Wo Islamisten für Rechte von Sozialisten streiten

Von Iris Glosemeyer

Im Jemen haben sich Islamisten und Sozialisten nach jahrzehntelanger Feindschaft zur parlamentarischen Opposition zusammengefunden. Auch bei den Menschenrechtsorganisationen im Land sind ungewöhnliche Konstellationen zu beobachten: Die islamistische Organisation HOOD greift Verstöße gegen die Informations- und Pressefreiheit auf – auch wenn Journalisten aus dem sozialistischen Lager betroffen sind.

Aus europäischer Sicht ungewöhnliche innen- und außenpolitische Allianzen sind im Jemen weder überraschend noch selten. In den 1960er Jahren waren auf dem Territorium der heutigen Republik Jemen zwei Republiken entstanden, die sich jeweils unter der Herrschaft einer einzelnen Partei weitgehend unabhängig voneinander entwickelten. Jahrzehntelang unterstützte die saudische Regierung den Nordjemen (Arabische Republik Jemen), um dem vom Ostblock und dem Südjemen (Demokratische Republik Jemen) forcierten Vordringen des Sozialismus auf der arabischen Halbinsel zu begegnen.

1990, nach mehreren bewaffneten Konflikten und jahrzehntelangen Verhandlungen, verkündeten die beiden jemenitischen Regierungen überraschend die Vereinigung der beiden ehemals verfeindeten Staaten. Saudi-Arabien reagierte zurückhaltend und beobachtete die der Vereinigung folgende Phase der politischen Öffnung besorgt. Dutzende neuer Parteien entstanden, darunter auch mehrere islamistische. Aus den ersten Parlamentswahlen 1993 ging eine Koalition aus den früheren Einheitsparteien, dem nordjemenitischen Allgemeinen Volkskongress (AVK) und der Jemenitischen Sozialistischen Partei (JSP) des Südjemen, sowie der größten islamistisch-konservativen Partei, der Reform-Partei (Jemenitische Versammlung für Reform), hervor.

Die südjemenitische Führung sah sich jedoch schon bald von einem völligen Machtverlust bedroht. Deshalb versuchte sie 1994, die Vereinigung rückgängig zu machen. Der Sezessionsversuch führte zu einem Krieg, in dem Saudi-Arabien allerdings nun den Südjemen unterstützte, weil eine Spaltung der Republik seinen  Interessen entgegenkam. Nach den zweiten Parlamentswahlen 1997 wurde auch die Reform-Partei von der Regierung ausgeschlossen und seither regiert der Allgemeine Volkskongress allein. Bei alldem waren die von der nordjemenitischen Regierung geduldeten, von der saudischen Regierung unterstützten und von der südjemenitischen sozialistischen Führung gefürchteten jemenitischen Islamisten eine verlässliche Konstante.

Seit ein paar Jahren ist das nicht mehr unbedingt der Fall: Anwälte einer Menschenrechtsorganisation, die gleichzeitig der Reform-Partei angehören, verteidigen Journalisten der Parteizeitung der Jemenitischen Sozialistischen Partei (JSP) und anderer nicht islamistischer Zeitungen vor Gericht. Reform-Partei und JSP nominierten 2006 sogar einen gemeinsamen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen. Was ist passiert? Haben die jahrzehntelang verfeindeten Gruppen alle ideologischen Bedenken und Feindbilder über Bord geworfen? Und was versteht eine islamistische Menschenrechtsorganisation eigentlich unter Menschenrechten?

Südjemenitische Islamisten erinnern sich gut, welchen Verfolgungen seitens der Sozialisten sie vor der Vereinigung des Landes ausgesetzt waren. Auch kurz danach, zu Beginn der 1990er Jahre, kam es zu Gewalt zwischen beiden Seiten. Dieses Mal waren allerdings Mitglieder der JSP das Ziel. Laut ihren Angaben sind bereits vor dem Separationskrieg 150 Sozialisten von militanten Islamisten ermordet worden. Letztere werden sowohl dem Umfeld der größten islamistisch-konservativen Partei, der Reform-Partei, als auch dem Allgemeinen Volkskongress (der Partei des Präsidenten) zugerechnet.

