Sie wohnen Tür an Tür, wissen aber oft erstaunlich wenig über das religiöse Bekenntnis des jeweils anderen. Christen und Muslime im Nahen Osten haben seit Jahrhunderten nicht immer friedlich, aber doch mit einer gewissen Selbstverständlichkeit nebeneinander gelebt. Die Bürgerkriege in Syrien und Irak sowie der Exodus der Christen aus der Region drohen dieses multireligiöse Gewebe zu zerreißen.
Als Migranten aus der Krisenregion Nahost bringen sie ihre unterschiedlichen kulturellen und religiösen Prägungen, aber auch ihre Konflikte, Vorurteile und seelischen Wunden mit nach Deutschland. Hier müssen sie nach Krieg und Gewalt mit ihren andersgläubigen Landsleuten zurechtkommen. Damit das besser gelingen kann, hat die Katholische Akademie Berlin ein Projekt zur interreligiösen Versöhnungsarbeit initiiert, mit dem sie in Deutschland Neuland betritt. Fertige Konzepte dazu existieren nicht, konfessionelle Differenzen werden bisher kaum thematisiert. Im Mai 2017 begann eine erste Projektrunde mit einem Auftaktworkshop, um sich kennenzulernen.
Rund 20 Teilnehmer, die meisten sunnitische Muslime, drei Christen, zwei Drusen, aber auch Agnostiker aus Syrien, Irak, Jemen und den Palästinensischen Gebieten haben an dem Projekt teilgenommen. Nicht alle haben Flucht und Verfolgung erlebt, manche sind auch zum Studium nach Deutschland gekommen. Zu insgesamt fünf Workshops im Zeitraum von Mai 2017 bis Januar 2018 trafen sich die Teilnehmer. Finanziert wurde das Projekt aus Mitteln des katholischen Bonifatiuswerks.
Kennenlernen auf neutralem Terrain in Berlin
Zunächst stand das Kennenlernen der religiös pluralen Landschaft Berlins sowie seine Geschichte mit Mauerbau und deutscher Teilung auf dem Programm. Die Beschäftigung mit diesen für die Teilnehmer unbelasteten Themen diente unter anderem dazu, sich behutsam anzunähern. Thomas Würtz, Projektleiter bei der Katholischen Akademie Berlin, bezeichnet diese Vorgehensweise als „Konzept des dritten Orts“: An einem für Christen und Muslime aus dem Nahen Osten emotional unbelasteten Ort könne man zunächst über verwandte Themen sprechen, ohne an die eigenen sensiblen Punkte aus den Heimatländern zu rühren. Zugleich bietet die Überwindung der deutschen Teilung ein Beispiel dafür, dass Versöhnung auch bei Konflikten, die lange als unlösbar gelten, möglich ist.
Beim dritten Treffen wurde dann die Religionsgeschichte im Nahen Osten direkt thematisiert; beim vierten Treffen kamen die nahöstlichen Konfliktpunkte auf den Tisch. Beim gemeinsamen Besuch der syrisch-orthodoxen Gemeinde in Berlin-Tiergarten wurde deutlich, wie wenig die Nichtchristen in der Gruppe über die Tradition der syrisch-orthodoxen Kirche wissen. Diese orientalische Kirche mit Gemeinden vor allem in Syrien, Irak und der Türkei feiert ihre Liturgie bis heute auf Aramäisch, einer mit dem Arabischen verwandten Sprache, die bis in die Zeit Jesu zurückreicht. Das gemeinsame Anhören liturgischer Gesänge in aramäischer Sprache habe die muslimischen Teilnehmer sehr beeindruckt, sagt Thomas Würtz: „Erst in der Fremde haben sie etwas über die Traditionen ihres Heimatlandes erfahren.“ Würtz hält die Beschäftigung mit dem Glauben der anderen für einen zentralen Lerneffekt des Projekts. Denn Unkenntnis habe zur Eskalation von Konflikten im Nahen Osten beigetragen.
Über die Rolle der schiitischen Hisbollah wird heftig diskutiert
Starke Emotionen rief der Besuch der schiitischen Al-Hassanein-Moschee hervor. Sie erinnerte die Teilnehmer an die Rolle der schiitischen Hisbollah-Miliz aus dem Libanon im Syrienkonflikt: Die Hisbollah ist ein wichtiger Verbündeter von Diktator Assad. Ein Teilnehmer in der Gruppe hatte im Krieg ihm Nahestehende verloren; sie waren von Mitgliedern der Hisbollah-Miliz getötet worden. Heftig wurde darüber diskutiert, welche Unterschiede es zwischen der sozial engagierten Berliner Moschee und der gewalttätigen Hisbollah im Konflikt gibt. Doch die Gruppe hielt die Emotionen aus. Nach der Diskussion ging man wie stets gemeinsam zum Essen.
Die Impulse für das interreligiöse Versöhnungsprojekt stammen unter anderem aus der Dialogarbeit des italienischen Jesuiten Paolo Dall’Oglio in Syrien. Dall’Oglio hatte seit Beginn der 1980er Jahre im alten Kloster Mar Musa in der Wüste circa 80 Kilometer nördlich von Damaskus eine Ordensgemeinschaft gegründet, die ihre zentrale Aufgabe in der Gastfreundschaft und der Liebe zu den Muslimen sieht. In dem Kloster entstand eine im Nahen Osten einzigartige Begegnungsstätte für Christen, Muslime und Suchende aller Art. Nach seiner Ausweisung aus Syrien 2012 hielt Dall’Oglio seinen einzigen Vortrag in Deutschland in der Katholischen Akademie Berlin und inspirierte so mit zu dem Projekt. Er wurde im Juli 2013 von der Terrormiliz IS entführt, als er nach Syrien zurückgekehrt war. Seitdem fehlt jedes Lebenszeichen von ihm. Im Projekt Erinnerte Zukunft leben seine Ideen weiter.
Auch im Projekt ist es nicht gelungen, alle tiefsitzenden Vorurteile zwischen Christen und Muslimen direkt anzusprechen; Würtz wünscht sich deshalb für die nächste Runde eine längere Laufzeit. „Eine langsame Annäherung der Teilnehmer ist notwendig, um die nötige Vertrauensbasis zu schaffen.“ Eine zweite Runde ist vorgesehen, allerdings steht die Finanzierung noch nicht.
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