Von Claudia Roth und Willemijn de Jong
Die Vorstellung ist weit verbreitet, dass die Aufgaben des Sozialstaats und der Sozialversicherungen, wie sie im Norden bestehen, im Süden von Großfamilie und Verwandtschaft erfüllt werden. Studien zu sozialer Sicherheit im Alter in Südindien und Burkina Faso zeigen jedoch, dass die von der Großfamilie gesicherte Altersversorgung ein Mythos ist. Ungeachtet der großen Unterschiede stößt die Altersversorgung seitens der Verwandtschaft in beiden Regionen an Grenzen.
Burkina Faso und Kerala sind zwei verschiedene Welten. Sie unterscheiden sich unter anderem in ihrer Geschichte, der wirtschaftlichen Entwicklung, im Urbanisierungsprozess und im Verständnis von Kaste, Ethnie und Religion. Der westafrikanische Staat Burkina Faso ist ein Agrarland mit geringer Industrialisierung; bis heute leben dort über achtzig Prozent der Bevölkerung von der Subsistenzlandwirtschaft, also von der Landwirtschaft für den Eigenbedarf. Burkina Faso zählt zu den ärmsten Ländern der Welt. Von institutionalisierter Sozialsicherung - formellen staatlichen und privaten Vorsorgeeinrichtungen - profitieren nur rund 3,5 Prozent der Bevölkerung. Auch heute noch ist in Burkina Faso die Verwandtschaft für die soziale Sicherheit im Alter entscheidend, und zwar auf dem Land ebenso wie in der Stadt.
Demgegenüber gleicht der südindische Bundesstaat Kerala in punkto Bildung und Gesundheit fast einer westlichen Industriegesellschaft. Obwohl auch Kerala eine arme Region mit großer Arbeitslosigkeit ist, gibt es dort ein System institutionalisierter sozialer Sicherheit. Das ist eine Folge der sozialen Bewegungen und gewerkschaftlichen Kämpfe der 1950er und 1960er Jahre. Von den staatlichen Sozialhilfeprogrammen für Arme, Witwen und Landarbeiter profitieren heute allerdings höchstens 25 Prozent der Alten in Kerala, und der Betrag von ungefähr zwei US-Dollar Pension pro Monat ist auch für dortige Verhältnisse äußerst klein. Viele Alte profitieren allerdings vom sozialen Wohnungsbau.
Wie ist die Lage alter Leute in Burkina Faso und Kerala? Wir beziehen uns hier auf die Verhältnisse in den Städten und auf die Gruppe der Ärmsten. Den Begriff „soziale Sicherheit" verwenden wir in einem umfassenden Sinn, das heißt, wir betrachten neben den öffentlichen und staatlichen Leistungen die Unterstützung, die in familiären und auch in nachbarschaftlichen Netzwerken geleistet wird.
In Burkina Faso hat - wie in zahlreichen westafrikanischen Gesellschaften - die Altershierarchie große Bedeutung. Traditionell hatten dort die Ältesten auf diese oder jene Art die Kontrolle über die gesellschaftlich wichtigen Güter und damit auch die Macht. Die Altershierarchie ist bis heute bestimmender als die Geschlechterhierarchie, das heißt Frauen gewinnen im Alter an Prestige und Einfluss, an Entscheidungskompetenz und an Autorität über jüngere Frauen und Männer; ihre Stimme hat in Familienfragen oder auch Fragen des Stadtviertels Gewicht. Es ist die Pflicht der Kinder, für die alten Eltern zu sorgen. In patrilinearen Gesellschaften, die entlang der väterlichen Linie organisiert sind, trifft diese Pflicht in erster Linie die ältesten Söhne. Die Generationenbeziehung ist als Schuldbeziehung konzipiert: Die Jungen geben den Alten das zurück, was sie in ihrer Kindheit von ihnen erhalten haben - Sorge und materielle Unterstützung. Die Ältesten - und zwar Frauen wie Männer - haben einen erstaunlich großen Einfluss auf das Leben der Jungen. Denn unter den heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen können die Jungen den Bruch mit der Verwandtschaft kaum wagen, weil es außerhalb davon keine soziale Sicherheit gibt.
