Über 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, immer mehr Menschen sind für immer längere Zeit auf Hilfe angewiesen. Und doch sind Hilfsappelle der Vereinten Nationen chronisch unterfinanziert. Es sind dringend Lösungen nötig, die verhindern, dass Millionen Menschen über Jahrzehnte zu Bittstellern und Spielbällen der internationalen Politik werden. Die wichtigste Frage ist deshalb, wie sich Zahl und Ausmaß humanitärer Katastrophen reduzieren lassen, wie die Ursachen beseitigt werden können.
Diese Frage stand aber nicht auf der Tagesordnung von Istanbul. Auch eine politische Schlusserklärung war nicht geplant, wichtige Weltmächte und Schwellenländer waren nicht hochrangig vertreten. Vielleicht hätte die Staatengemeinschaft ohnehin keine gemeinsamen Lösungen gefunden, weil es ihr an politischem Willen mangelt.
Generalsekretär Ban Ki-moon hatte auf folgende Strategie gesetzt: Er hatte dem Treffen in Istanbul ein aufwendiges Verfahren zur Beratung mit Betroffenen, Fachleuten und hochrangigen Vertretern aus Politik, Religion, Gesellschaft und Wirtschaft vorgeschaltet. Auf dieser Basis formulierte er seine „Agenda für Menschlichkeit“– quasi als Zielvorgabe für Istanbul und die Zeit danach. Er hat – wie schon in Paris beim Klimagipfel – Interessenverbände zusammengeführt und UN-Organisationen, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft dazu gebracht, schon im Vorfeld neue Allianzen zu bilden und mit Selbstverpflichtungen zum Gipfel zu kommen. So wollte Ban Ki-Moon die humanitäre Hilfe praktisch verbessern, während es politisch klemmt, auch wenn klar sein muss, dass humanitäre Hilfe kein Ersatz sein kann und darf für politische Lösungen. Nun liegt es an den Beteiligten, ihre Versprechen einzuhalten. Und es liegt an der Zivilgesellschaft, die Umsetzung sowie politische Fortschritte zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts und der humanitären Prinzipien einzuklagen.
Praxis und Politik getrennt
Nicht gesprochen wurde in Istanbul hingegen über die dramatischen Verstöße gegen diese Prinzipien in Gestalt rücksichtsloser Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, beispielsweise in Syrien, im Jemen oder in der Ukraine, aber auch in Gestalt der von Kenia angekündigten Zwangsräumung des weltweit größten Flüchtlingslagers Dadaab. Schlimmer noch: Der kenianische Vizepräsident durfte sich unwidersprochen als Advokat der Flüchtlinge darstellen.
Das EU-Türkei-Abkommen wurde als Vorbild für die Abschiebung somalischer Flüchtlinge aus Kenia erkennbar, selbst aber nicht diskutiert. Dabei hat das EU-Türkei-Abkommen eine fatale Signalwirkung und gibt der Rolle der EU als Verfechterin der humanitären Prinzipien vermutlich den Todesstoß. Istanbul als Veranstaltungsort und der Besuch der Kanzlerin demonstrierten unbeabsichtigt das Auseinanderfallen der theoretischen Wertschätzung der Prinzipien der humanitären Hilfe und deren geringe Bedeutung für die Politik. Dennoch ist das Rezept aufgegangen, die Sphären von Politik und Praxis zu trennen, um auf der praktischen Ebene voranzukommen. Bisherige Konzepte, Praktiken und Strukturen der humanitären Hilfe wurden auf der Konferenz infrage gestellt, neue Konzepte liegen auf dem Tisch. Ein gutes Beispiel dafür ist der erklärte Wille, Bargeld-Transfer-Programme auszubauen, also Geldmittel statt Hilfspakete zu verteilen und damit mehr Entscheidungsfreiheit und Würde für Betroffene und die Stärkung lokaler Märkte zu erreichen. Ebenso hilfreich sind Selbstverpflichtungen diverser Koalitionen und Akteure, den Zugang zu Finanzmitteln für lokale Akteure zu vereinfachen und sie verstärkt bei Bedarfserhebung, Planung, Umsetzung ins Zentrum zu stellen.
Prävention, die Minderung von Katastrophenrisiken und Resilienz sind als zentrale Themen für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit kaum mehr wegzudenken – ebenso wenig wie die Zielvorgaben der UN-Nachhaltigkeitsziele nicht mehr aus der humanitären Hilfe. Hier ist die Zivilgesellschaft gefordert, dies sowohl bei den eigenen Regierungen einzuklagen, als auch im eigenen Handeln umzusetzen.
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