Von Agnes Tandler
Traditionell genießen alte Menschen in Indien große Achtung. Doch nicht für alle sind die letzten Lebensjahre golden, seit Geld und Konsum in den Familien der Mittelschicht wichtiger werden. Immer öfter haben die Jungen keine Zeit oder keine Lust mehr, sich um die Alten zu kümmern. Und manchmal versuchen die Kinder sogar, ihre Eltern aus teuren Häusern zu vertreiben, um damit Profit zu machen.
Seinen Namen und seine Adresse will er aus Angst nicht nennen. Der gut gekleidete Herr um die 70 besitzt ein stattliches Haus im Süden der indischen Hauptstadt Neu-Delhi. In der schicken Siedlung, in der neue und alte Millionäre, hohe Politiker und ausländische Diplomaten wohnen, haben sich die Grundstückspreise in den vergangenen zehn Jahren mehr als verzehnfacht. Doch für den Hausbesitzer, der in einem gepflegten Park auf einer Bank unter einem großen Neem-Baum sitzt, ist das kein Grund zur Freude. „Meine Kinder wollen mich nicht mehr, sie wollen nur das Haus", sagt er leise. Weitere Einzelheiten möchte er lieber nicht verraten. Er fürchtet, dass er daheim sonst noch mehr drangsaliert wird. Es ist ihm sichtbar unangenehm, mit seiner Geschichte das heile Bild vom indischen Familienverbund zu stören. Umgehend entschuldigt er seine Kinder: „Das ist alles wegen dieser astronomischen Hauspreise heutzutage."
Indien ist ein Land der Jugend - etwa zwei Drittel der fast 1,2 Milliarden zählenden Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre. Doch auch der Subkontinent geht einem Alters-Problem entgegen. Die Lebenserwartung in der Mittelklasse hat sich in den vergangenen Jahren beträchtlich erhöht. Private Krankenhäuser bieten für Wohlhabende inzwischen eine medizinische Versorgung, die der im Westen in nichts nachsteht. Etwa 80 Millionen Menschen in Indien sind über 60 Jahre alt und die Tendenz ist steigend. „Wir schätzen, dass 2021 in Indien etwa 137 Millionen Menschen über 60 leben werden", sagt Himanshu Rath von der Hilfsorganisation Agewell Foundation.
Die Mehrheit der Alten lebt in bitterer Armut. Nur ein Bruchteil erhält eine staatliche Rente oder verfügt über eigenen Besitz, wie der distinguierte Herr im Park, dessen Haus inzwischen umgerechnet drei bis vier Millionen Euro Wert sein soll. Lediglich etwa zehn Prozent der 400 Millionen Arbeiter und Angestellten auf dem Subkontinent zahlen überhaupt in eine Pensionskasse für ihre Altersversorgung ein. Staatliche Renten erhalten nur Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst. Private Versicherungen für die letzten Lebensjahre waren bis vor kurzem noch so gut wie unbekannt.
Traditionell sorgt daher der Familienverband für Indiens Senioren. Respekt vor dem Alter ist tief in der Tradition verwurzelt. Doch seit das Land einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, lösen sich die sozialen Strukturen auf. Inzwischen ist es nicht mehr selbstverständlich, dass alle Generationen unter einem Dach zusammenleben. Viele Kinder der oberen und reichen Mittelklasse haben sich in den USA, Großbritannien oder Kanada niedergelassen, arbeiten dort und haben ihre eigenen Familien gegründet. Sie besuchen ihre Eltern in der Heimat nur noch selten. In der reichen Kolonie in Nizamuddin-East in Neu-Delhi kennt jeder solche Geschichten. „Die beiden Söhne sind nicht gekommen, als ihre Mutter im Sterben lag", entrüstet sich ein Geschäftsmann des Viertels. „Ich sehe die Frau noch, wie sie jeden Tag ihren Kindern warmes Essen in die Schule gebracht hat".