Der Separationskrieg 1994 wurde zwar im wesentlichen von den Armeen der beiden ehemaligen Staatsführungen ausgetragen, aber auch tribale und islamistische Milizen unterstützten die nordjemenitische Regierung. Mit der Niederlage der südjemenitischen Führung in diesem Krieg schien das Schicksal der JSP besiegelt. Ihre Führung floh aus Aden, der früheren Hauptstadt des Südjemen, ins Ausland und viele Parteibüros wurden – ebenso wie Behörden und private Haushalte – von den Siegern geplündert. Die nordjemenitische Führung, bestehend aus dem Volkskongress und der Reform-Partei, konfiszierte das Eigentum der JSP. Überraschenderweise verbot sie die Partei jedoch nicht, vermutlich um das mühsam erarbeitete demokratische Image der jungen Republik nicht völlig zu demontieren. Für Präsident Ali Abdallah Saleh – ein Militäroffizier, der seit 1978 an der Spitze des Nordjemen stand und nach der Vereinigung Präsident des Jemen wurde – dürfte aber noch ein anderer Faktor eine Rolle gespielt haben: Seit Jahrzehnten hatte er seine Position gefestigt, indem er linke und islamistische Kräfte gegeneinander ausspielte.

Dieser kurze historische Abriss zeigt, dass das Verhältnis von Sozialisten und Islamisten in der Republik Jemen bis vor kurzem von Gewalt und ideologischen Differenzen geprägt war. Verstärkt wurde dies durch die Zugehörigkeit der beiden Vorgängerstaaten zu unterschiedlichen Lagern während des Kalten Krieges und durch die daraus resultierende Instrumentalisierung von Religion für machtpolitische Zwecke. Nun aber vertreten Anwälte der Menschenrechtsorganisation HOOD, die der islamistisch-konservativen Reform-Partei angehören, Mitglieder der Jemenitischen Sozialistischen Partei vor Gericht. Dass die JSP und die Reform-Partei 2006 sogar einen gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen nominierten, war der vorläufige Höhepunkt eines langen politischen Prozesses innerhalb der jemenitischen Opposition, der über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren und – wenig überraschend – nicht ohne Rückschläge verlaufen war. Tatsächlich gibt es Gemeinsamkeiten und gemeinsame Interessen. Ganz entscheidend ist, dass sich viele Islamisten seit der Niederlage der Sozialisten nicht mehr von ihrem früheren Erzfeind und dessen Gesellschaftsmodell bedroht fühlen – die JSP ist politisch viel zu schwach. Im Gegenteil, eine Allianz mit ihr eignet sich neuerdings vorzüglich, um das Image der Reform-Partei zumindest im Ausland aufzubessern, wo Islamisten jeglicher Schattierung schnell mit militanten Extremisten gleichgesetzt werden. Zudem sehen sich Mitglieder beider Parteien von Staatspräsident Ali Abdallah um ihren Anteil an der Macht betrogen – die JSP schon unmittelbar nach der Vereinigung, die Reform-Partei seit Mitte der 1990er, als klar wurde, dass ihr zwar politische Ämter, aber keine Macht zugestanden würden. Beide sind von dem Netzwerk ausgeschlossen, über das der Präsident Ämter und Belohnungen vergibt. Daher sehen sie einen Vorteil im Aufbau eines Staates, in dem Institutionen und nicht Personen die tragende Rolle spielen. Und nicht zuletzt fürchten sich inzwischen Mitglieder beider Parteien vor den militanten Extremisten, die im Namen des Islam Terroranschläge und politische Morde verüben.