Die Position der Alten ist aber nicht gegeben und stabil, sondern abhängig von den Ressourcen, über die sie verfügen. Ihre Mittel sind die Basis ihrer Verhandlungsmacht gegenüber den Jungen. Daher ist der Respekt gegenüber armen oder verarmten alten Frauen und Männern in Frage gestellt und heftig umstritten, sobald es ihnen nicht mehr möglich ist, am Zyklus der Reziprozität teilzunehmen - also am gegenseitigen Geben und Nehmen -, weil sie nichts mehr geben können. Alle Alten arbeiten, solange ihre Kräfte reichen.
Die Generationenbeziehung ist in Burkina Faso die wichtigste soziale Sicherheitsbeziehung. Söhne und Töchter beteiligen sich an der Altersversorgung. Wer sich nicht selbst versorgen kann und nicht von den Kindern versorgt wird, lebt im Alter im Elend. Die hohe Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen und die Sterberate infolge von Aids sind heute allerdings Gründe für einen umgekehrten Generationenvertrag: Alte Frauen und Männer verschaffen ihren erwachsenen Kindern Kost und Logis. Verwitwete Männer und Frauen aus der Schicht der Armen leben gleichermaßen prekär, bleiben doch nur die Kinder als mögliche regelmäßige Unterstützung, und diese leben häufig ebenso in Armut. Verwitwet sind weit mehr Frauen als Männer.
Die zweite wichtige soziale Sicherheitsbeziehung im Alter ist die Ehe. Die Männer sind auf ihre Ehefrauen angewiesen, die für sie kochen und waschen und sie pflegen. Zudem übernehmen viele Ehefrauen den Familienunterhalt, wenn der Ehemann infolge von Altersschwäche, Krankheit oder Arbeitslosigkeit nicht mehr dafür aufkommen kann. Für die Frauen sind die Ehen aus eben diesem Grund eine eher unsichere Bindung geworden: Die Gefahr ist für sie groß, im Verlauf ihres Lebens verlassen zu werden oder allein für die Familie aufkommen zu müssen. Laut der Fallstudie in der Stadt Bobo-Dioulasso sehen Frauen aufgrund der geschlechtlichen Arbeitsteilung und ihrer Rolle als Mutter ihre Sicherheit im Alter bei den Kindern - was auch ihr Handeln prägt. Die Männer suchen ihre soziale Sicherheit in der Ehe. Alte Männer haben aufgrund der Polygamie und weil sie nach dem Tod der Partnerin häufiger neu heiraten, im Alter mehr Chancen als Frauen, in einer Ehe zu leben und von ihrer Ehepartnerin unterstützt zu werden.
Die lokale soziale Sicherheit in Bobo-Dioulasso beruht aber darüber hinaus auch auf einem äußerst vielschichtigen Netz von sozialen Sicherheitsbeziehungen: zu Verwandten, Nachbarinnen, Freunden, Arbeitskolleginnen, Glaubensgenossinnen und Mitgliedern von Vereinigungen aller Art. Die Zahl der sozialen Beziehungen ist dabei proportional zur Menge der materiellen Ressourcen. Solidarität beruht auf Verhältnissen von Gegenseitigkeit, auf dem steten Geben und Nehmen. Reziprozität erfordert aber Mittel. Je weniger Ressourcen eine Person hat, umso kleiner ist ihr Beziehungsnetz innerhalb und außerhalb der Verwandtschaft und umso geringer auch ihre soziale Sicherheit.
Auch in Kerala und in Indien gilt die Vorstellung, dass die Familie und insbesondere der Sohn für die Eltern im Alter zu sorgen habe. Die Pulaya, Mitglieder einer Kaste der Ärmsten, teilen diese Vorstellung. Man erwartet Unterstützung von denjenigen, mit denen man im Haushalt zusammenlebt. Nach den Normen der Pulaya ist das der jüngste Sohn mit seiner Familie. Söhne sollten danach nicht zu spät heiraten, damit sie beruflich und familiär etabliert sind, wenn die Eltern alt werden. Als Gegenleistung für die Altersversorgung bekommt der Sohn als Erbe das elterliche Haus. Wenn von der Familie oder den Kindern die Rede ist, ist damit oft der jüngste Sohn gemeint. Gleichzeitig existieren jedoch Erwartungen hinsichtlich finanzieller und praktischer Hilfe an Töchter, und zwar: „im Fall von Not" und „je nach ihren Möglichkeiten", da sie beim Ehemann lebt und von ihm abhängig ist.
