Brasilien: 2014 ohne Elend?

Dilma Rousseff hat sich viel vorgenommen: Brasiliens Präsidentin will bis 2014 die extreme Armut in ihrem Land beseitigen. Erreichen möchte sie das mit einem breit angelegten Sozialprogramm unter dem Motto „Brasilien ohne Elend“ (Brasil Sem Miséria), das auf drei Säulen ruht: Die Regierung will das erfolgreiche Sozialtransfer-Programm „Bolsa Familia“ erweitern, die öffentlichen Dienstleistungen wie die Versorgung mit Strom und Wasser sowie den Zugang zu Bildung und Gesundheitsdiensten verbessern, und sie will dafür sorgen, dass mehr arme Brasilianer eine Arbeit bekommen und somit in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.

Insgesamt sollen 16 Millionen Menschen von dem Programm profitieren – so viele Brasilianer leben laut der jüngsten Volkzählung 2010 noch immer in extremer Armut, die meisten von ihnen in den nördlichen und nordwestlichen Bundesstaaten. Die Hälfte ist jünger als 19 Jahre. Das sind etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, ein beträchtlicher Anteil angesichts der großen Erfolge bei der Armutsbekämpfung in den vergangenen Jahren. Roussefs Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva hatte es laut offiziellen Angaben mit dem 2003 aufgelegten „Bolsa Familia“-Programm geschafft, den Anteil der extrem Armen im Land auf weniger als die Hälfte zu reduzieren – damit habe Brasilien das erste der UN-Entwicklungsziele bereits 2006 erreicht, heißt es in einer im Dezember 2011 veröffentlichten Analyse des Sekretariats für strategische Angelegenheiten.

Autorin

Gesine Kauffmann

ist Redakteurin bei "welt-sichten".

Bei „Bolsa Familia“ sind monatliche Finanzhilfen zwischen 22 und 200 US-Dollar pro Familie an Bedingungen geknüpft wie den Schulbesuch oder die regelmäßige medizinische Untersuchung der Kinder. Es kam bislang etwa 12,7 Millionen Familien zugute. Nun soll es auf 80.000 weitere Haushalte mit Kindern ausgedehnt werden, die trotz ihres Anspruchs keine Unterstützung erhalten, weil sie das Programm nicht kennen, in einer entlegenen Region wohnen oder die Verwaltung nicht funktioniert. Zudem kann die Hilfe künftig für fünf anstelle von bislang drei Kindern pro Familie beantragt werden. Um die Chancen der Armen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, sucht die Regierung den engen Schulterschluss mit der Privatwirtschaft, will aber auch in Ausbildung und öffentliche Beschäftigungsprogramme investieren. All das wird mehrere Milliarden US-Dollar kosten und soll aus Steuern finanziert werden.

Brasiliens Regierung gehe mit dem Programm „in die richtige Richtung“, findet die Stuttgarter Politikwissenschaftlerin Lucimara Brait-Poplawski, auch wenn die Zeit dafür „sehr knapp“ bemessen sei. Die Referentin für soziale Grundsicherung beim evangelischen Hilfswerk „Brot für die Welt“ hat in einer Studie die gesetzlichen Grundlagen, die organisatorische Umsetzung, Erfolge und Schwächen der brasilianischen Sozialhilfeprogramme untersucht. Auf der Ebene der Zentralregierung sei ein effektiver Verwaltungsapparat geschaffen worden, sagt sie. Kritischer sei das bei den Bundesstaaten und den Kommunen, die dafür zuständig sind, dass die Hilfen die Bedürftigen tatsächlich erreichen.

Die Regierung muss Strukturen beseitigen, die die Ungleichheit begünstigen - etwa beim Bildungssystem

Zwar habe sich der Staat verpflichtet, die Armen „aktiv aufzusuchen“, um bürokratische Hürden abzubauen. Aber es stelle sich die Frage, ob Sozialarbeiter, die oft aus der Mittelschicht stammen, wirklich in die Favelas gehen und ob sie für diese Arbeit gut ausgebildet seien. „Das ist die wesentliche Voraussetzung für einen Erfolg“, betont sie. Brait-Poplawskis Kritik geht aber noch weiter: Sozialhilfeprogramme seien nötig, um jene zu unterstützen, die nicht arbeiten können – allen voran Kinder und Jugendliche. Um die Kluft zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft weiter zu verkleinern, müsse Brasiliens Regierung jedoch zusätzlich die Strukturen beseitigen, die Ungleichheit begünstigen. So müsse etwa das Bildungssystem so reformiert werden, dass allen Mädchen und Jungen der Zugang zu einer Hochschule ermöglicht wird. „Auf die besten Universitäten gehen nur die Wohlhabenden“, sagt die gebürtige Brasilianerin. Wer eine staatliche Schule besucht habe, habe es sehr schwer, die Aufnahmeprüfung zu schaffen.

Dennoch: Brasilien sei es gelungen, die internationale Debatte über die Bedeutung der sozialen Sicherung für Armutsbekämpfung und Entwicklung anzustoßen, betont Brait-Poplawski. Bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), der Weltbank, dem UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) und der Europäischen Union gilt das Land als Vorreiter, von dem andere Schwellen- und Entwicklungsländer lernen können. Auch Partner von„Brot für die Welt“ aus Afrika und Asien hätten großes Interesse an Brasiliens Strategien geäußert, berichtet Brait-Poplawski. Mit den Ergebnissen ihrer Studie will sie ihnen Impulse für die Entwicklung eigener Systeme vermitteln: „Man muss das Rad nicht immer neu erfinden.“

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