Chile, 12. September 1973. In der Hauptstadt Santiago haben seit einem Tag die Putschisten das Sagen. Über dem zerstörten Regierungssitz Moneda steigt immer noch Rauch auf, im Nationalstadion sind die Ränge gefüllt mit politischen Gefangenen, zwei Stockwerke tiefer wird gefoltert. Die Stadt ist in Schockstarre, nur vereinzelt gibt es Widerstand. Derweil überlegen die Militärs um Oberbefehlshaber Augusto Pinochet und ihre zivilen Unterstützer fieberhaft, wie sie auch den Rest des Landes dauerhaft ruhigstellen könnten. „Das rote Tal bombardieren“ – diese Idee wird bald zu einem schlecht gehüteten Geheimnis.
„Der Militärschlag gegen das rote Tal, das eigentlich Valle de Choapa heißt, sollte ein Exempel statuieren und die organisierte Bauernschaft demütigen“, erzählt 44 Jahre später Agapito Santander, während er an seinem Matetrinkhalm saugt und eine Zigarette hervorkramt. Er ist in dieser Gegend der Region Coquimbo im Norden Chiles aufgewachsen, kennt ihre Geschichte, ist Teil davon. „In den 1920er Jahren wurden hier die ersten ländlichen Gewerkschaften Lateinamerikas gegründet, die Ligas Campesinas. Und hier war es auch, wo bereits 1966 die ersten großen Ländereien an landlose Bauern vergeben wurden.“ Santanders imposanter Schnurrbart glänzte damals noch tiefschwarz. Und groß war die Neugier des 18-Jährigen, als angehender Agraringenieur an einem sozialen Experiment mitzuwirken, das die Umverteilung von großen Flächen Land vorsah: eine Agrarreform. Bis heute wird sie rechts wie links als wirkmächtigstes politisches Projekt Chiles im 20. Jahrhundert angesehen.
Chile war nicht das einzige Land, in dem zu dieser Zeit eine solche Reform durchgeführt wurde. Vielerorts in Lateinamerika hatte sich Unmut gegen das koloniale Modell der Haciendawirtschaft aufgestaut. 1951 rief der guatemaltekische Präsident Jacobo Árbenz eine Agrarreform aus – und wurde weggeputscht. Wenig später vergesellschafteten die kubanischen Guerilleros mit deutlich mehr Erfolg die Äcker – Grund genug für die USA, sich intensiver in ihrem „Hinterhof“ einzumischen. 1961 rief US-Präsident John F. Kennedy eine „Allianz für den Fortschritt“ mit den lateinamerikanischen Staaten aus: Kredite gab es fortan nur noch für Länder, die Landreformen durchführten und die Konzentration von Landeigentum verringerten. „Selbst die konservative chilenische Regierung zog mit“, sagt Santander. „Doch es war eine Blumentopfreform – gerade mal ein Prozent der agrarischen Nutzfläche wurde umverteilt.“ Die richtige Agrarreform sollte erst unter der folgenden christ-demokratischen und später sozialistischen Regierung von Präsident Salvador Allende stattfinden, die insgesamt zehn Millionen Hektar Land enteigneten.
Tummelbecken für politische Exilanten
Es lag nahe, den Anfang im 300 Kilometer nördlich der Hauptstadt Santiago gelegenen Valle de Choapa zu machen, weil die meisten Felder dort im wahrsten Sinne des Wortes verwaist waren. Nach dem Tod der Patronin Matilde Salamanca im Jahr 1807, der im Tal fast alles Land gehört hatte, übernahm die katholische Diözese kommissarisch den Anbau von Bohnen, Kartoffeln und Getreide. „Plötzlich sollten die Bauern alles selbst organisieren, doch da die meisten es gewohnt waren, nur Anweisungen zu befolgen, fiel ihnen das schwer“, erinnert sich Pedro Arraya. Deshalb setzte das staatliche Unternehmen CORA, das die Agrarreform voranbringen sollte, auf junge Verwaltungsangestellte wie ihn. Von einem Büroarbeiter der Gesundheitsbehörde wandelte sich Arraya in kurzer Zeit zum Verwalter des Zentrallagers im Tal und koordinierte die Verteilung von tonnenweise Saatgut und Düngemitteln sowie eine ganze Flotte rumänischer Traktoren. Und im Feld berieten Santander und seine Kollegen die Bauern beim Setzen von Weinstöcken und Obstbäumen.
