Wir sind die einzigen weißen Reisenden im Nachtzug von Jaunde nach Norden Richtung Ngaoundéré. Wer kein Ticket für den Schlafwagen hat, macht es sich in den Zweite-Klasse-Waggons bequem, wo und wie es eben geht. Als Nachtlager dienen die Holzbänke ebenso wie die Gepäckablage und die Gänge. Auch unter den Bänken und selbst im WC auf dem Boden liegen Schlafende. Staatsangestellte im Anzug, Studenten in westlicher Kleidung, Händler im westafrikanischen Männergewand Boubou, Frauen in den in Nordkamerun typischen pastellfarbigen Gewändern mit Kopftuch nutzen den Zug ebenso wie Angehörige der Armee. Auf ihren Uniformen prangt in Gelb die Abkürzung B.I.R.: Bataillon d’intervention rapide – Schnelle Eingreiftruppe. Im Norden von Kamerun setzt Präsident Paul Biya auf die rund 5000 Mann starke Eliteeinheit im Kampf gegen „BH“.
BH steht in Kamerun nicht für ein weibliches Kleidungsstück. Auch Beignets-Haricot, das Gericht mit dem in heißem Öl frittierten Gebäck und würzigen braunen Bohnen, ist damit nicht gemeint. Obwohl viele Kameruner euphemistisch von „Beignets-Haricot“ sprechen, wenn sie Boko Haram meinen. Mit ihrem vollen Namen wird Boko Haram, die radikalislamische Terrorsekte, selten erwähnt – wenn überhaupt, dann nur im Flüsterton, hinter vorgehaltener Hand. Das liegt daran, dass die Angst vor den „kamikazes“, wie die Selbstmordattentäter und -attentäterinnen genannt werden, fast allgegenwärtig ist.
Auch in aufgeklärten Kreisen wird gern betont, Boko Haram sei aus dem Nordosten Nigerias importiert und im Grunde genommen ein nigerianisches Problem. Doch das Epizentrum der Terrorgruppe liegt mittlerweile im schwer zugänglichen Gebiet des Tschadseebeckens, an dem Kamerun im äußersten Norden seinen Anteil hat. Auch im September und Oktober meldete das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR Angriffe, unter anderem in Form von Selbstmordattentaten und Entführungen der Dschihadisten auf kamerunischem Gebiet.
Dass in Kamerun Krieg herrscht, wird einem in Jaunde erstmals beim Besteigen des Zugs nach Norden vor Augen geführt. Die 662 Kilometer lange, 1974 in Betrieb genommene Strecke nach Ngaoundéré wurde ursprünglich vor allem für den Transport von Bauxit von Norden nach Süden gebaut. Die Bahn ist mittlerweile aber ein äußerst beliebtes, weil relativ bequemes und bezahlbares Transportmittel für das breite Volk. Die Kontrollen am Bahnhof von Jaunde sind überraschend rigide und kommen den Standards auf europäischen Flughäfen nahe. Zugang zum Bahnhofgebäude erhalten ausschliesslich Reisende, die die Personenschleuse mit Metalldetektor passiert haben. Koffer, Taschen und Bündel werden vom Sicherheitspersonal ausnahmslos geöffnet und akribisch durchsucht.
Ngaoundéré ist Endstation der Bahnlinie TRANSCAM 2 und zugleich auch Endstation für Ausländer auf der Reise nach Norden, die die Sicherheitswarnungen ihrer Botschaften ernst nehmen. Das Schweizer Außenministerium, das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), rät von „Reisen und Aufenthalten jeder Art“ in den drei nördlichen Regionen Kameruns Adamaoua, Nord und Extrême-Nord ab. Es verweist auf die mehr als drei Dutzend Entführungen von Ausländern seit 2013, die auf das Konto von Boko Haram gehen. Außer mit Kopfsteuern füllt die Terrorgruppe ihre Kriegskasse mit millionenschweren Lösegeldern. Gefahr geht in den Regionen Adamaoua und Nord freilich nicht nur von „BH“, sondern auch von anderen gewalttätigen Gruppen aus, etwa muslimischen Séléka-Rebellen aus der benachbarten Zentralafrikanischen Republik oder gewöhnlichen, mit Kalaschnikows bewaffneten Wegelagerern.
