Reisen mit offenen Augen

Ethischer Tourismus
Darf man jetzt noch Urlaub in der Türkei machen? Nicht das Wohin ist entscheidend, sondern das Wie. Ein Plädoyer für den ethischen Tourismus.

Der gescheiterte Militärputsch in der Türkei, die Anschläge von Nizza, die Flüchtlinge in Griechenland: Sie haben den Tourismus tief verunsichert. Denn die Krisen haben Orte getroffen, die wir lange Zeit für immun hielten. Weil es touristische und damit auch unsere Orte waren. Entspannt, schön und fern von den Konflikten der Welt, mit denen man sich dort nicht beschäftigen wollte. Man war ja im Urlaub – an der türkischen Riviera, der Côte d'Azur oder auf einer griechischen Insel – und hatte sich das Recht auf Abstand erworben.

Doch auch als Tourist bewegt man sich nie außerhalb der Welt, ist nicht von einem Kokon umgeben, der vor ihren Zumutungen bewahrt. Dieser Kokon war das Versprechen der Tourismusindustrie, für den man bereit war, viel Geld auszugeben. Aber nun reißt der Kokon immer tiefer ein.

Ein Foto symbolisiert den Riss für mich: Es zeigt einen Strand in Italien, an dem Touristen in der Sonne baden. Einige Meter entfernt liegen die abgedeckten Leichen zweier ertrunkener Roma-Mädchen. Das scheint die Menschen auf den Handtüchern nicht zu stören. Vom Tod der Armen wollen sie sich die Erholung nicht verderben lassen. Das Foto wurde weltweit verbreitet und sorgte für Empörung. Wie hätte ich reagiert? Hätte auch ich mein Gewissen mit Urlaubsbeginn ausgeknipst?

Der Riss des Kokons ist auch eine Chance: für eine bewusstere Art des Reisens, für ein Unterwegssein mit offenen Augen und Ohren. Für das Hinschauen. Das gilt nicht nur für die Türkei, Frankreich und Griechenland, sondern auch für Thailand, Kenia und die Karibik – Länder und Regionen, in denen die Krisen Alltag sind.

„Ethischer Tourismus“ nennt die UN-Organisation für Tourismus (UNWTO) eine neue Art des Reisens. Unter dem Eindruck der zunehmend schädlichen Folgen des Massentourismus fordert sie in ihrem Ethikkodex von 1999, dass der Tourismus folgende Schlüsselaufgaben erfüllen müsse: Er soll zu gegenseitigem Verständnis und Respekt zwischen Völkern und Gesellschaften beitragen, die nachhaltige Entwicklung fördern und den Gastländern und ihren Gemeinden nützen. Ferner soll er die Rechte von Arbeitern und Unternehmen in der Tourismusindustrie respektieren.

Bewußt machen, wohin wir fahren

Für uns Reisende heißt das zunächst, dass wir uns bewusst machen, wohin wir fahren, und die Einheimischen nicht als Statisten im eigenen Film betrachten. Wir sollten unser Geld zielgerichtet ausgeben und versuchen, die lokale Wirtschaft zu unterstützen. Wir sollten Unterkünfte wählen, die ressourcenschonend wirtschaften und deren Eigentümer die Rechte ihrer Beschäftigten achten. Dass wir uns respektvoll benehmen, versteht sich von selbst.

Dabei geht es nicht um Ortsverbote. Man kann reisen, wohin man möchte, wenn es einen interessiert: in das vom Drogenkrieg verheerte Mexiko ebenso wie in das bitterarme Mosambik oder in die Diktatur Vietnam. Nicht das Wohin ist entscheidend, sondern das Wie. Eines meiner liebsten Reiseländer ist Haiti. Oft höre ich den Einwand, es sei doch das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Nur wenige ahnen etwas von seiner faszinierenden Kultur. Ich versuche, mich an den großen Lateinamerika-Reisenden Alexander von Humboldt zu halten: „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nicht angeschaut haben.“

Ein anderes Beispiel: Die Malediven gelten als paradiesisch. Aber es handelt sich um eine korrupte Diktatur, die ihre Gegner gnadenlos verfolgt. Ein Reisender im Sinne Humboldts blendet diese Zustände nicht aus. Er wird vom konsumierenden Touristen zum interessierten Reisenden. Er erkennt, dass er eben nicht im Paradies gelandet ist, sondern in einem Land mit großen Problemen. Die heile Welt existiert hier nicht – trotz Sonne, Sand und Meer. Man kann die Verhältnisse nicht ändern, aber man kann sich informieren. Man kann mit den Einheimischen sprechen. Und man kann von seinen Erfahrungen berichten.