Nicht alle Mitglieder der beiden Parteien stehen der Allianz wohlwollend gegenüber, aber insbesondere die gemäßigten Kräfte der Reform-Partei setzen auf die Zusammenarbeit mit der JSP und etlichen kleineren Parteien. Ende der 1990er Jahre wurde der Verbund formalisiert. Er firmiert heute unter dem Namen „Joint Meeting Parties“ (JMP) und umfasst derzeit insgesamt fünf Oppositionsparteien. Die Annährung zwischen den politischen Parteien schlug sich auch im Verhältnis der nichtstaatlichen Organisationen (NGO) nieder, besonders im Bereich der Menschenrechte. Für NGOs ließ mit der Gründung des JMP der Druck nach, sich gegen Organisationen profilieren zu müssen, die anderen politischen Parteien nahe stehen. Dies erleichtert den Menschenrechtsaktivisten die Konzentration auf ihre eigentliche Arbeit: die Aufklärung der Bürger über ihre Rechte, das Anprangern von Menschenrechtsverletzungen oder die Unterstützung von Bürgern, deren Rechte verletzt wurden.

Nicht alle jemenitischen Menschenrechtsorganisationen – über hundert sind registriert, aber nur etwa ein Dutzend ist aktiv – stehen politischen Parteien nahe. In einigen Fällen ist allerdings eine deutliche personelle Überschneidung zu erkennen. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die eingangs erwähnte Organisation HOOD (im arabischen Original: Nationale Organisation zur Verteidigung von Rechten und Freiheiten). Sie wurde 1998 von Rechtsanwälten gegründet und ist seit 2004 von den Behörden anerkannt. Ihre führenden Mitglieder, Generalsekretär Muhammad Naji Alau und Geschäftsführer Khalid Al-Anisi, sind gleichzeitig prominente Mitglieder der Reform-Partei. Am arabischen Namen der Organisation fällt auf, dass sie sich jeder Diskussion über das Verhältnis der islamischen Rechtsordnung Scharia zu den Menschenrechten zu entziehen sucht, indem sie sich schlicht auf „Rechte und Freiheiten“ bezieht. Nur auf dem englischen Teil der Internetseite findet sich im Namen ein deutlicher Bezug auf „die Menschenrechte“.

HOOD hat sich im Verlauf des vergangenen Jahrzehntes zur „lautesten“ Menschenrechtsorganisation des Landes entwickelt. Mitarbeiter anderer Organisationen merken gelegentlich etwas spöttisch an, dass, sobald die öffentliche Aufmerksamkeit nachlasse, auch HOODs Engagement in den betreffenden Fällen deutlich schwinde. Diese Kritik sollte allerdings nicht zu dem Schluss verleiten, dass die Menschenrechtsaktivisten in „islamistische“ und „nicht-islamistische“ gespalten sind. Im Gegenteil sind seit einigen Jahren konzertierte Aktionen die Regel. Das liegt nicht zuletzt daran, dass HOOD-Anwälte bei der Auswahl der Fälle, die sie vor Gericht vertreten, keine religiösen, sondern politische Auswahlkriterien zugrunde legen.

Besonders Fälle, die Behörden in schlechtem Licht erscheinen lassen, sind bei HOOD beliebt. So vertraten HOOD-Anwälte zum Beispiel die Familie des im Dezember 2002 ermordeten stellvertretenden Generalsekretärs der JSP, um eine weitergehende Untersuchung des Mordes und seiner Hintergründe zu erreichen, als die Behörden unternehmen wollten. Während des „Karikaturenstreits“ 2006 verurteilte HOOD die Publikation der dänischen Karikaturen, die unter Muslimen als Verunglimpfung des Propheten Muhammad verstanden wurden, verteidigte aber jemenitische Publizisten, die einige Karikaturen (mit Balken und kritischen Kommentaren versehen) nachgedruckt hatten. Das Informationsministerium hatte drei Zeitungen die Lizenz entzogen und deren Redakteure verhaftet. Die HOOD-Anwälte begründeten ihren Einsatz für die Journalisten mit dem Recht auf Informationsfreiheit: Die Öffentlichkeit könne sich keine Meinung bilden, wenn ihr die Karikaturen vorenthalten würden. Außerdem hätten sich die jemenitischen Zeitungen, die die Karikaturen nachgedruckt hatten, klar von deren Inhalt distanziert.