Die Kinder lieben die Besuche der US-Militärs
Von Ngaoundéré reisen wir weiter nach Norden nach Bidzar. Hier im nördlichsten Teil der Region Nord befinden wir uns definitiv im Aktionsgebiet von Boko Haram. Eine katholische Schwester aus der anglophonen Nordwestregion Kameruns hat hier die Stellung gehalten: Sie hat ein Waisenheim aufgebaut, das zurzeit über 80 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene beherbergt. Eines der Kinder wurde als Säugling in einer Mülltonne gefunden, ein anderes völlig unterernährt vom Vater aus dem Tschad hergebracht. Die meisten Eltern sind einfach verschwunden und haben die Kleinsten zurückgelassen. Im Centre Notre Dame de l‘Accueil de Bidzar von Schwester Myriam bilden Betreuerinnen und Betreute eine Gemeinschaft, alle helfen allen.
Doch man spürt, welche Verantwortung auf Schwester Myriam lastet. In der Vergangenheit reichten die Nahrungsmittel oft kaum bis zum Ende der Woche, bevor mitunter von unerwarteter Seite Geld oder Naturalien gespendet wurden. Inzwischen ist das Zentrum besser vernetzt und wird aus dem In- und Ausland unterstützt. Es verfügt über eine eigene Grundschule und eine Bäckerei. Die monatlichen Besuche von US-Militärs (in Zivil) von der rund 100 Kilometer entfernten Drohnenbasis in Garoua sind ein offenes Geheimnis und bei den Kindern wegen der Mitbringsel und der ausgelassenen Spiele mit den schnittigen Frauen und Männern heiß begehrt. Seit Ende 2015 überwachen Aufklärungsdrohnen der US-Streitkräfte das Grenzgebiet zwischen Kamerun und Nigeria rund um die Uhr. Der US-Geheimdienst wertet die dabei gewonnenen Informationen über Truppenbewegungen von Boko Haram, über Camps und Bombenwerkstätten aus und teilt sie mit der gut 8000 Mann starken multinationalen Truppe aus dem Tschad, Nigeria, Niger und Kamerun.
Rund 60 Kilometer nördlich von Bidzar endet die gut geteerte Straße bei der Kreuzung in Salak abrupt: Nachdem Boko-Haram-Kämpfer im Mai 2014 eine Gruppe von zehn chinesischen Straßenbauingenieuren entführte hatten, stellte die chinesische Firma Sinohydro ihre Arbeiten an der Piste ein. Von hier aus sind es noch einmal etwa 20 Kilometer bis nach Maroua, der Hauptstadt der Region Extrême-Nord. Eigentlich sollte die Straße weiter nach Norden bis nach Kousserie ausgebaut werden – auf der andern Seite der Grenze liegt die tschadische Hauptstadt N’Djamena.
Ein hochrangiger französischer Öl-Manager und seine Familie, drei europäische Priester und eine kanadische Ordensschwester gerieten ebenso in Geiselhaft. Im Juli 2015 sprengten sich drei Attentäterinnen auf dem Zentralmarkt und einer belebten Ausgehmeile in Maroua in die Luft und brachten so den Terror mitten in die Hauptstadt der Region. Der Exodus der Expats sowie der Priester und Nonnen liegt zwei bis drei Jahre zurück. Aber noch immer trauen sich keine Weißen auf die Straßen von Maroua. Die Fahrzeuge von internationalen Hilfsorganisationen verkehren eskortiert von
Mannschaftswagen mit schwerbewaffneten Angehörigen der Elitetruppe B.I.R.
