Neue Wege in der Altenpflege

China
Wer in China an Demenz leidet, ist auf die Hilfe von Töchtern und Söhnen angewiesen. Und die sind manchmal erfinderisch.

Die Hand ihrer Mutter hält Zhang Jian fest im Griff, als sie beginnt, über Demenz zu sprechen. Bei grünem Tee, Mandarinen und Keksen wird in einem Veranstaltungszentrum in Schanghai das chinesische Neujahr gefeiert, während man Zhang lauscht, die ruhig beschreibt, wie sich ihre nunmehr 81-jährige Mutter langsam veränderte.

Früher bestimmte Routine den Alltag der ehemaligen Militärärztin. Im öffentlichen Park begann sie ihren Tag stets mit Tai-Chi-Übungen – traditionelles „Schattenboxen“, um Geist und Körper fit zu halten. Abends legte sie sich Gurken aufs Gesicht, um Falten vorzubeugen. Nur hielten die Gurken die Falten genausowenig auf wie Tai-Chi die Demenz. Immer öfter ertappt Zhang jetzt ihre Mutter dabei, nur in die Leere zu starren, und wenn sie fragt, was sie gerade mache, beginnen ihre Mundwinkel nervös zu zittern.

Seit vor einem Jahr Demenz festgestellt wurde, besuchen Zhang und ihre Mutter Veranstaltungen der Organisation Jinmei, eine der wenigen Anlaufstellen für Angehörige von Demenzkranken in Schanghai mit seinen 20 Millionen Einwohnern. Sie finanziert sich aus Spenden – meist von Konzernen und wohlhabenderen Chinesen, die selbst Erfahrung mit Demenzkranken haben. Einige Mitarbeitende sind angestellt, über 600 Freiwillige engagieren sich in Jinmei.

Die Neujahrsfeier, auf der Zhang spricht, nimmt Jinmei zum Anlass für einen Jahresrückblick: Die Ausflüge, die sie für Erkrankte und Familienmitglieder organisiert hat, die Beratungsstunden, in denen der Umgang mit der Krankheit erklärt wird und Spiele zur Gedächtnisförderung gezeigt werden. „Wir arbeiten aber nicht nur mit den Familien und Kranken, sondern bemühen uns auch um Öffentlichkeitsarbeit. In China weiß fast niemand, was Demenz ist“, sagt der Geschäftsführer von Jinmei, Fei Chao.

In China werden Demenzkranke als verkalkt oder verblödet angesehen und von der Gesellschaft oder gar der eigenen Familie ausgeschlossen. Selbst wenn Demenz erkannt wurde, wird sie kaum thematisiert. Die Familie sperrt das betroffene Familienmitglied lieber zu Hause ein, um die Schande zu verheimlichen.

Dabei wäre gerade in China ein offener Umgang nötig: 2010 schätzte die Weltgesundheitsorganisation, dass fast zehn Millionen Chinesen an Demenz leiden, 2030 sollen es mehr als 23 Millionen sein. Nur jeder vierte Erkrankte sei in Behandlung, sagt Jinmei. Schon jetzt gebe es nicht genug Pflegepersonal, staatliche Unterstützung, Beratungsstellen, Hilfsorganisationen, Heimplätze und Krankenbetten. Außerdem erkennen selbst Ärzte die Krankheit häufig gar nicht; wenige sind darauf geschult und Krankenhäuser sind so überfüllt, dass Ärzten oft die Zeit für Patienten fehlt, die einfach alt und verkalkt erscheinen.

Eine nationale Krise

Experten in China sprechen bereits von einer nationalen Krise, auf die man unvorbereitet sei. „Die Veränderung in unserer Demografie, das stetige Altern der Bevölkerung, das ist eines unserer größten Probleme, und es wird schlimmer und schlimmer”, so Tong Yu, die an der Jiaotong-Universität in Schanghai zu Altenpflege forscht und sich auf Demenz spezialisiert hat. Bereits jetzt sind elf Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt, 2050 wird es fast jeder vierte sein. Dann, schätzen Demografen, wird das Durchschnittsalter in China bei 56 Jahren liegen – höher als in Deutschland und eines der höchsten der Welt. Dazu haben auch Jahrzehnte der Ein-Kind-Politik beigetragen, die erst 2015 aufgehoben wurde.  