Alle Campesinos durften die Unterstützung in Anspruch nehmen, ganz gleich ob sie sich dafür entschieden, als Familienbetrieb bis zu zehn Hektar zu beackern oder einer Kooperative beizutreten. Viele Bauern besuchten außerdem die von dem brasilianischen Pädagogen Paulo Freire konzipierten Alphabetisierungskurse. Chile war in jenen Jahren ein Tummelbecken für politische Exilanten aus den Nachbarländern oder Internationalisten aus Frankreich, Deutschland und Israel, die hinter den Anden ihren Traum von einer gerechteren Welt verwirklichen wollten. Die Latifundien zerschlagen und eine gesunde Ernährung für alle produzieren – das waren Ziele, mit denen sich viele identifizieren konnten.
Die Aufbruchstimmung währte jedoch nur ein paar Jahre. Einige schlechte Ernten und das Erdbeben von 1971 ließen den Glauben an das Gemeingut schwinden. Noch vor dem gewaltsamen Ende der Revolution zerstritt sich die regionale Kooperative über einen nicht zurückgezahlten Kredit. Das war kein Einzelfall, überall im Land gab es politische Querelen, und die politische Rechte säte Zwietracht und Zweifel. Auch Pedro Arraya zog sich auf Anraten seines Vaters aus CORA zurück, denn auf individuelle Landtitel hatten wenn überhaupt nur Campesinos und nicht öffentlich Angestellte Anspruch. Während Agapito Santander weiter versuchte, den kollektiven Export von Trauben nach Kuba zu retten, pflanzte Arraya im Kleinen Walnussbäume. Gemeinsam war beiden im September 1973 nur der bange Blick gen Himmel. Pinochets Bomber, würden sie tatsächlich kommen?
Land für Sympathisanten des Pinochet-Regimes
„Am Ende kam die Gegenreform nicht anonym auf dem Luftweg, die Militärs klopften lieber gezielt an einige Türen“, erzählt Santander. Es gab Massaker, Campesinos wurden verschleppt und getötet, ebenso Mapuche-Indigenas, die mit CORA zusammenarbeiteten. Im roten Tal gab es fünf politische Morde, erzählt Santander, „darunter an Juan Bruna, Bauernführer und Dichter, der von einem Verhör im versiegelten Sarg zurückkam. So wollten sie die Folterspuren verbergen.“ Es folgte ein Kriegszug gegen alle, die bei der Umverteilung der Anbauflächen in der ersten Reihe gestanden hatten. Wer konnte, flüchtete wie Santander ins Exil. Andere bekamen als „Schweigegeld“ ab Mitte der 1970er Jahre individuelle Landtitel für bewässerte Äcker. Doch zwei Drittel der enteigneten Böden wurden Sympathisanten des Pinochet-Regimes zugeschanzt, vor allem aber an neu entstehende Unternehmen versteigert – die Geburtsstunde des modernen chilenischen Agrobusiness mit seinen Weinbergen, Avocadohainen und Eukalyptuswäldern bis zum Horizont.
Gut vier Jahrzehnte später findet im Ehrensaal der Universidad de Chile in Santiago ein dreitägiges Seminar zur Agrarreform statt. Gerade herrscht gebannte Stille. Jorge Echenique, einstiger sozialistischer Vordenker kollektiver Landwirtschaft und später Berater von Präsident Ricardo Lagos (2002-2006), versucht eine versöhnliche Brücke von den sozialen Fragen der 1960er Jahre zum aktuellen Agrarmodell zu schlagen, das auf den Export möglichst profitabler Produkte für den Weltmarkt setzt. „Das ist gut so“, sagt Echenique, „denn auf diese Weise stabilisieren wir die nationale Wirtschaft in Zeiten niedriger Nachfrage für unser Kupfer.“
Eine halbe Stunde steht dieser Satz unwidersprochen im Raum, bis sich Constanza Riquelme aus dem Publikum zu Wort meldet. Wie Echenique hat auch sie einst an der Katholischen Universität Agrarwirtschaft studiert, doch während dieser die „erhabene Institution“ feiert, spricht sie von einer „Mumien-Uni“, die in offenem Widerspruch zu ihrer höchsten Autorität, Papst Franziskus, stehe. „Der Papst redet vom guten Leben und Ernährungssicherheit, während sie uns ein Wirtschaften lehren, das sich allein am Profit einiger weniger orientiert. Auf den Feldern werden Heidelbeeren und Avocados für den Export angebaut, während der Großteil der Bevölkerung mit einem Durchschnittsverdienst von 300 Lucas im Monat (etwa 400 Euro) Nudeln und andere Fertigwaren isst.“ Beifall.