Andere Themen, die HOOD regelmäßig aufgreift, sind Menschenrechtsverletzungen in den palästinensischen Autonomiegebieten und im Irak, die Bedingungen, unter denen die etwa 100 jemenitischen Gefangenen auf Guantanamo leben müssen, oder das Verfahren gegen zwei Jemeniten, die 2003 unter dubiosen Umständen vom US-amerikanischen FBI von Sanaa nach Frankfurt gelockt, vom Bundeskriminalamt verhaftet und dann an die USA ausgeliefert worden sind. Die Organisation konzentriert sich aber nicht nur auf das Ausland. Sie hat auch gegen Verhaftungen infolge des langjährigen Konflikts zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften in der nördlichen Provinz Sa’da protestiert.

Bei dieser breiten Palette drängt sich die Frage auf, womit sich HOOD eigentlich nicht beschäftigt. Eine gewisse Zurückhaltung wäre zu erwarten, wenn es um die Rechte von Frauen und religiösen Minderheiten geht. Aber auch das haben die HOOD-Aktivisten zu ihrem Anliegen erklärt. Im Jemen spielen religiöse Minderheiten allerdings kaum eine Rolle: Die Bevölkerung ist fast ausschließlich muslimisch, es überwiegen schafiitische Sunniten und zaiditische Schiiten. Die politische Beteiligung von Frauen ist hingegen unter jemenitischen Islamisten und Konservativen höchst umstritten und wird nicht nur innerhalb der Reform-Partei mit äußerster Vorsicht gehandhabt. Unter den 301 Abgeordneten des Parlaments, in dem der Allgemeine Volkskongress die absolute Mehrheit hat, befindet sich gerade einmal eine Frau – im Parteirat der Reformpartei stellen dagegen neuerdings Frauen zehn Prozent der Mitglieder, was auf den wachsenden Einfluss der moderaten Kräfte hinweist. Als einer der bekanntesten radikalen Islamisten – und Funktionär der Reform-Partei – im Juli 2008 eine Kampagne gegen die geplante Quotenregelung für Frauen im Parlament startete, reagierte HOOD nicht. Allerdings waren auch NGOs, die sich explizit für Frauen einsetzen, der Meinung, dieser Art der Polemik solle nicht allzu viel Aufmerksamkeit zuteil werden.

Die Mitarbeiter von HOOD unterstützen keine Initiativen, die die Rechte von Frauen einschränken wollen. Sie arbeiten vielmehr eng mit anderen Menschenrechtsorganisationen zusammen, in denen Frauen eine herausragende Rolle spielen. Als eine besonders streitbare Aktivistin für Pressefreiheit, die selbst Funktionärin der Reform-Partei ist, telefonisch bedroht wurde, forderte HOOD öffentlich Personenschutz für sie. An Treffen und Trainings der Organisation nehmen nicht nur Männer, sondern auch Frauen teil; und dass HOOD inzwischen von US-amerikanischen und dänischen Organisationen unterstützt wird, kann da kaum noch überraschen.

Wie am Beispiel von HOOD deutlich wird, hat der Begriff „islamistisch“ relativ wenig Aussagekraft. Besonders im Jemen, aber auch in anderen arabischen Staaten, lohnt sich ein genauerer Blick, welche Politik- und Wertvorstellungen die verschiedenen islamistischen Richtungen vertreten. Ein wachsender Teil der Islamisten ist – anders als nach westlichen Klischeevorstellungen – im Jemen ein wichtiger Teil der modernen Zivilgesellschaft und konkurriert mit gewaltbereiten Islamisten und solchen, die ein ultrakonservatives Gesellschaftsmodell vertreten. Bei genauerer Betrachtung sind aus europäischer Sicht ungewöhnlich wirkende Allianzen also nicht mehr ganz so überraschend.

Iris Glosemeyer beschäftigt sich seit Anfang der 1990er Jahre mit der Republik Jemen und lebt zur Zeit als freiberufliche Wissenschaftlerin in Köln.

 

 

erschienen in Ausgabe 2 / 2009: Migration: Zum Schuften in die Fremde

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