„Es scheint wahrscheinlich, dass es 2030 zu wenige Erwachsene geben wird, um sich um die Pflege aller Demenzkranken zu kümmern“, schreibt die Weltgesundheitsorganisation in einem Bericht zu China. Alternativen zur privaten Pflege durch Familienmitglieder gibt es aber bisher kaum. In staatlichen Heimen gebe es für Demenzkranke in Schanghai nur 6000 Plätze für fast fünf Millionen Senioren, schätzt Jinmei.

Der Ruf der Heime ist miserabel. Fast alle waren ursprünglich auf Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen spezialisiert und begannen erst auf Nachfrage, auch Demenzkranke aufzunehmen. Ausgestattet sind sie dafür nicht. Fälle von Senioren, die tagelang an ihren Betten festgeschnürt waren und verwahrlosten, schockieren die Öffentlichkeit immer wieder. Die wenigen privaten Einrichtungen, die sich auf Altenpflege spezialisieren, kosten mehr als 2500 Euro monatlich. Finanzielle Unterstützung vom Staat gibt es für Kranke oder ihre Angehörigen nicht; bei durchschnittlichen Pensionen von 450 Euro in wohlhabenden Städten wie Schanghai stehen diese Pflegeeinrichtungen nur der obersten Bevölkerungsschicht offen. Auch ambulante Pflegekräfte, die ins Haus kommen – meist ältere Damen ohne Ausbildung –, gibt es wenige, weil die Arbeit schlecht bezahlt ist und von der Gesellschaft nicht wertgeschätzt wird.

Dabei könnte man sich ein Beispiel an den Nachbarn in Japan nehmen, meint Fei, der Geschäftsführer von Jinmei. Im Land mit der ältesten Bevölkerung der Welt sind zwar nicht alle Probleme gelöst, aber die Ansätze seien vorhanden. Die Regierung forciert etwa das sogenannte Modell Community Care, bei der Demenzkranke in ihren eigenen Wohnungen bleiben können und sich die Gemeinschaft um sie kümmert. Polizisten werden geschult, Senioren auf der Straße zu helfen, Freiwillige rekrutiert, die nach dem Rechten sehen. Mache Städte haben Demenzkranke sogar mit QR-Codes ausgestattet, sollten sie ihren Heimweg nicht mehr finden. Auch weil die Regierung Demenz thematisiert und nach Lösungen sucht, werden Erkrankte weiter als Teil ihrer Familien und der Gesellschaft gesehen.

Nicht so in China. In den besten Fällen – und davon gebe es wenige, sagt Fei – würden sich aufopfernde Partner oder Kinder wie Zhang mit Geduld, Verständnis und vor allem Zeit um Demenzkranke kümmern. Zhang wusste, dass etwas nicht stimmte, als ihre Mutter immer öfter in der Tai-Chi-Gruppe im Park fehlte und die Radionachrichten nicht mehr einschaltete. Selbst der besten Freundin gegenüber war ihre Mutter abweisend, versäumte den gemeinsamen Tee, ohne sich zu entschuldigen. Sie pilgerten zu verschiedenen Krankenhäusern und Experten, bekamen aber meist oberflächliche Diagnosen. „Die meisten sagten uns, dass sie eben alt sei und dass das normal sei“, erzählt Zhang.

Die Suche nach einer Antwort kennt man in der Jinmei-Gruppe nur zu gut. Etwas, da waren sich alle sicher, stimmte mit ihren Familienmitgliedern nicht. Sogar Psychotherapeuten, traditionelle chinesische Heiler und geschlossene psychiatrische Anstalten suchten sie auf, stets in der Hoffnung auf eine Arznei, eine Behandlung, ein Wundermittel – oder zumindest eine Antwort auf die Frage, warum sie ihre Ehemänner, Ehefrauen, Mütter und Väter nicht mehr wiedererkannten. Die meisten mussten diese Antwort finden, indem sie im Internet nach Symptomen suchten. Boshaftigkeit, Vergesslichkeit und Verwirrung, Starren in die Ferne, Verlust der Routine: Diagnose Demenz. Plötzlich ergab alles Sinn.

