Mit ihren renommierten Schulen und Krankenhäusern können evangelische Christen im Nahen Osten auf ein großes Erbe blicken. Die Zukunft des Protestantismus in der Region steht aber mehr denn je in Frage, nicht nur, weil die kleine und meist sehr gut ausgebildete Minderheit eine Emigration ernsthaft erwägen kann. Bei einer internationalen Tagung zur Reformation im Orient in Beirut standen Ende Juni vor allem die hausgemachten Probleme der Protestanten im Vordergrund.
Für Nabil Mamarbashi etwa besteht die größte Herausforderung in einem aufkommenden Fundamentalismus, der nicht nur außerhalb der Kirche zu spüren sei, sondern auch in den eigenen Reihen. „Neue evangelikale Gruppen wollen mit anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften nichts zu tun haben“, sagte der evangelische Pfarrer, der aus einer katholischen Familie in Aleppo stammt. Als Jugendlicher habe er die evangelische Kirche als einen Ort kennengelernt, an dem alle Fragen erlaubt waren, an dem kein hierarchischer Druck herrschte, sondern Gewissensfreiheit und demokratische Spielregeln galten.
Genau diese reformatorischen Grundwerte sieht Karineh Sahakian Cholokian, Pfarrerin am Armenisch-evangelischen College in Beirut, gegenwärtig in Frage gestellt. Selbst auf Leitungsebene in evangelischen Institutionen gebe es viele, die nur noch auf dem Papier der Kirche angehören. Das Gleiche gelte für die Schüler am College. „Sie kommen zu uns, weil sie darin den Ausgangspunkt für ein Leben im Wohlstand sehen und nicht, weil sie gute Protestanten werden wollen. Die Kirche ist ihnen egal.“
Für einige hat die Leitung den Kontakt zur Basis verloren
Ähnlich äußerte sich Linda Macktaby, Direktorin einer evangelischen Schule für Kinder mit Behinderung. Die Kirchenleitenden hätten häufig den Bezug zur Basis verloren, kritisierte sie. „Sie wissen viel über Theologie, aber sie haben keine Ahnung, wie man mit Menschen mit Behinderung spricht und deren Talente in die Kirche einbindet.“ In der arabischen Mentalität würden behinderte Menschen als schwach betrachtet, mit ihren Eltern müsse man Mitleid haben. „Unsere Kinder leiden nicht unter ihrer Behinderung, sie leiden aufgrund der Einstellung ihrer Eltern und unserer Kirche“, sagte Macktaby.
Girayr Ghazarian aus Kessab, einer rein armenischen Stadt im Norden Syriens, berichtete von falschen Ansprüchen der Gemeindemitglieder an ihre Kirche. Kessab war im März 2014 von dschihadistischen Rebellengruppen überrannt und geplündert worden. Es sei schwer, nach solchen Erlebnissen den Menschen noch von der Hoffnung zu predigen, sagte der junge Pfarrer. „Immer wieder muss ich erklären, dass die Kirche kein Krankenhaus, keine Bank und auch keine Hilfsorganisation ist.“ Gleichzeitig beklagte Ghazarian eine mangelnde Ökumene vor Ort. Die Reformation, die den Nahen Osten erst Mitte des 19. Jahrhunderts durch das Auftreten evangelischer Missionare aus Amerika und Europa erreicht hatte, habe einen kulturellen Graben zwischen Protestanten und den einheimischen katholischen und orthodoxen Christen geschaffen. Auf allen Seiten herrsche eine „Wir gegen die Anderen-Mentalität“ vor, sagte Ghazarian.
Ermutigung erhielten die Protestanten indes von nicht evangelischer Seite. Sie sollten eine größere Rolle bei der Integration von neuen evangelikalen Strömungen spielen und „diese Gruppen an die Hand nehmen“, sagte Gaby Hachem von der maronitischen Kirche.
Der orthodoxe Theologe Assaad Kattan von der Universität Münster forderte dazu auf, das Erbe der Reformation mit der Gegenwart im Nahen Osten zu verbinden. „Europas Weg in die Freiheit hat seinen Ausgang in der Reformation genommen. Heute kämpfen die Menschen im Nahen Osten um Würde und Freiheit.“ Die Botschaft der Reformation sei aktueller denn je, gerade auch für die nichtevangelischen Kirchen, sagte er. Vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings würden viele Christen die starre Autorität ihrer Kirchen infrage stellen. „Es ist wichtig, dass ihr Protestanten uns immer wieder ermahnt, weniger autoritär zu sein“, sagte Kattan.
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