Infolge der Finanzkrise erhalten arme Länder weniger privates Kapital. Zugleich sind sie, um die Wirtschaftskrise zu dämpfen, auf mehr Mittel angewiesen. Obwohl auch die Staatshaushalte im Norden hoch belastet sind, will Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul an der zugesagten Steigerung der Entwicklungshilfe festhalten und setzt dabei auf Erlöse aus dem Emissionshandel. „Neue“ Geber wie Indien, China und die arabischen Länder will sie für eine stärkere Zusammenarbeit zugunsten der Entwicklungsländer gewinnen.
Ist die versprochene Anhebung der Entwicklungshilfe angesichts der Finanzkrise noch realistisch?
Sie ist jedenfalls mehr als dringend. Angesichts der Summen, die zur Stützung des Finanzsystems eingesetzt werden, geht es um vergleichsweise geringe Beträge. Die Industrieländer verfolgen in der Krise eine antizyklische Politik: Sie erhöhen öffentliche Ausgaben oder senken Steuern, um den Rückgang der Nachfrage bei Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen abzufedern. Die Entwicklungsländer können es zu Recht schwer verstehen, dass sie dagegen von internationalen Finanzinstitutionen auf ein prozyklisches Verhalten festgelegt werden, bei dem der Staat in der Krise spart und sie damit vertieft. Das muss verhindert werden – einmal durch Steigerung der Entwicklungshilfe, aber auch durch Einflussnahme auf die internationalen Finanzinstitutionen.
Der Internationale Währungsfonds soll den Entwicklungsländern zusätzlich Geld für die Abfederung der Krise zur Verfügung stellen?
Bei der Weltbank sind alle Fonds so umgestaltet worden, dass für Schwellenländer und für die ärmsten Länder solche Mittel zur Verfügung stehen. Im Stabilitätspakt, den die Bundesregierung am 12. Januar beschlossen hat, sind zusätzlich zum Etat des Entwicklungsministeriums 100 Millionen Euro für einen Infrastrukturfonds der Weltbank vorgesehen.
Wenn die Entwicklungshilfe steigen soll, muss aber mehr frisches Geld im Entwicklungshaushalt eingestellt werden, nachdem in den vergangenen Jahren Schuldenerlasse wesentlich zum Anstieg der Hilfe beigetragen haben.
Bei manchen Gebern mag das sein, aber in Deutschland haben wir dem Auslaufen der großen Schuldenerlasse 2008 Rechnung getragen und den Haushalt unseres Ministeriums um rund 1,3 Milliarden Euro in den Jahren 2008 und 2009 erhöht. In den vergangenen beiden Jahren hatten wir hier deutliche Steigerungen.
Aber genügt das? Setzen Sie auf neue Instrumente, um Geld für Entwicklungsfinanzierung aufzubringen, und auf welche?
Das wichtigste Instrument ist die Nutzung der Einnahmen aus dem Emissionshandel. Das haben wir im Haushalt 2008 schon eingesetzt und tun es auch in diesem Jahr. Wenn, wie von der Europäischen Union beschlossen, ein höherer Anteil der Emissionszertifikate versteigert wird, dann werden die Einnahmen daraus steigen. Das Geld wird dringend gebraucht für den internationalen Klimaschutz, für den Ausbau des Zugangs zu Energie im Süden und für die Anpassung an Auswirkungen des Klimawandels. Hinzu kommt, dass wir Steuervermeidung wirksamer bekämpfen müssen. Eine Abgabe auf Flugbenzin durchzusetzen, um die Entwicklungshilfe zu finanzieren, halte ich dagegen für einen unverhältnismäßig hohen Aufwand. Frankreich nimmt daraus etwa 200 Millionen Euro pro Jahr ein. Wir brauchen aber sehr viel höhere Summen.
In den Verhandlungen über ein Kyoto-Nachfolgeabkommen werden Schwellen- und Entwicklungsländer nur eigene Klimaschutzmaßnahmen zusagen, wenn sie aus den Industrieländern Geld dafür bekommen. Sind dafür nicht hohe Summen noch zusätzlich zur Entwicklungshilfe nötig?
Das ist eine eher abstrakte Diskussion. Es ist schwierig, zwischen Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel einerseits und Entwicklungsförderung andererseits zu unterscheiden. Angesichts der Folgen der Finanzkrise müssen wir einfach so viele Mittel mobilisieren wie irgend möglich.
Besteht die Gefahr, dass bereits entschuldete Länder mit der Finanzkrise wieder in eine Schuldenfalle geraten?
Natürlich, wenn die Länder weniger aus Exporten einnehmen – zumal wenn sie trotzdem die Millenniumsentwicklungsziele erreichen sollen. Deshalb müssen die Industrieländer den Entwicklungsländern durch umfangreiche Finanzierung von Investitionen helfen. Als Mitglied der Stiglitz-Kommission, die der Präsident der Generalversammlung der Vereinten Nationen eingerichtet hat, setze ich mich darüber hinaus für die Entwicklung eines formalisierten Insolvenzverfahrens für Staaten ein, das alle Gläubiger einbezieht. Vor einigen Jahren hat der IWF einen entsprechenden Vorschlag gemacht, der aufgrund von Widerstand aus den USA nicht verwirklicht wurde. Jetzt gibt es neue Hoffnung, so etwas zu erreichen.
