Krieg gegen die Kurden

Türkei
Die türkische Regierung kämpft erneut mit aller Härte gegen die Kurden im Land. Was hat den Sinneswandel von Präsident Erdogan ausgelöst?

Eine Handvoll kurdischer Anwältinnen und Anwälte versammelt sich im vergangenen November vor einer der ältesten Moscheen in der historischen Altstadt Sur in Diyarbakir. Sie wollen eine Presseerklärung abgeben, nachdem das Minarett der 500 Jahre alten Moschee durch Schusswechsel zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Militanten beschädigt worden ist. Der prominente Menschenrechtsanwalt und Vorsitzende der kurdischen Anwaltskammer Tahir Elçi ruft erneut zu Frieden in der Region auf. Wie viele in Diyarbakir beobachtete er mit Sorge die stetige militärische Eskalation in den kurdischen Gebieten der Türkei seit August 2015. Doch nur Sekunden nach seinem Appell wird Elçi vor laufenden Kameras von Unbekannten angeschossen. Er erliegt seinen Verletzungen. Die Ermordung des besonnenen Menschenrechtlers unmittelbar nach einem Friedensaufruf steht als tragisches Symbol für das abrupte Ende der Hoffnungen auf Frieden.

Der offizielle Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wurde im Frühling 2013 offiziell eingeleitet. Er sollte nach 40 Jahren militärischer Kämpfe endlich eine politische Lösung in Aussicht stellen. Bisher hatte es jede Regierung abgelehnt, sich mit der PKK an einen Verhandlungstisch zu setzen, und eisern an einer militärischen Lösung der Kurdenfrage festgehalten. Eine historische Chance für einen Friedensprozess hätte es bereits nach der Verhaftung von PKK-Führer Abdullah Öcalan 1998 gegeben, doch nach einigen Jahren Waffenstillstand kehrte die PKK 2006 wieder  in den bewaffneten Kampf zurück. 2012 wurde bekannt, dass der Staat bereits seit geraumer Zeit Geheimverhandlungen mit dem inhaftierten Öcalan führte, ein Jahr darauf verkündeten beide Seiten den Beginn eines Friedensprozesses. Die PKK begann, ihre Einheiten aus der Türkei  abzuziehen, und verlieh damit der legalen, pro-kurdischen Partei HDP (Demokratische Partei der Völker) mehr Handlungsraum auf der politischen Ebene. 

Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 erzielte die HDP einen historischen Wahlsieg. Erstmals überwand eine prokurdische Partei die Zehn-Prozent-Hürde und zog als drittstärkste Kraft in das türkische Parlament ein. Damit hätte der Friedensprozess konsolidiert werden können – doch genau das Gegenteil passierte. Bereits während des Wahlkampfs wurden die Büros der HDP sowie Unterstützerinnen und Unterstützer wiederholt attackiert. Der Bombenanschlag im Juli 2015 auf junge kurdische Aktivistinnen und Aktivisten in Suruc stellte einen Wendepunkt dar. Die Sicherheitsbehörden machten die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) dafür verantwortlich, doch die HDP-Führung sieht einen Teil der Verantwortung bei der türkischen Regierung.

Nach Suruc kündigten die PKK und die Regierung den Friedensprozess auf. Es folgte ein erbitterter militärischer Feldzug gegen die kurdische Bevölkerung. Laut Menschenrechtsorganisationen wurden seit August 2015 mindestens 338 Zivilisten in den kurdischen Gebieten getötet und mehr als 350.000 aus ihren Häusern vertrieben; sie leben nun als Binnenflüchtlinge in der Region. Über 1,5 Millionen Kurdinnen und Kurden haben keinen normalen Alltag mehr – Ausgangssperren rund um die Uhr und militärische Besatzung behindern Schulbesuch, Arbeit und den Gang zum Arzt. Der Stadtteil Sur in Diyarbakir und die Städte Cizre und Sirnak sind heute so zerstört, das sie den syrischen Kriegsgebieten ähneln.