Keine Zeit für persönliche Beratung

Rezepte für Medikamente, die das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen können, werden in China schnell ausgestellt, für persönliche Beratung haben Chinas überarbeitete und unterbezahlte Ärzte aber keine Zeit. Pflegende Familienmitglieder sind auf sich allein gestellt und stoßen schnell an ihre Grenzen. Oft vereinsamen pflegende Familienmitglieder, in den meisten Fällen Partner, und verlassen kaum noch das Haus aus Sorge, was passieren könnte, wenn sie den Demenzkranken allein lassen. Sogar Lebensmittel lassen sie sich nach Hause liefern.

Diese Gewissensbisse kennt auch Ding Yong. Lange war der gebürtige Chinese international als Agrochemiker für deutsche Firmen tätig. Dann wurde bei seinem Vater Parkinson diagnostiziert. Als einziger Sohn fühlt er sich für die Pflege verantwortlich, aber seine Karriere wollte er nicht aufgeben. „Ich hätte nie gedacht, wie viel Zeit das in Anspruch nimmt“, so der 50-Jährige. Die Not machte ihn erfinderisch. Er installierte Bewegungssensoren in der Wohnung seines Vaters und verband sie mit einem Computerprogramm, das ihn per Handynachricht über ungewöhnliche Bewegungen informierte, die etwa auf einen Sturz deuten könnten. Begeistert von dem System und überzeugt, dass Technik die Altenpflege grundlegend verändern würde, gründete Ding die smarte Heimpflegefirma Ai Zhahu, was so viel heißt wie liebende Pflege.

Autorin

Denise Hruby

ist freie Journalistin in Wien und arbeitet unter anderem für die „New York Times“, „National Geographic“ und CNN. Zwischen 2015 und 2018 arbeitete sie in China, wo ihre Reportagen zahlreiche Journalismuspreise gewonnen haben.
In einem von Ai Zhahus smarten Pflegeheimen in einem Wohngebiet in Schanghai werden diese Programme erfolgreich eingesetzt. In den sonnengelben Gängen und Zimmern sind Bewegungssensoren in­stalliert und smarte Kameras, die die Bewohner überwachen und sie aufgrund ihrer einzigartigen Bewegungsweise sogar voneinander unterscheiden können. Wenn Bewegungen ungewöhnlich erscheinen, wird Personal verständigt. In Heimen könne so das Pflegepersonal entlastet und reduziert werden.

Dings Ziel ist es aber, dass fast alle Senioren mit der Hilfe von smarten Technologien in der Zukunft  in ihren eigenen Wohnungen leben können. Stolz zeigt er die smarten Möbel und Haushaltsgeräte der Zukunft. Bett, Sofa, Kühlschrank, Toilette, alle mit Sensoren ausgestattet, die zunächst über drei Monate das Verhalten des Senioren studieren und lernen, ihn von anderen Besuchern zu unterscheiden und danach dann Unregelmäßigkeiten erkennen.

„Jemand, der zum Beispiel schon länger nicht auf dem Klo war, nachts unruhig schläft, morgens länger als sonst im Bett liegt oder den Fernseher gar nicht mehr einschaltet, all das wird vom System erkannt“, erklärt Ding. Je nach Bedarf informiert das Programm dann einen Verwandten, einen Arzt oder eine mobile Pflegehelferin. Über 40.000 Senioren in Pflegeheimen und in privaten Häusern und Wohnungen werden bereits von diesen smarten Programmen unterstützt.

Tong Yu von der Jiaotong-Universität ist von diesen technologischen Errungenschaften begeistert, auch weil sie zur Früherkennung von Demenz beitragen können, indem sie etwa den langsamen Verlust von Routine erkennen. Ob Technologie die Lösung für Chinas Demenzkranke sei? Tong zögert. „Ein Teil davon bestimmt. Aber nur auf Technologie können wir nicht setzten.“ Wie das Problem zu lösen sei, scheint in China niemand so wirklich zu wissen – noch beschäftigt man sich zu wenig damit.

Auch Zhang hat keinen langfristigen Plan. Für ein Jahr hat sie sich beurlauben lassen, um sich um ihre Mutter zu kümmern. „Mein Chef zeigte Verständnis“, sagt sie. Nur was passiert, wenn das Jahr um sei, wisse sie noch nicht. Sie sieht ihre Mutter an, deren Mundwinkel wieder nervös zittern, und drückt ihre Hand etwas fester. „Wir werden eine Lösung finden.“

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erschienen in Ausgabe 5 / 2018: Müllberge als Goldgruben
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