Wird die Absicht der Europäischen Union (EU), Exportsubventionen für Milchprodukte wieder einzuführen, nicht die Lage in den Entwicklungsländern eher verschlechtern?
Das ist völlig unverständlich, denn die EU hatte in der Welthandelsrunde zugesagt, die Exportsubventionen bis zum Jahr 2013 auslaufen zu lassen. Exportsubventionen zerstören die Märkte in den Entwicklungsländern und gefährden damit die Existenz vieler Kleinbauern. Die Entscheidung steht im krassen Gegensatz zu den Erkenntnissen der Weltgemeinschaft aus der Nahrungsmittelkrise.
Bietet die Finanzkrise eine Chance zu Strukturreformen – etwa Steuerflucht zu bekämpfen und gegen Offshore-Finanzzentren vorzugehen?
Ich hoffe das sehr. Infolge von Steuerflucht verlieren Entwicklungsländer schätzungsweise 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr, das ist weit mehr als die offizielle Entwicklungshilfe. Den Industrieländern geht es ebenso, es gibt ein gemeinsames Interesse an Reformen. Wir planen eine internationale Initiative für mehr Kooperation zur Bekämpfung von Steuerflucht, an der sich auch Unternehmen und Organisationen der Zivilgesellschaft beteiligen können, den International Tax Compact. Er ist in Doha bei der Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung auf großes Interesse gestoßen. Zudem muss die Gelegenheit genutzt werden, Steueroasen den Garaus zu machen. Sie laden zu riskanten Finanzgeschäften ein, die die Gesamtwirtschaft schädigen, wie wir gesehen haben.
Woran ist das bisher gescheitert?
Dass die Staaten, die von Steueroasen profitieren, sich gegen Reformen wehren. Aber jetzt sind die Chancen besser. Allerdings haben wir auch in Doha dafür kämpfen müssen, die Verhinderung von Steuervermeidung in die Abschlusserklärung aufzunehmen.
Sollte der Aufbau effektiver Steuersysteme und Finanzverwaltungen in Entwicklungsländern verstärkt unterstützt werden?
Das zählt für das BMZ zur verantwortlichen Regierungsführung, die wir fördern. In vielen Entwicklungsländern vertreten Bürgerinnen und Bürger inzwischen die Ansicht, dass ihre Regierung ihre Interessen besser wahrnimmt, wenn sie Steuern zahlen. Sie verstehen Steuern als Teil von Demokratisierung. Ein Aktivist des Tax Justice Network gab in Doha die Parole aus: Pay your tax and set your country free.
Von Bürgern, die besteuert werden wollen, wäre Ihr Kollege Peer Steinbrück begeistert.
Absolut.
Eine oft geäußerte Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit lautet, mehr Geld genüge nicht – man müsse auch ihre Strukturen ändern, um mehr Wirkung zu erreichen. Wie kommen die Arbeitsteilung und die Abstimmung der Geber voran?
Es geht um Quantität und Qualität. In der Europäischen Union haben wir die Geberkoordination verbessert. Wir beschreiten im wesentlichen drei Wege. Zum einen reduzieren die Geber die Zahl der Sektoren, in denen sie tätig sind. Das stößt allerdings auch auf Kritik. Darüber hinaus verfolgen wir die „Lead“-Strategie: ein Geber koordiniert die Hilfe, so dass das Empfängerland nur einen Gesprächspartner hat und nicht mit der Koordination belastet wird. Drittens setzen wir auf Delegation. In der Energiepolitik arbeiten wir etwa mit den Niederlanden zusammen. Sie stellen uns Mittel zur Verfügung, wir verwirklichen die Programme in enger Abstimmung mit ihnen. Das Vertrauen zwischen den Gebern ist gewachsen.
Klemmt es in dem Prozess nicht immer, wenn Geber die Zahl der Partnerländer verringern sollen?
Das ist auch schwierig. Wir haben unsere Liste schrittweise von 119 Partnerländern in den 1990er Jahren auf heute rund 60 und regionale Partnerschaften reduziert. Schweden und die Niederlande haben die Zahl ihrer Partnerländer ebenfalls verringert. In der Europäischen Union hat die Kommission Vorschläge gemacht, wie die bessere Arbeitsteilung aussehen kann. Das versuchen wir nun, gemeinsam umzusetzen.
Wie läuft die Abstimmung mit „neuen Gebern“ wie Indien und China?