Parallel zum Krieg in den kurdischen Gebieten kämpft die Regierung in Ankara politisch gegen die HDP: Sie versucht mit allen Mitteln, deren Wahlerfolg rückgängig zu machen. Die HDP hatte es mit ihrem radikaldemokratischen Programm und ihrer Zusammensetzung aus allen Teilen der Gesellschaft geschafft, Frauen und Männer zu vereinen, die weder die alte Türkei des autoritären Kemalismus noch die neue Türkei des autoritären Erdogan wollen. Als Alternative für eine demokratische Erneuerung – diese Vision verkörperte der junge charismatische HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas – stellte die HDP eine ernste Bedrohung für Erdogan dar. Als drittstärkste Kraft im Parlament stand sie nach ihrem Wahlsieg im Juni 2015 seinen Plänen im Weg, das Parlament mit einem Präsidialsystem zu entmachten.

Die Türkei ist an einem Tiefpunkt

Die Regierung setzte deshalb Neuwahlen an, in der Hoffnung, die HDP würde es nach schweren Angriffen auf ihre Wählerschaft dieses Mal nicht über die Zehn-Prozent-Hürde schaffen. Doch die Partei gelangte – wenn auch knapp – erneut ins Parlament. Nun versucht die Regierung, die HDP-Abgeordneten mundtot zu machen: Sie sollten für ihre Äußerungen zu politischen Themen strafrechtlich verfolgt und ins Gefängnis gesteckt werden. Ähnlich wie bei der Verfolgung von Intellektuellen, die eine Wiederaufnahme der Friedensgespräche gefordert hatten, versucht die Regierung jegliche Kritik an der Kurdenpolitik im Keim zu ersticken. Anfang Mai haben die Abgeordneten der Regierungspartei AKP gemeinsam mit zwei der drei Oppositionsparteien für eine Verfassungsänderung gestimmt, die es möglich macht, die Immunität von Abgeordneten aufzuheben. Ende Mai beschloss dann das türkische Parlament, mehr als 100 Volksvertretern die Immunität abzuerkennen, darunter mehrheitlich HDP-Abgeordnete. Damit werden Kurdinnen und Kurden wieder aus dem legalen politischen System ausgeschlossen. Bereits 1994 war sieben  prominenten kurdischen Abgeordneten die Immunität abgesprochen worden, sie wurden für zehn Jahre inhaftiert.

Erdogan erhält damit nun freie Hand, das parlamentarische System in ein Präsidialsystem umzuwandeln. Bereits seit den Neuwahlen regiert er mit einer Autorität, die nicht nur über das Parlament, sondern auch über die Minister nach Belieben verfügt. Am 5. Mai 2015 erklärte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu seinen Rücktritt, nachdem Erdogan ihn dazu aufgefordert hatte. Kritiker sprechen von einem Putsch und sehen die Türkei in den Abgrund driften. Das Land ist nach dem demokratischen Aufschwung in den 2000er Jahren heute an einem Tiefpunkt angelangt, der teilweise an die Jahre der Militärdiktatur der 1980er und teilweise an den Bürgerkrieg der 1990er Jahre in den kurdischen Gebieten erinnert. Von Demokratie und Hoffnung auf Frieden ist kaum etwas übrig geblieben.

Weshalb ist die Situation so eskaliert? Warum hat die Regierung den Friedensprozess aufgekündigt und greift wieder auf das altbekannte, erfolglose Rezept einer militärischen Lösung zurück? Die Gründe sind vielschichtig und lassen sich nicht allein mit innenpolitischen Entwicklungen erklären. Regionalpolitische Faktoren spielen ebenfalls eine große Rolle.

Die Neugestaltung des Nahen Ostens seit der US-amerikanischen Invasion des Irak und Afghanistans und dem „Krieg gegen den Terror“ hat kein Land in der Region unverändert gelassen. Auch die Massenproteste des „arabischen Frühlings“ 2010/2011 und die davon ausgelösten Regimewechsel haben sich stark auf die Machtkonstellationen im Nahen Osten ausgewirkt. Große Veränderungen bedeutet das für die zwei größten staatenlose Gruppen, die Palästinenserinnen und Palästinenser sowie die Kurdinnen und Kurden: Während die Lage ersterer sich verschlechtert hat, sind die Kurden im Irak, Syrien, Iran und auch in der Türkei seit den Umbrüchen im Nahen Osten politisch stärker geworden.

