Als Piraten nachts den saudi-arabischen Öltanker „Mt Maximus“ enterten, überraschten sie einen Großteil der Besatzung im Schlaf. Manche wachten nicht einmal vom Alarm auf. Erst ein Schlag weckte Eugene Ejane Nikor, ein ghanaisches Mitglied der Crew. Das war der Beginn seiner Tortur in den Händen der Piraten. „Sie schlugen mit einem Gewehr auf mein Bein, sie schlugen mit einem Gewehr auf meine Hüfte, dann stießen sie mich aus dem Bett und ich fiel auf den Boden. Sofort begannen sie, auf mir herumzutrampeln“, erinnert er sich.
Der Ghanaer was der Erste, auf den die Piraten nach dem Entern des Tankers stießen. Anscheinend wollten sie dann als erstes die anderen Besatzungsmitglieder ausfindig machen. Auf dem Schiff war es dunkel, weil einige Matrosen den Generator abgestellt hatten, als sie die Piraten an Deck kommen sahen. Sie wollten sich im Schutz der Dunkelheit in den Maschinenraum flüchten. Die Piraten ahnten das und verlangten, dass Nikor sie zum Maschinenraum führte. „Unglücklicherweise war die Tür zum Maschinenraum verschlossen“, erzählt er.
Als die Besatzungsmitglieder im Maschinenraum sich weigerten, die Tür zu öffnen, beschlossen die Piraten, die Stahltür aufzubrechen. Simon Nartey, ein Ghanaer, gehörte zu denen, die sich hinter der massiven Tür versteckt hatten. Er beschreibt, wie die Piraten begannen, in den Maschinenraum vorzudringen. Aus Furcht vor ihnen kroch Nartey auf der Suche nach einem Versteck noch tiefer in den eigentlichen Motorraum.
Hunger, Durst und die unerträgliche Hitze des Motors trieben ihn nach zwei Tagen aus seinem Versteck – gerade in dem Moment, als ein ghanaisches Marineschiff die Verfolgung aufgenommen hatte. Die Piraten glaubten, Nartey habe mit einem Ortungsgerät das Kriegsschiff auf ihre Spur gebracht. Er sollte dafür mit dem Leben bezahlen. Die Nerven beruhigten sich etwas, als es den Seeräubern gelang, das Marineschiff zum Rückzug zu bewegen mit dem Argument, das gekaperte Schiff befände sich in internationalen Gewässern, nicht in ghanaischen Hoheitsgewässern. „Die Piraten bestanden darauf, die Marine habe kein Recht, das entführte Schiff in internationalen Gewässern aufzubringen“, erinnert sich Nartey.
Der Tanker, dessen Besatzungsmitglieder hauptsächlich aus Indien, Pakistan, China, Südkorea und Ghana kamen, war von einem südkoreanischen Unternehmen gechartert. Er hatte gerade von der Küste der Elfenbeinküste abgelegt, als er gekapert wurde. Laut dem International Maritime Bureau in London, das sich mit Kriminalität auf See befasst, hat der Golf von Guinea in den vergangenen Jahren dem Westindischen Ozean vor Somalia den Rang als gefährlichstes Seegebiet der Welt abgelaufen – gemessen an der Schwere und der Häufigkeit von Seeräuberangriffen.
Die Tortur der Besatzung der „Mt Maximus“gibt einen seltenen Einblick in die Vorgehensweise der Piraten vor Westafrika. Bekannt ist, dass sie gekaperte Schiffe gründlich durchsuchen und alle Habseligkeiten der Crew stehlen – selbst Gegenstände von geringem Wert. „Sie haben jede Tür aufgebrochen, alles durchwühlt“, sagt Nartey. „Sie haben uns alles weggenommen, sogar Nagelknipser, meinen Hut, Sandalen, unsere Handys, Geld, alles.“ Seeräuber nehmen gewöhnlich auch die Schiffsbesatzung als Geiseln, um Hunderttausende US-Dollar Lösegeld zu erpressen. Hunderte von ausländischen Besatzungen und Ölarbeitern sind in den letzten Jahren in der Region gekidnappt worden.