Ungern geben alte Menschen zu, wie sehr sich die Welt für Senioren verändert hat. Zum Beispiel Deepak Pal: Der sportliche 72-Jährige bewohnt einen bescheidenen Bungalow in Süd-Delhi, den noch seine Eltern gebaut haben. In der Nachbarschaft sind die Häuser bereits vierstöckig in die Höhe geschossen und gleichen kleinen Palästen. Deepak Pal lebt in einem der letzten alten Häuser mit seiner Frau und seiner fast 90-jährigen Mutter, die sich nur noch mühsam an Krücken im Haus fortbewegen kann. Im winzigen, fensterlosen Wohnzimmer eingeklemmt zwischen Küche, Hof und einer Glasveranda stehen Dutzende Bilderrahmen mit Fotos von Pals Kindern und seinen Enkeln.
Der Hausherr sitzt auf einem alten, braunen Kunstledersessel und erzählt von Tochter und Sohn, die inzwischen Mitte 40 sind und im kanadischen Toronto leben. Nur selten sind sie zu Besuch. „Sie müssen sich doch um ihre eigenen Familien kümmern und ihre Kinder großziehen. Wir wollen ihnen nicht zur Last fallen. Ich bin sehr glücklich über meine Kinder", sagt Pal. Als er einen Herzschrittmacher erhielt, seien beide sofort aus Kanada nach Delhi gekommen, erzählt er nicht ohne Stolz. Zwei Hausangestellte helfen den drei alten Leuten im Alltag. „Ich glaube nicht, dass ich Hilfe brauche, wenn ich alt bin", sagt Pal optimistisch. „An ein Altersheim habe ich noch nie gedacht."
Ohnehin sind Altersheime in Indien noch eine Rarität. Nur etwa tausend solche Einrichtungen mit etwa 25.000 Plätzen gibt es laut der Agewell Foundation. Neben den Pflegeheimen fehlt es aber auch an Fachkräften. „Es gibt keine professionelle Altenpflege", klagt die Soziologin Mala K. Shankardass, die über das Thema forscht und das Buch „Growing Old in India" geschrieben hat. „Alte Menschen haben oft keine Ersparnisse, weil sie gar nicht erwartet haben, dass sie so lange leben. Stattdessen haben sie ein Haus gekauft und Geld für die Hochzeit ihrer Töchter ausgegeben. Seit sie nicht mehr arbeiten, haben sie keine Einkunftsquelle mehr. Das ist ein großes Problem, wenn plötzlich Kosten für Krankenhaus oder ärztliche Behandlung anfallen", erklärt Shankardass.
Kavita Chibbers ist seit Jahren ein Pflegefall. Sie hat Angst, sehr große Angst. Die über 80-Jährige wohnt ganz allein in ihrem Haus im Süden von Neu-Delhi, seit ihr Mann vor ein paar Wochen gestorben ist. Das Ehepaar hat keine Kinder. Die nahen Verwandten sind nicht mehr am Leben. Die alte Frau ist schon lange wegen eines Rückenleidens bettlägerig. Nur unter Schmerzen kann sie mit einem breiten, hautfarbenen Korsett überhaupt aufstehen. Eine alte Gehhilfin steht in ihrem Zimmer am Bett. Bislang hatte ihr Mann sie gepflegt, so gut er konnte, und nach dem Haus und den Angestellten geschaut. Nun muss die alte Frau allein zurechtkommen. Sie lebt in Furcht und möchte endlich sterben. Die Polizei rät alten Leuten in der Kolonie, ihre Schlafzimmertür von innen zu verriegeln, wenn sie sich nachts schlafen legen. Doch das kann Frau Chibbers nicht, weil sie Hilfe beim Aufstehen braucht.
