Lediglich 51 Prozent der arbeitsfähigen Indonesier sind über eine der staatlichen Versicherungsgesellschaften versichert. Askes ist die Krankenversicherung für Beamte, Asabri die für Militär und Polizei. Die Pensionen von Militär, Polizei und Beamten werden von Taspen verwaltet. Jamsostek versichert die Angestellten privater Firmen bei Krankheit. Seit 2005 gibt es mit Jamkesmas eine Versicherung für Mittellose, deren Beiträge der Staat aus Steuermitteln zahlt.
Von einem sozialen Netz, das die gesamte Bevölkerung auffängt, ist das Land aber weit entfernt. Wer keine Beiträge bezahlen kann und über Jamkesmas eine Versicherung für Mittellose beantragen will, muss sich bei fünf verschiedenen Behörden bestätigen lassen, dass er besonders bedürftig ist. Aber nicht immer erhalten bei diesem mühsamen Gang diejenigen eine Bestätigung, die wirklich arm sind – Indonesiens Beamte gelten als besonders korrupt. Abgesehen davon kennen viele Menschen ihre Rechte nicht. Oder sie empfinden die Prozedur als entwürdigend und schlagen sich im Krankheitsfall lieber selbst durch, indem sie Schulden aufnehmen – oder sich nicht oder unzureichend behandeln lassen.
Wer genug Geld hat – Unternehmer zum Beispiel –, versichert sich lieber privat, wo er bessere Leistungen bekommt, und fliegt im Zweifelsfall nach Singapur, Malaysia oder Australien, um sich behandeln zu lassen . „Das Hauptproblem bei den staatlichen Versicherungsunternehmen liegt in deren Intransparenz und in mangelnder Aufsicht“, kritisiert Tia Mboeik, Programmreferentin für Gewerkschaftsarbeit bei der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Jakarta. Bei Jamsostek, der Versicherung für Angestellte in der Privatwirtschaft, flössen nur 55 Prozent der Einnahmen als Leistungen an die Versicherten zurück.
„Aus dem Vermögen der Versicherung wurden hoch riskante Investitionen getätigt. Zum Beispiel wurden Jamsostek-Gelder ausgegeben, um überteuerte Aktien der staatlichen Fluglinie Garuda zu kaufen“, so Mboeik. Keine der staatlichen Versicherungen sei bislang unabhängig kontrolliert worden. Der indonesische Gewerkschaftsbund hatte gegen ihre Profitorientierung sogar Klage vor dem Verfassungsgericht erhoben. Sie wurde abgewiesen.
Dabei hätte laut indonesischer Verfassung bereits seit 1945 jeder Bürger ein Recht auf soziale Sicherung. Präzisiert wurde dieses Recht jedoch erst nach dem Sturz des Diktators Suharto, als im Zuge demokratischer Reformen mehrfach die Verfassung geändert wurde. Und schließlich bedurfte es gar eines Urteils des Verfassungsgerichtes, um den Gesetzgeber in die Pflicht zu nehmen. 2004 wurde ein Sozialversicherungsgesetz verabschiedet. Dann dauerte es weitere sieben Jahre, bis das Parlament die gesetzlichen Grundlagen für die Einrichtung des zur Umsetzung nötigen Sozialversicherungsträgers (BPJS) schuf.
Dazu sollen die bisher existierenden Versicherungsträger in gemeinnützige Aktiengesellschaften umgewandelt werden. So soll sichergestellt werden, dass die Beiträge auch als Leistungen an die Versicherten zurückfließen. 2014 soll die neue Behörde BPJS I für Krankenversicherungen ihre Arbeit aufnehmen. 2015 kommt BPJS II für Unfallversicherung und Altersvorsorge dazu. Erstmals wird es dann in Indonesien eine Sozialversicherungspflicht für alle geben. Sie gilt auch für vorübergehend dort arbeitende Ausländer.
Die bisherigen staatlichen Versicherungsträger kämpften erbittert gegen das Gesetz. Nur ungern wollten sie den Status quo aufgeben. Ihr Vermögen beziffert die Tageszeitung Jakarta Post auf 23 Milliarden US-Dollar. Viele bezweifeln, dass dieses Geld auf transparente Weise in das neue Versicherungssystem fließt. Zumal das Gesetzgebungsverfahren einige Rätsel aufgab. Erst jahrelang verschleppt, wurde es schließlich wegen des zunehmenden öffentlichen Drucks im Eiltempo durch das Parlament gepeitscht. Als es zur Abstimmung kam, hatten die Abgeordneten noch nicht mal die endgültige Version des Gesetzestextes vorliegen – er wurde erst nachträglich fertiggestellt.
„Das Gesetz ist vielleicht nicht perfekt, aber es ist ganz sicher kein zahnloser Tiger“, erklärt Said Iqbal, der Vorsitzende des Aktionskomitees für Soziale Sicherung (KAJS). Das Komitee, ein Zusammenschluss von mehr als 60 Gewerkschaften und nichtstaatlichen Organisationen (NGO), war entscheidend an der Lobbyarbeit für das neue Gesetz beteiligt. „Wir müssen optimistisch sein“, antwortet Iqbal auf die Frage, ob da kein neues bürokratisches Monster geschaffen werde, das in einem korrupten Staat wie Indonesien schwer zu kontrollieren sei. „Als Zivilgesellschaft werden wir unseren Spielraum nutzen“, kündigt er an.