Der Golf von Guinea ist der Küstenbogen, der von Westafrika bis nach Angola im Süden reicht. Hier verläuft eine wichtige internationale Schifffahrtsroute, über die praktisch das komplette Rohöl aus Afrika südlich der Sahara in die USA, nach Europa, Japan, China und Indien verschifft wird. Die beiden größten afrikanischen Ölproduzenten Nigeria und Angola exportieren aus dem Golf von Guinea.
Das hohe Schiffsaufkommen macht ihn zu einem idealen Operationsgebiet für Piraten, die Öltanker entführen, um die Millionen teure Ladung zu rauben. Verkauft wird sie an kriminelle Netzwerke, die das Öl auf den internationalen Markt bringen. In dem Geschäft mischen viele Osteuropäer mit. In den vergangenen Jahren hat Nigeria mehrere Osteuropäer und einige andere Ausländer verhaftet, die in seine Hoheitsgewässer gekommen waren, um gestohlenes Öl zu kaufen. Viele wurden wegen Öldiebstahls vor Gericht gestellt und verurteilt.
Hinter der Piraterie im Golf von Guinea stehen Täter aus verschiedenen afrikanischen Ländern, aber die meisten stammen aus Nigeria, vor allem aus der erdölproduzierenden Region im Nigerdelta. Die nigerianische Küste – und hier vor allem das Nigerdelta – ist der gefährlichste Teil des Golfs von Guinea. Viele junge Leute von dort, die sich als Piraten verdingen, hatten vor Jahren zu den Waffen gegriffen, als die Leute im Delta für einen größeren Anteil am Ölreichtum kämpften. Der Aufstand, der vor zwölf Jahren begann, endete 2009 mit einem Friedensabkommen mit der nigerianischen Regierung. Viele Aufständische aber legten ihre Waffen nicht nieder, sondern verlegten sich stattdessen auf die Seeräuberei.
Hohe Gewinne aus der Piraterie sind für viele junge Menschen aus dem Nigerdelta verlockend. Laut manchen Aktivisten, die für soziale Gerechtigkeit eintreten – etwa Morris Alagoa von Environmental Rights Action, dem lokalen Arm der internationalen Organisation Friends of the Earth –, ist unter anderem die Armut im Nigerdelta für Piraterie und Öldiebstahl verantwortlich. Sie ist groß, obwohl Nigeria Jahr für Jahr Milliarden Dollar mit dem Verkauf von Rohöl verdient. Doch den Ölreichtum teilen sich vor allem die Regierung und die westlichen Ölunternehmen. Im Prinzip sollen die Gemeinwesen im Nigerdelta vom staatlichen Anteil an den Erdöl-Erlösen profieren, aber in Wirklichkeit sehen die Menschen dort sehr wenig von dem Geld. Ein wesentlicher Teil der Einnahmen aus Nigerias Öl landet meistens wegen der weit verbreiteten Korruption in privaten Taschen.
Über die Jahre haben sich die Piraten mit immer gefährlicheren Waffen ausgerüstet. Besatzungsmitglieder der „Mt Maximus“ berichten davon. „Ich glaube, es waren etwa 15 oder 16 Leute. Sie hatten leichte Maschinengewehre dabei, auch Handgranaten, und sie hatten Stemmeisen und Äxte, sehr scharfe Äxte“, sagt Krisna Billai, der aus Indien gebürtige Kapitän des Schiffes.
Zunehmend bringen die Piraten ausgebildete Fachkräfte mit. Unter den Entführern der „Mt Maximus“ sollen professionelle Seeleute gewesen sein, die sofort nach dem Entern die Navigation des Schiffes übernahmen. „Einige von ihnen waren Mechaniker und Maschinisten, sie hatten Ahnung von der Seefahrt. Sie hatten das Schiff gut im Griff“, sagt Yogesh Bhintade, ein Besatzungsmitglied.