Da brauchen wir gemeinsame Standards für die Zusammenarbeit mit armen Ländern. Allerdings lehnt infolge der Finanzkrise eine ganze Reihe von Entwicklungsländern die Konditionen ab, zu denen wir unsere Hilfe vergeben. Wir müssen versuchen, eine Balance zu finden. Gemeinsame Standards müssen sein, das ist keine Bevormundung. Es gibt übrigens Dreiecks-Kooperationen, wir streben etwa eine Zusammenarbeit mit Indien bei der Entwicklungshilfe für Afrika an. Deutschland, Brasilien und Länder aus Mittelamerika kooperieren bei Umweltpolitik und Aids-Bekämpfung. Außerdem haben wir Vereinbarungen mit arabischen Fonds und dem Emirat Katar getroffen. Sie haben Finanzmittel für Investitionen in die Landwirtschaft in Entwicklungsländern, um künftige Ernährungskatastrophen zu verhindern, und sind an unserer Beratung interessiert.
Katar hat einen Fonds, der Entwicklungshilfe leistet?
Katar hat sogar einen neuen Minister, der im Außenministerium angesiedelt und ausschließlich für internationale Zusammenarbeit zuständig ist.
In Deutschland wird das Nebeneinander mehrerer Durchführungsorganisationen kritisiert; die OECD hat empfohlen, die Trennung von Technischer und Finanzieller Zusammenarbeit aufzuheben. Erwarten Sie, dass sich hier in dieser Legislaturperiode noch etwas bewegt?
Ja, das erwarte ich.
Menschenrechte und friedliche Konfliktbearbeitung sind wichtige Ziele des BMZ. Nun hat ein UN-Bericht Ruanda vorgeworfen, die Rebellion im Ostkongo zu unterstützen. Schweden und die Niederlande haben ihre Budgethilfe gestoppt. Wie wird sich Deutschland verhalten?
Ich habe mir diesen Bericht genau angeschaut. Es gibt darin keine harten Belege, nur Vermutungen. Die muss man natürlich weiter verfolgen. Ich bin aber dagegen, reflexartig als erstes die Entwicklungszusammenarbeit zu stoppen. Man darf ein Land nicht nach nur einem Aspekt bewerten. Ruanda ist etwa bei der Umsetzung der Millenniumsziele beispielhaft. Außerdem halte ich es für wichtig, den Fuß auf dem Boden zu behalten. Wer sich aus Ländern herauszieht, kann die Folgen etwa in Somalia oder früher in Afghanistan beobachten.
In Äthiopien hat die Regierung ein Gesetz verabschiedet, das die Arbeit von ausländischen nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) stark einschränkt. Wie geht das BMZ damit um?
Wir haben zusammen mit anderen Gebern mehrfach versucht, das Gesetz zu verhindern. Aber die äthiopische Regierung hat sich über dieses Drängen hinweggesetzt. Solche Gesetze sind nicht akzeptabel, denn sie behindern gerade die Eigenverantwortung der Äthiopier. Allerdings gibt es unter NGOs sehr unterschiedliche Einschätzungen über die Folgen des Gesetzes. Die Welthungerhilfe etwa geht davon aus, dass sie ihre Arbeit ungehindert fortsetzen kann. Wir haben aber unsere allgemeine Budgethilfe an Äthiopien bereits nach den Unruhen von 2005 eingestellt. Korbfinanzierung leisten wir dort nur noch für soziale Grunddienste wie Gesundheit, Bildung und Wasser, das werden wir fortführen.
Sie stehen seit zehn Jahren an der Spitze des BMZ und haben Globale Strukturpolitik zum Ziel erhoben. Hat sich das Ministerium damit übernommen? Oder wo sehen Sie Fortschritte?
Globale Strukturpolitik geht nur gemeinsam mit vielen Partnern. Ich nehme für mich in Anspruch, dass ich mitgeholfen habe, die Weltbank vor der Bedeutungslosigkeit zu retten. Wenn Paul Wolfowitz ihr Chef geblieben wäre, hätte kein Finanzminister noch einen Dollar für Kredite der Weltbank-Tochter International Development Agency, die an die ärmsten Länder gehen, zur Verfügung gestellt. Es ist uns gelungen, die Weltbank auf Armutsbekämpfung, Klimaschutz und die Förderung erneuerbarer Energien umzuorientieren. Uns geht es auch um die Frage der ökologischen Gestaltung. Wir bringen den Ausbau von Erneuerbaren Energien und Energieeffizienz voran. Wir haben auch dazu beigetragen, internationale Organisationen zu stärken und soziale Regeln in der Globalisierung einzuführen. Noch in Doha bin ich mit meiner Forderung nach einem UN-Sicherheitsrat für wirtschaftliche und soziale Fragen auf Skepsis gestoßen. Die SPD hatte diesen Punkt schon 2007 in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen. Nun hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Forderung unterstützt. Wir müssen schrittweise eine kohärente Struktur auf oberer politischer Ebene hinbekommen, in die die UN, die internationalen Finanzinstitutionen und die Welthandelsorganisation eingebunden sind. Das ist die Aufgabe im 21. Jahrhundert.
Das Gespräch führten Bernd Ludermann und Gesine Wolfinger.
Heidemarie Wieczorek-Zeul ist seit 1998 Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die Politikerin aus Hessen ist auch stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD und gehört seit 1987 dem Bundestag an.