Die Malediven sind ein Entwicklungsland, genauso wie 14 der 20 Top-Tourismusziele auf der Welt. Für ein Drittel von ihnen ist der Tourismus die wichtigste Einkommensquelle. Er kann eine nützliche Rolle spielen – etwa wenn das Geld hilft, die Lage möglichst vieler Menschen zu verbessern, oder wenn er als Motiv dient, um wertvolle Ökosysteme und gefährdete Kulturen zu bewahren. Costa Rica etwa zeigt, wie konsequenter Umweltschutz sich touristisch auszahlen kann.

Dialektik des Massentourismus

Leider ist Costa Rica nicht die Regel. Zu oft zerstört der Tourismus die Umwelt und führt dazu, dass lokale Kultur und Identität verlorengehen. Das Geld der Touristen fließt in die Taschen weniger, meist ausländischer Konzerne. San Juan del Sur an der nicaraguanischen Pazifikküste ist ein Beispiel: Das Fischerdorf wurde 2010 bekannt, weil dort die US-amerikanische Reality-Show „Survivor“ gedreht wurde. Danach kamen die Touristen und mit ihnen sehr viel Geld, was zu wachsender Ungleichheit und Spannungen im Dorf führte. Immer mehr reiche Amerikaner trafen ein, Surfer, Winterflüchtlinge – und mit ihnen die Konstruktionsfirmen, die Immobilienspekulanten, die Prostituierten, die Drogen. Der Tourismus brachte zwar neue Jobs, aber insgesamt stieg die Arbeitslosigkeit. Die Dorfgemeinschaft wurde zerrüttet. Die Touristen hatten die Idylle zerstört, die sie angezogen hatte. Das scheint die Dialektik des Massentourismus zu sein.

Autor

Philipp Lichterbeck

ist freier Journalist in Rio de Janeiro. Er ist Autor des Buches „Das verlorene Paradies. Eine Reise durch Haiti und die Dominikanische Republik“ (Dumont-Verlag, 2013).
Ähnliches habe ich in der Dominikanischen Republik beobachtet: Spanische Hotelketten beherrschen den großen Markt des All-Inclusive-Tourismus. Sie stellen haitianische Einwanderer ein, die niedrige Löhne erhalten und jederzeit gefeuert werden können. Touristen sind wie eingesperrt in den Hotelresorts; diese organisieren sogar die Ausflüge und verlangen oft ein Vielfaches kleinerer Anbieter. Eine ihrer Strategien ist es, den Besuchern zu erzählen, es sei viel zu gefährlich, das Resort auf eigene Faust zu verlassen. So zieht man dem schlecht informierten Reisenden das Geld aus der Tasche.

Neue Hotels in der Dominikanischen Republik werden neuerdings in Naturschutzgebiete gebaut, nachdem die Behörden bestochen wurden. Sie haben oft einen horrenden Energie- und Wasserverbrauch. Für Nachhaltigkeit herrscht in der Dominikanischen Republik leider kaum ein Bewusstsein. Der Großteil der Tourismuseinkünfte bleibt im oberen Teil der Gesellschaft hängen – die Armen haben kaum etwas davon. Immerhin: Seit einigen Jahren steuern Kleinunternehmer dieser Entwicklung entgegen, sie setzen in ihren Hotelanlagen auf Umwelt- und Sozialverträglichkeit.

Auch dies beweist, dass das ethische Reisen weltweit immer wichtiger wird. Eine Statistik der UNWTO zeigt, dass schon ein Fünftel des weltweiten Tourismus in diese Kategorie fällt. Und er wächst dreimal schneller als der konventionelle Tourismus. Worauf er im besten Fall hinausläuft, hat der amerikanische Schriftsteller Mark Twain gesagt: „Reisen ist tödlich für Vorurteile, Fanatismus und Engstirnigkeit.“

Literaturtipp:
Frank Hermann: „FAIRreisen. Das Handbuch für alle, die umweltbewusst unterwegs sein wollen"
Oekom-Verlag, München 2016, 328 Seiten, 19,95 Euro

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