Ältere Männer und Frauen, die physisch stark genug sind und großzügige Arbeitgeber haben, arbeiten auch in Kerala bis über das 80. Lebensjahr hinaus. Sie verdienen aber meist nur halb so viel wie jüngere Männer und Frauen. Damit kommen sie auf einen täglichen Lohn von umgerechnet knapp einem halben US-Dollar - nicht genug zum Leben. Dank Unterstützung vom Staat verfügen jedoch viele Pulaya im Alter zumindest über ein kleines Haus statt bloß über eine Hütte wie früher. Dies trifft vor allem auf die älteren Männer zu und stützt ihre Autorität und Verhandlungsmacht in der Familie. Ersparnisse haben Pulaya in der Regel nicht. Was sie hatten, haben sie in ihre Kinder investiert, nicht zuletzt in die Mitgift ihrer Töchter. Eine Mitgift kostet so viel wie ein Haus für den Sohn, rund 2000 US-Dollar.
Männer und Frauen in Kerala unterstreichen die Bedeutung der Ehe als lebenslanger Partnerschaft, die gegenseitige Hilfe und Liebe beinhaltet. Inwiefern unterstützt eine Frau ihren Ehemann im Alter? Sie hat die Kinder geboren und aufgezogen, die den Ehemann und sie selbst versorgen. Frauen der älteren Generation sind so lange als möglich erwerbstätig, verdienen jedoch weniger als Männer. Zusätzlich leisten sie Hausarbeit, pflegen den kranken Ehemann und betreuen Enkelkinder. Für die Frau ist der Ehemann eine ökonomische Stütze, sie profitiert indirekt auch von seinem meist größeren sozialen Netz, das er insbesondere im Alter pflegt. Außerdem ist die Ehe für sie eine gewisse Garantie dafür, dass der Sohn sie im Alter gut behandelt. Ähnlich wie in Burkina Faso schützt die Frau ihren Ehemann nach außen. Wie in Burkina Faso können Frauen sich jedoch weit weniger auf die Ehe verlassen als Männer, denn sie sind meist jünger als der Mann und überleben ihn in den allermeisten Fällen um mehrere Jahre. Darum ist gerade für Frauen die Beziehung zu den Kindern für die Unterstützung im Alter unerlässlich.
Meist sind die Söhne, die die Hauptversorgung der Eltern übernehmen sollten, finanziell damit überfordert. Auch ein zusätzliches Einkommen der Ehefrau ändert nichts daran. Die Eltern mobilisieren deshalb auch bei den übrigen Söhnen und Töchtern finanzielle Hilfe, vor allem für Extraausgaben wie Medikamente und andere größere Kosten.
Der häusliche Alltag ist stark geschlechtsspezifisch geprägt. Doch obwohl Frauen für das Aufziehen der Kinder und für die Hausarbeit allein verantwortlich sind, führt das nicht dazu, dass ihre Kinder sie im Alter versorgen. Im Gegenteil: Alten Vätern, die mehr Autorität und mehr Eigentum haben, wird tendenziell mehr Hilfe gewährt. Das Eigentum besteht vor allem aus dem Haus, das der Staat mitfinanziert hat. Mehrere Frauen äußerten die Meinung, dass die Kinder besser für die alten Eltern sorgen würden, solange der Vater noch lebe, weil er Autorität und Respekt in der Familie genieße.
In Kerala hat sich gezeigt, dass für die Sicherheit im Alter auch die Nachbarschaftsbeziehungen eine wichtige Rolle spielen. Das überrascht, weil Nachbarn weder in den Vorstellungen der Leute zu Alter und Altern noch in der einschlägigen Literatur erwähnt werden. Bedeutend sind Nachbarn insbesondere für Witwen mit wenigen Kindern. In Zeiten, in denen Geld und Nahrung im Haushalt fehlen, kann man die Nachbarinnen um Essen und kleine Geldbeträge bitten. Für größere Beiträge, etwa für die Heirat der Töchter oder für eine Spitalbehandlung, kann man auch beim Arbeitgeber anklopfen. Die Beziehungen zu Nachbarn und früheren Arbeitgebern nehmen zum Teil verwandtschaftliche Züge an und werden auch mit solchen verglichen. Das soll der Begriff der „erweiterten Nachbarschaft" (extended neighbourhood) in Anlehnung an den Begriff der erweiterten Familie (extended family) zum Ausdruck bringen. Die erweiterte Nachbarschaft ist ein wichtiges Netzwerk für Hilfe in Notfällen, wenn also Familienbeziehungen versagen oder nicht genügen. Aber wie in Burkina Faso erhält man von den Nachbarn nur Unterstützung, wenn man über längere Zeit eine Beziehung des gegenseitigen Austauschs mit ihnen gepflegt hat und ihnen ebenfalls aushilft. Das erfordert ein Minimum an eigenen Mitteln.