Die Piraten haben in den vergangenen Jahren ihre Raubzüge auf ein immer größeres Gebiet ausgedehnt. So wurde der unter liberianischer Flagge fahrende Öltanker „Mt Kerala“ vor der Küste des angolanischen Luanda entführt; später tauchte das Schiff rund 2600 Kilometer entfernt nahe Tema in Ghana wieder auf. Im Falle der „Mt Maximus“ waren die Piraten über 1100 Kilometer von ihrer Basis im Nigerdelta bis zur Elfenbeinküste gefahren, um dort zuzuschlagen. Schiffe, die nigerianische Piraten weit entfernt von Nigeria kapern, werden oft in nigerianische Gewässer zurückgebracht, wo die Fracht gestohlen und einzelne Besatzungsmitglieder für die Erpressung von Lösegeld als Geiseln genommen werden.
Nikor erzählt, die Piraten hätten die Besatzung auf dem Weg nach Nigeria durchgehend mit Waffen bedroht und unterschiedlichen Misshandlungen ausgesetzt. „Sie sagten immer wieder, wer nicht kooperiert, ist tot“, berichtet er. „Selbst wenn ich zur Toilette musste, war eine Waffe auf mich gerichtet.“
Um Schiffe zu verwirren, die sie vielleicht suchten, übermalten die Piraten den Schiffsnamen mit einem neuen. Sie fuhren die Küstenlinie entlang – vorbei an der Elfenbeinküste, Ghana, Togo und Benin – bis in nigerianische Hoheitsgewässer, wo eine Reihe von Versorgungsschiffen zu ihnen stieß. Einige Piraten gingen an Bord eines dieser Schiffe und nahmen zwei Besatzungsmitglieder als Geiseln mit auf das nigerianische Festland. Ein weiteres Schiff kam, um die Ladung des gekaperten Tankers abzupumpen: 4700 Tonnen Diesel im Wert von mehreren Millionen Dollar.
Dann bemerkten die Seeräuber ein nigerianisches Marineschiff, das auf sie zuhielt. Sie brachen den Entladevorgang ab und steuerten den Tanker in internationale Gewässer. Die Marine stürmte ihn, als er gerade auf den Inselstaat São Tomé und Príncipe zusteuerte. Die Marine, hieß es später, habe das Recht, Piraten auch beim Verlassen der nigerianischen Gewässer anzugreifen; das sei von einem internationalen Sicherheitsabkommen gedeckt, das Nigeria mit einigen Staaten im Golf von Guinea geschlossen habe. Ein Seeräuber kam bei der Schießerei ums Leben, sechs wurden verhaftet.
Nigerias Marine führt zunehmend solche Rettungsaktionen durch, wenn Schiffsbesatzungen im Golf von Guinea in Geiselhaft geraten. Konteradmiral Henry Babalola, Einsatzleiter der Marine, erklärt, das zeige, dass Nigeria zur Bekämpfung der Seeräuberei entschlossen sei: „Wir signalisieren damit, dass wir die kriminellen Elemente in unseren Hoheitsgewässern loswerden wollen.“
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Vielen kleinen Staaten in der Region wie São Tomé und Príncipe mangelt es an Mitteln zur Bekämpfung der Seeräuberei. Deshalb arbeiten die Staaten in der Region dabei enger zusammen. So haben sie einen Verhaltenskodex zur Bekämpfung des Piratentums, bewaffneter Raubüberfälle auf Schiffe und illegaler Tätigkeiten auf See in West- und Zentralafrika angenommen. Er soll gemeinsame Anstrengungen bei Informationsaustausch, Verboten und Strafverfolgung fördern. Babalola sagt, ein solcher Informationsaustausch habe es möglich gemacht, die „Mt Maximus“ ausfindig zu machen und anzugreifen, um die Crew zu retten. „Wo es nötig ist, Informationen auszutauschen, tun wir das mit der Marine anderer Staaten im Golf von Guinea und andernorts“, erklärt er und fügt hinzu: „Der Krieg auf See ist nur durch Kooperation zu gewinnen.“
Dennoch bleibt bei der Bekämpfung der Piraterie im Golf von Guinea noch ein langer Weg zu gehen. So ist etwa die Ortung der von den Piraten verschleppten Geiseln nach wie vor ein Problem. Vier Monate, nachdem die Piraten die „Mt Maximus“ geentert und zwei Besatzungsmitglieder entführt haben, ist der Aufenthaltsort der Geiseln aus Pakistan und Indien noch immer unbekannt.
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