Was hält der Agraringenieur Nicolas Vallejos, der für Walmart Chile Obst ankauft, von dieser Kritik an seinen Lieferanten? Weht auf den riesigen Apfelplantagen von heute wieder der Wind der Hacienda? Der Mittzwanziger antwortet überlegt, holt weit aus, lobt den Freihandel, der gut für die Entwicklung des Landes sei, und fordert die Modernisierung der Produktionstechnik, um qualifizierte Jobs und Aufstiegschancen zu schaffen. „Chile steht eine wichtige strategische Entscheidung bevor. Entweder öffnen wir das Land für genetisch modifiziertes Saatgut, oder wir spezialisieren uns auf bestimmte Sorten und senken mittels mehr Technologie die Produktionskosten. Ansonsten sind die Agrarunternehmen hier in fünf Jahren nicht mehr konkurrenzfähig.“
Immer weniger Campesinas und Campesinos
Aber wäre Chile nicht auch als „faire Bio-Oase“ vorstellbar? „Warum nicht“, findet Vallejos, „aber leider interessieren sich die chilenischen Verbraucher kaum dafür, unter welchen Bedingungen einzelne Produkte hergestellt werden.“ Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Wochenmärkte haben nach wie vor Konjunktur. Hier kann man Campesinas und Campesinos treffen, die ihre Erzeugnisse anpreisen und beim Plausch mit der Kundschaft Regenwürmer aus den Salatköpfen pulen. Das Problem ist: Von ihnen gibt es immer weniger, und der Trend der Urbanisierung hält an. Neun von zehn Chilenen leben heute in Städten.
Autor
Nils Brock
ist Journalist in Rio de Janeiro und berät als Fachkraft für Brot für die Welt unabhängige Radios in Brasilien.Zurück im Valle de Choapa besuche ich mit Pedro Arraya die Schaltzentrale des Bewässerungssystems, das gemeinsam von mehr als 90 Wassergemeinschaften organisiert wird. Mehr als 70 Prozent von ihnen sind Kleinbauern. „Etwas vom kommunitären Geist ist also doch hängengeblieben“, sagt Arraya, der sich seit Jahren als Generalsekretär des „Rats der Wasserwächter“ um die Instandhaltung und den Ausbau der Kanäle kümmert. Auf den jährlichen Mitgliederversammlungen sitzen jedoch nicht nur Campesinos, sondern auch die Vertreter von Bergbauunternehmen und eines Investmentfonds, an dem auch japanisches Kapital beteiligt ist. Wie viel Land- und Wasserrechte solche Großinvestoren von Kleinbauern übernommen haben, weiß niemand genau. Aber längst gibt es auch im roten Tal agroindustrielle Produzenten sowie Leiharbeiter, die zur Erntezeit in Camps leben. Eine neue Art Hacienda?
Arraya will davon nichts wissen: „Die Enkel der Agrarreform machen viel aus dem Land hier.“ Doch von seinen eigenen Kindern arbeitet niemand auf dem Feld, die Bäume seiner Nussbaumplantage hat er nach einer Mottenplage vor einigen Jahren fällen müssen. Hier steht heute das Eigenheim eines Sohnes, „der als Verwalter im Bergbau tätig ist“, ergänzt Agapito Santander süffisant. Das ländliche Chile dürfe sich nicht vollständig in eine grüne Wüste oder eine suburbane Wohnsiedlung verwandeln, sagt er. „Die Franzosen haben da ein gutes Rezept. Dort erwirbt der Staat permanent kleine Anbauflächen, und sobald eine rentable Fläche von ungefähr 20 Hektar zusammenkommt, verkauft er die an einen jungen Bauern und hilft ihm beim Start.“ Das sei eine Art Mini-Agrarreform. „Wenn so was in einer kapitalistischen Demokratie wie Frankreich funktioniert, warum dann nicht hier? Die 1960er Jahre sind vorbei, aber auch heute ist Veränderung möglich.“
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