Die Mehrheit der alten Pulaya lebt heute, weil sie ein vom Staat subventioniertes Haus besitzen und dadurch ihr soziales Netzwerk gestärkt ist, in einer Situation fragiler Sicherheit. Es gibt aber eine Minderheit von Frauen (Witwen, Geschiedene und Frauen ohne Kinder), die in Unsicherheit leben. Sie erhalten von ihren Verwandten zu wenig zum Leben, und sie können sich auch nicht mehr an den Nachbarschafts-Netzwerken beteiligen. Das einzige Kapital, das sie noch haben, um zu überleben, ist ihre Freundlichkeit. Zum Teil versuchen sie mit Betteln in anderen Stadtteilen durchzukommen. Sie gehören zu den Ärmsten der Armen.
Bei allen Unterschieden zwischen Burkina Faso und Kerala gibt es zwei zentrale Gemeinsamkeiten: Die Großfamilie ist ein Mythos und alte Frauen sind benachteiligt. In Kerala beruht die soziale Sicherheit der Ärmsten auf der erweiterten Nachbarschaft inklusive der Familie. Und in Burkina Faso hat sich gezeigt, dass verwandtschaftliche und nicht verwandtschaftliche Beziehungen sich entsprechen: Wer viele Verwandtschaftsbeziehungen hat, hat auch viele weitere soziale Beziehungen. Wer sehr arm ist, hat keine Verwandten mehr, da er von ihnen gemieden wird.
Der Grund der Gemeinsamkeit ist: In beiden Ländern sind die Familie, die Verwandtschaft nicht einfach da, sondern diese Beziehungen müssen unterhalten, gepflegt und gestaltet werden. Ohne Ressourcen geht das nicht. Die Gegenseitigkeit kann ohne Gaben nicht eingehalten werden. Alte Frauen und Männer ohne Mittel haben keine Verhandlungsmacht, daher werden sie auch nicht respektiert. In Kerala sind wichtige Ressourcen der Alten ein Stück Land mit einem Haus. Die Altersrenten sind klein und haben daher eher symbolischen Wert. In Burkina Faso verschaffen der Familienhof, dem die Ältesten vorstehen, sowie ihr Einkommen Respekt. Auch in westlichen Industrieländern sind im Übrigen eigene Ressourcen die Basis der Verhandlungsmacht von alten Frauen und Männern. Altersrenten machen sie unabhängig von den eigenen Kindern, und die eigenen Ersparnisse sind wichtiger Bestandteil der Autonomie.
Frauen sind im Alter in Kerala wie in Burkina Faso in einer schlechteren Situation als Männer. Ihre Benachteiligung ist keine kulturelle Frage, sondern eine Machtfrage: Frauen sind in beiden Gesellschaften benachteiligt in Bezug auf den Zugang zu Ressourcen und sozialen Positionen. Sie können weniger Autorität, Besitz und Respekt ansammeln als Männer. Diese Benachteiligung summiert sich im Verlaufe des Lebens und mündet in deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen im Alter.
Literatur zum Thema Willemijn de Jong, Claudia Roth, Fatoumata Badini-Kinda und Seema Bhagyanath: Ageing in Insecurity. Vieillir dans l'insécurité. Case Studies on Social Security and Gender in India and Burkina Faso. Sécurité sociale et genre en Inde et au Burkina Faso. Études de cas. Lit Verlag, Münster 2005.
Willemijn de Jong ist Professorin für Ethnologie an der Universität Zürich und war Leiterin des Nord-Süd-Forschungsprojektes „Local Social Security and Gender in India and Burkina Faso" (2000-2003). Sie forscht zu Indonesien und Indien.
Claudia Roth lehrt Ethnologie an der Universität Luzern und war Co-Leiterin im Nationalfondsprojekt „Belastete Generationenbeziehungen im interkulturellen Vergleich (Europa-Afrika)". Sie forscht seit 20 Jahren in Burkina Faso.