Der Friedensprozess entsprang einem pragmatischen Kalkül

Zwar haben Kurdinnen und Kurden, die seit dem Zerfall des Osmanischen Reiches auf vier Nationalstaaten aufgeteilt sind, immer wieder mit Aufständen gegen ihre Entrechtung protestiert. Doch ihre politische Stellung in der Region war noch nie so stark wie jetzt. Es ist nicht abwegig, von einem kurdischen Augenblick zu sprechen – trotz der derzeitigen Gewalteskalation in der Türkei. Die Regierung der autonomen kurdischen Region im Irak hat sich konsolidiert. Der bewaffnete Widerstand der PKK in der Türkei seit 1984 hat über die Jahrzehnte die kurdische Bevölkerung mobilisiert und politisiert, was sich trotz massiver Staatsgewalt nicht mehr eindämmen läßt. Seit der Gründung der Republik 1923 versucht die Türkei, eine kollektive Identität der Kurdinnen und Kurden zu unterdrücken und die Gruppe zu assimilieren; sie ging so weit, die Existenz einer kurdischen Sprache und Identität offiziell zu leugnen. Doch der Kampf der kurdischen Bewegung um Anerkennung hat diese Leugnungspolitik zum Scheitern gebracht.

In den ersten Jahren seiner Amtszeit als Ministerpräsident versuchte sich Erdogan mit einer Versöhnungspolitik gegenüber diskriminierten Gruppen wie Kurden, Alewiten und Armeniern. Doch seine Demokratisierungsinitiativen endeten meist dann, wenn sie keinen wahlpolitischen Erfolg versprachen – Erdogan ist ein Pragmatiker. So ist auch der Friedensprozess einzuordnen. Er entsprang nicht dem Bestreben, den politischen Konflikt zu lösen, sondern einem pragmatischen Kalkül: Mit dem Erstarken der Kurden in Syrien ab 2012 war die Türkei an ihren östlichen Grenzen regelrecht von einem „kurdischen Gürtel“ umgeben. Eine Selbstverwaltung in Nordsyrien war für die Türkei besonders bedrohlich, da nicht nur Syriens Staatschef Assad die kurdische Karte gegen die Türkei gekonnt auszuspielen wusste, sondern auch die PKK und ihr Anführer Öcalan ein festes Standbein unter den Kurden in Syrien hatten. Je weiter diese ihre Selbstverwaltung ausbauten, umso mehr geriet die türkische Regierung unter Druck.

Autorin

Bilgin Ayata

ist Assistenz­professorin für politische Sozio­­l­­ogie an der Universität Basel und forscht zum Nahen Osten und Europa, besonders zur Türkei.
Der Friedensprozess war ein Versuch, die Kurdinnen und Kurden in der Türkei davon abzubringen, ihre politische Hoffnung auf die Entwicklungen im nordsyrischen Autonomiegebiet Rojava zu richten. Stattdessen sollten sie in der Türkei politisch eingebunden werden, um mögliche Autonomiebestrebungen abzufedern. Die PKK gewann als Folge des Friedensprozesses und der damit verbundenen Waffenruhe an politischer Legitimität auf internationaler Ebene. Auch sie sah die Umbrüche im Nahen Osten als Gelegenheit, ihre Macht in der Region auszubauen. Einen Höhepunkt erreichte das mit der Rettung der Jesidinnen und Jesiden im Sommer 2014; danach erhielt die PKK weltweit Anerkennung für ihren Kampf gegen den IS. Immer mehr Stimmen in europäischen Parlamenten diskutierten die Frage, ob sie nicht von der Liste der terroristischen Vereinigungen gestrichen werden sollte.

Die Rückeroberung von Kobane mit Unterstützung der PKK aber offenbarte die scharfen Gegensätze zwischen der kurdischen und der türkischen Politik in Syrien: Während sich beide in der Türkei um Frieden bemühten, bekämpften sie sich in Syrien. Insofern steht der Friedenprozess in der Türkei weniger für einen Politikwandel als für die Verlagerung der Auseinandersetzung nach Syrien. Dass die halbherzige und fragile Suche nach Frieden nun beendet ist, ist bedauerlich, aber wenig überraschend. Einen nachhaltigen Politikwandel wird es in der Türkei erst geben, wenn die Kurden nicht mehr als Problem, sondern als Teil der Lösung anerkannt werden: für eine Demokratisierung von Politik und Gesellschaft.

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erschienen in Ausgabe 6 / 2016: Neue Chancen für die Kurden
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