Das evangelische Missionsspital von Meskine liegt ein paar Kilometer vom Stadtzentrum entfernt und ist wegen seiner guten Ausstattung und des breiten Angebots bei Muslimen ebenso beliebt wie bei Christen. Durchschnittlich suchen 44.000 Patienten im Jahr die Klinik auf. Ein einheimischer Verwalter leitet die Geschäfte, der Direktor und das gesamte amerikanische Management hingegen statten dem Haus seit ihrem Rückzug nach Ngaoundéré 2014 jeweils nur kurze Besuche ab. Derweil platzt Maroua aufgrund des hohen Bevölkerungswachstums sowie wegen des Ansturms von Land- und Kriegsflüchtlingen aus allen Nähten. Innerhalb weniger Jahre ist die Bevölkerungszahl von rund 200.000 auf eine halbe Million gewachsen.
Dass das Wirtschaftsleben in der Region stark beeinträchtigt ist, zeigt sich etwa an der Zahl der Patienten, die der einzige namhafte Zahnarzt in Maroua behandelt. Doktor Djibrilla Sidiki muss heute froh sein, wenn sich an einem Tag ein Dutzend Patienten in seiner Praxis einfinden. Vor dem Krieg kamen Patienten aus dem Tschad, Nigeria, ja selbst aus dem Niger – 60 bis 70 pro Tag. Nun sind die zwei übertrieben nobel eingerichteten Behandlungszimmer mitunter verwaist, und das Personal wartet auf Kundschaft. Die Folgen des Terrors sind auf dem Land noch gravierender. Eine kleine nichtstaatliche Organisation (NGO) in Mokolo 80 Kilometer westlich von Maroua betrieb neben ihrer Beratungs- und Ausbildungstätigkeit für die ethnisch stark gemischte Bauernbevölkerung ein Internet-Café. Seit längerem ist es geschlossen, aber nicht etwa, weil drei von den fünf PCs mit einem Virus infiziert sind. Abends nach Sonnenuntergang hätten die Leute zwar nach getanem Tagwerk Zeit, um Mails abzurufen, über Skype zu kommunizieren oder im Internet zu recherchieren. Doch aus Angst vor den islamistischen „Kopfabschneidern“ wagt sich in der Dunkelheit niemand auf die Straße. Die Erzählungen von den Untaten der Dschihadisten in der Gegend klingen grauenvoll.
Die „Männer fürs Grobe“ genießen hohes Ansehen
Südlich von Mokolo liegt das riesige Flüchtlingscamp Minawao, wo derzeit knapp 59.000 Vertriebene aus Nigeria untergebracht sind; weitere 21.000 Flüchtlinge leben nach Angaben des UNHCR außerhalb des Lagers. Im unwirtlichen Mandara-Gebirge entlang der Grenze zu Nigeria spüren die Mitarbeiter der NGO aus Mokolo regelmäßig Gruppen von erschöpften Flüchtlingen auf, versorgen sie mit ausreichend Trinkwasser, geleiten sie zu den Ernährungszentren oder mobilisieren die zuständigen kamerunischen Behörden.
Autor
Peter Ganther
leitet die Projektabteilung beim Schweizer Hilfswerk miva. Nebenher schreibt er für verschiedene Schweizer Zeitungen.Auf dem Weg zurück nach Salak zum Flughafen fahren wir am Stützpunkt des B.I.R vorbei, auf dem zahlreiche der von Amnesty International dokumentierten Übergriffe stattgefunden haben sollen. Um das Vordringen der berüchtigten „kamikazes“ auf die Basis zu verhindern, ist die Anlage von zwei Erdwällen und einem tiefen Graben umgeben. Noch außerhalb des Flughafengeländes werden an einem Checkpoint Fahrzeuge und Personen von Sicherheitskräften angehalten und kontrolliert. Beim Anblick unserer Koffer auf der Pritsche des Pickups fragt der junge Soldat am Schlagbaum, ob er uns trauen oder die Gepäckstücke öffnen soll. Fatima, unsere muslimische Begleiterin antwortet, es gebe ja noch Kontrollen im Flughafen selbst. Der Soldat wiederum entgegnet, wir könnten im Gebäude eine Bombe hochgehen lassen. Worauf Fatima meint, wenn die Bombe hier losgehe, sterbe auch er. „Vous êtes jeune! – Sie sind doch noch jung!“ Der Soldat lässt uns verlegen lächelnd mit einer hilflosen Geste passieren.
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