Dafür hat das KAJS mit „BPJS-Watch“ bereits ein Gremium geschaffen, das die noch zu erlassenden Durchführungsbestimmungen und deren praktische Umsetzung kritisch begleiten wird. „Wenn es nicht funktioniert, dann werden wir Druck machen“, sagt Iqbal selbstbewusst. Der könne bis zu einem Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten reichen, wenn er dem Volk dessen verfassungsmäßiges Recht nicht gewährt.
Autorin
Anett Keller
berichtet als freie Journalistin aus Indonesien.Auch Tia Mboeik von der FES sieht im Sozialversicherungsgesetz und in der öffentlichen Debatte einen großen Fortschritt. Der Druck auf die Regierung, auch ausgelöst von einer enormen Mobilisierung der Gewerkschaften, sei „einmalig“ gewesen und habe viele Indonesier für ihre sozialen Rechte sensibilisiert. Außerdem sei das Bewusstsein der Indonesier für die Bedeutung der Vorsorge geschärft worden. Es bleibe jedoch eine „große Herausforderung“, die sozialen Sicherungssysteme bis 2014 umzustrukturieren. Denn noch sind viele Details nicht geklärt.
So steht die genaue Höhe der künftigen Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile noch nicht fest. Offen ist auch, ob die Beiträge zentral oder auf Provinzebene verwaltet werden. Ferner sei nicht abschließend geregelt, inwieweit der Staat für Geringverdiener einspringe und wie Bedürftigkeit nachgewiesen werden solle, erläutert Mboeik. Schwierig sei darüber hinaus die Einbindung des informellen Sektors, in dem 70 Prozent der Indonesier beschäftigt sind.
Mit einem Zensus will die neue Behörde alle Versicherungspflichtigen erfassen. Doch wie die Beitragshöhe der Inhaber von Moped-Werkstätten und Friseursalons, von Marktfrauen oder Rikscha-Fahrern erhoben werden soll oder wie Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile von Tagelöhnern und in wechselnden Haushalten Angestellten festgelegt werden sollen, liegt noch im Dunkeln. „Indonesien wird erstmals ein System haben, das allen Menschen offen steht. Spannend wird die Frage, wie Besserverdienende dazu gebracht werden, sich an diesem System zu beteiligen“, meint Mboeik. Sie sieht die Gefahr einer Neid-Debatte, die der in Deutschland ganz ähnlich sein könnte. Der indonesische Unternehmerverband, der höhere Arbeitgeberanteile befürchtet, gehörte ebenfalls zu den entschiedenen Gegnern des Gesetzes. Dass die indonesische Regierung es jahrelang verschleppt habe, so Mboeik, „lässt erahnen, welch hoher Druck von Seiten derer ausgeübt wird, die ihre Interessen durch das Gesetz gefährdet sehen.“
Auch auf den Staat dürften höhere Kosten zukommen. Die Weltbank hat ausgerechnet, dass Indonesien im Jahr 2040 bis zu zehn Prozent seines Bruttoinlandsproduktes investieren müsste, um für alle Bürger den Zugang zu Gesundheitsleistungen zu sichern. Derzeit liegen die Ausgaben für Gesundheit bei knapp zwei Prozent des Inlandsprodukts. Die Folgen bekommt jeder zu spüren, der ein indonesisches Krankenhaus betritt. Während Wohlhabende in klimatisierten Einzelzimmern beinahe wie im Hotel residieren, zwängen sich die Patienten der Versicherung für Mittellose (Jamkesmas) zu sechst oder mehr in schlecht belüfteten Zimmern. Adäquate Betreuung und transparente Informationen sind Mangelware. Auf 240 Millionen Indonesier kommen nur 108.000 Ärzte.
Der frühere Präsident des indonesischen Ärzteverbandes, Kartono Mohamad, geht hart mit seinem Berufsstand ins Gericht. „Wenn ein Patient hier ins Krankenhaus kommt, ist es, als würde er in ein fremdes Land einreisen“, sagt er. „Er trifft auf Menschen in seltsamen Uniformen, die in einer Fremdsprache zu ihm sprechen.“ Die Krankenhäuser profitierten von der Unwissenheit der Patienten. Mohamad hofft, dass die neue Sozialversicherungsbehörde als zentrale Verwaltung der Mittel für die medizinische Behandlung die Macht haben wird, Krankenhäuser und Ärzte pünktlicher, effizienter und patientenorientierter zu machen. Sie habe zudem Einfluss auf die Preisentwicklung bei Medikamenten, so der Mediziner. Sie müsse nicht nur Versicherungsschutz bieten, sondern auch Gremien zur Überwachung der Gesundheits-Anbieter entwickeln.
Noch ist es nicht soweit. Der lungenkranke Dimas bekam im Krankenhaus kaum Antworten auf seine Fragen. Stattdessen wurde mit Hilfe eines Röntgenbildes, das einen fast komplett weißen Lungenflügel zeigte, Druck auf ihn ausgeübt, sich schnell operieren zu lassen. Dimas entschied sich – aus finanziellen Gründen – dagegen. Er hörte auf zu rauchen und suchte einen bekannten Heilpraktiker auf. Dort zahlt jeder Patient einen freiwilligen Beitrag, je nach finanziellem Vermögen. Der Heilpraktiker behandelte Dimas mit viel Zeit, gesegnetem Wasser und Dattelhonig. Dimas aktuelle Röntgenaufnahme zeigt zwei völlig intakte Lungenflügel.
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