„Viele alte Menschen leben in Furcht", sagt die Soziologin Shankardass. „Es gibt Gewalt in den Familien, Streit, aber auch Diebstahl, Misshandlungen." Darüber spricht freilich niemand. „Vermache Deinen Kinder nie Dein Erbe oder Dein Haus, solange Du lebst", rät Prithvi Haldea, ein Finanzberater, der sich auf ältere Kunden spezialisiert hat. „Haus- und Mietpreise sind explodiert. Selbst bescheidene Grundstücke sind jetzt Millionen Wert. Einige Kinder sehen ihre alte Eltern als Hindernis, Profit zu machen." Haldea erzählt von einem Freund in der vornehmen Defence Colony, der mit seinem Sohn und dessen Frau in seinem großen Haus unter einem Dach wohnte. „Zwischen der jungen Braut und den Eltern gab es immerzu Streit. Sie wollte die beiden loswerden. Es gab hässliche Szenen." Schließlich sei es seinem Freund gelungen, das ganze Haus in der teuren Kolonie zu verkaufen, nachdem man den jungen Leuten einen Urlaub in Nepal spendiert und sie so aus der Stadt gelockt hatte. „Die beiden Senioren leben nun zufrieden in einer eigenen Wohnung in einer Vorstadt-Siedlung."
Doch auch wo die Generationen besser miteinander unter einem Dach auskommen, wachsen die Zukunftsängste bei den Alten. Denn viele Familien in Indiens Mittelklasse haben inzwischen nur noch ein oder zwei Kinder; früher waren es zehn oder mehr. Ähnlich wie in Europa lastet die Verantwortung für alte Menschen auf den Schultern von immer weniger jungen Leuten. Das stimmt auch Gauri Chhattwal nachdenklich. Die 65-Jährige lebt mit Ehemann, Sohn, Schwiegertochter und zwei Enkeltöchtern in einer Dreizimmerwohnung. Seit ihre Schwiegermutter gestorben ist, ist sie die Chefin im Haus. Von Schwiegertochter, Sohn und beiden Enkelkindern wird „Dadi", das heißt Großmutter auf Hindi, verehrt. Sie überwacht die Hausaufgaben der Mädchen und kümmert sich um das Haus und den Garten. Sie fährt mit den Kinder in den nahen Sikh-Tempel zum Beten, liest die Zeitung und genießt die Sonne auf der Terrasse. Trotzdem ist sie nicht ganz zufrieden.
„Es wäre schön, wenn ich noch einen Enkelsohn hätte", meint sie versonnen. Traditionell versorgen die Männer in Indien die Familie. Mädchen heiraten und verlassen das Haus ihrer Eltern, um zu den Schwiegereltern zu ziehen. „Meine Schwiegertochter will keine Kinder mehr. Wir in Indien denken aber immer noch, dass ein Sohn später für uns sorgen wird, wenn wir alt sind und Gesundheitsprobleme haben", sagt Gauri Chhattwal. „Die moralische Bindung innerhalb der Familie ist schwächer geworden", erklärt Namrita Nandi, die eine Studie über Alter in Indien für die Vereinten Nationen verfasst. „Heute konzentriert sich alles auf den finanziellen Erfolg. Konsum wird immer wichtiger. Wer nicht mehr zum Geldverdienen beitragen kann, ist wie totes Holz."
Die indische Regierung hat vor zwei Jahren ein Gesetz erlassen, dass Kinder, die sich nicht um ihre Eltern kümmern, mit drei Monaten Haft und einer Geldstrafe von etwa 100 Euro bedroht. Eltern können von ihren Kindern rechtlich Unterhalt verlangen. Doch Streitigkeiten um die Versorgung der Alten ziehen sich wegen den notorisch überlasteten Gerichten des Landes oft über Jahrzehnte hin. Die Organisation HelpAge India glaubt nicht, dass das Gesetz etwas verbessert hat. Monatlich erhält die Stiftung allein in Neu-Delhi 300 Beschwerden von alten Menschen, die sich über schlechte Behandlung durch ihre Kinder beklagen oder verzweifelt sind, weil sie aus ihrem Haus verstoßen wurden. Nicht immer sind die Fälle allerdings so makaber wie ein Vorfall in Hyderabad, der vor einiger Zeit für Schlagzeilen sorgte. Eine gut situierte Familie brachte eine 75-jährige krebskranke Frau noch lebendig ins Krematorium, weil sie nicht mehr für ihre Behandlung aufkommen wollte.
Agnes Tandler ist freie Journalistin in Neu-Delhi.