Von Michael Frein und Chee Yoke Ling
Wem gehört die biologische Vielfalt? In der internationalen Debatte gibt es auf diese Frage mindestens zwei Antworten. Laut der einen ist die Biodiversität das gemeinsame Erbe der Menschheit. Mithin hätte jeder Mensch das gleiche Recht darauf, die so genannten genetischen Ressourcen zu nutzen – also zum Beispiel aus den biochemischen Wirkstoffen von Pflanzen Medikamente herzustellen. Der Gedanke ist faszinierend. Er übersieht jedoch die ungleichen Möglichkeiten, genetische Ressourcen in Wissenschaft, Technik und Industrie zu nutzen. Dazu hat offenkundig ein multinationaler Konzern mit langer Erfahrung in Forschung und Marketing ganz andere Mittel als Kleinunternehmen in Entwicklungsländern, die den lokalen Markt beliefern.
Eine andere Antwort auf die Frage, wem die biologische Vielfalt gehört, gaben die Staats- und Regierungschefs, als sie 1992 in Rio de Janeiro (Brasilien) die Konvention über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD) unterzeichneten. Diese völkerrechtlich verbindliche Konvention schreibt das Prinzip der nationalen Souveränität fest. Danach ist es Sache der 193 CBD-Mitgliedstaaten, darüber zu entscheiden, wer welchen Nutzen aus der biologischen Vielfalt ziehen darf, die auf ihrem Staatsgebiet vorkommt. Mit anderen Worten: Die Regierungen haben das Recht, den Zugang zu genetischen Ressourcen in ihren Ländern zu regeln.
Damit war das Ende der Vorstellung besiegelt, dass die biologische Vielfalt ein gemeinsames Erbe der Menschheit sei – einer Vorstellung, mit der die Entwicklungsländer sich aufgrund ihrer kolonialen und postkolonialen Erfahrung mit der Ausbeutung ihrer Ressourcen ohnehin nie anfreunden konnten. Anstelle des freien Zugangs führte die CBD das Prinzip der vorherigen informierten Zustimmung (Prior Informed Consent) ein. Wer zum Beispiel eine Pflanze aus dem Regenwald nutzen will, muss die Regierung des betreffenden Staates vorher informieren und die Zustimmung beantragen. Eine Bedingung für diese Zustimmung sind Verhandlungen über einen Vorteilsaugleich (Benefit Sharing). Die Konditionen der Nutzungserlaubnis und des Vorteilsausgleichs sollen in gegenseitigem Einvernehmen festgelegt werden.
Mit dieser Regelung verfolgten die Entwicklungsländer das Ziel, stärker von der Nutzung ihrer genetischen Ressourcen zu profitieren. Denn während die biologische Vielfalt heute hauptsächlich in den Ländern des Südens beheimatet ist, konzentriert sich deren kommerzielle Nutzung auf Unternehmen aus Industrieländern. Dass die Nutzer von den Regeln der CBD nicht beglückt sind, kann kaum überraschen. Statt freiem Zugang sollen nun Regeln gelten. Damit nicht genug, sollen die Gewinne fair und gerecht geteilt werden. Wer sich daran nicht hält, riskiert, als „Biopirat“ an den Pranger gestellt zu werden – auch wenn das bislang keine rechtlichen Konsequenzen hat, weil in praktisch allen Industrieländern die Umsetzung der CBD in nationales Recht noch aussteht.
Für die Entwicklungsländer war fraglos ein großer Erfolg, dass die CBD 1992 auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Rio de Janeiro unterzeichnet wurde und im Dezember 1993 in Kraft trat. Die Basis dafür war eine Art Kuhhandel: Der „Norden“ akzeptiert das Prinzip des Vorteilsausgleichs, der „Süden“ nutzt die daraus fließenden Mittel unter anderem zur nachhaltigen Nutzung und Erhaltung der biologischen Vielfalt. Vom Verhandlungstisch ins wirkliche Leben übersetzt hätte dies bedeutet: Die Industrieländer passen ihre nationalen Gesetze an, so dass jede Nutzung genetischer Ressourcen geahndet wird, die nicht im Einklang mit der CBD steht. Tatsächlich aber blieben die Regierungen der Industrieländer – nicht zuletzt ermutigt von der Business-Lobby – bei der entsprechenden Gesetzgebung praktisch untätig, obwohl es sich bei der CBD um ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen handelt.
Nach zehn Jahren riss den Entwicklungsländern der Geduldsfaden: Es gelang ihnen in einer konzertierten Aktion auf dem Weltgipfel über nachhaltige Entwicklung in Johannesburg 2002, im dort beschlossenen Aktionsplan ihre Forderung nach einem neuen, völkerrechtlich verbindlichen Abkommen zum gerechten und fairen Vorteilsausgleich zu verankern. Zwei Jahre später, 2004 in Kuala Lumpur, verabschiedete die 7. Vertragsstaatenkonferenz der CBD ein entsprechendes Verhandlungsmandat. Bis zum Schluss strittig blieb die Frage der völkerrechtlichen Verbindlichkeit – das neue Regime, so der Kompromiss, könne verbindliche und nicht verbindliche Elemente haben.
Der weitere Prozess gestaltete sich äußerst zäh. Trotz Vertragsstaatenkonferenzen, Arbeitsgruppentreffen, Experten-Meetings, regionalen Konsultationen und ähnlichem steht der Durchbruch immer noch aus. Die entscheidende Konfliktlinie verläuft nach wie vor zwischen Nord und Süd: Während die Entwicklungsländer auf ein wirksames, völkerrechtlich verbindliches Protokoll gegen Biopiraterie drängen, beweisen die Industrieländer erhebliches Kreativpotenzial, um den kostenlosen und unregulierten Zugang in der Praxis zu erhalten. Bis heute versuchen insbesondere Kanada und Japan, aber auch die EU, möglichst alles zu vermeiden, was bewirken könnte, dass Vertragsverletzungen spürbare Konsequenzen haben.
Nicht verhindern ließ sich der Beschluss der 9. Vertragsstaatenkonferenz 2008 in Bonn, wonach die Verhandlungen mit der darauf folgenden 10. Konferenz abgeschlossen sein sollen. Diese findet vom 18. bis 29. Oktober 2010 in Nagoya (Japan) statt. Allerdings nährt der bisherige Verhandlungsprozess Zweifel, dass die Verhandlungen dort tatsächlich zu einem erfolgreichen Ende geführt werden können. Strittig sind nicht nur verbindliche Regeln zum Vorteilsausgleich, sondern auch zur freien, vorherigen und informierten Zustimmung. Indigene Völker kämpfen hier für ihre Rechte an ihrem Land, ihrer Kultur, ihrem traditionellen Wissen und den damit verbundenen genetischen Ressourcen. Dabei sitzen sie zwischen allen Stühlen der Regierungen und Konzerne.
Wenn Unternehmen und wissenschaftliche Institute die Wirkung pflanzlicher Substanzen erforschen, spielt das traditionelle Wissen indigener Völker und lokaler Gemeinschaften oft eine entscheidende Rolle. Die Beispiele dafür sind zahlreich: Umckaloabo, ein Bronchitis-Mittel, wird aus Extrakten der Pelargonium-Wurzel hergestellt, einer Geranien-Art aus Südafrika. Aber genutzt wird nicht nur die Pflanze, sondern auch das traditionelle Wissen der Xhosa und Zulu, die seit Generationen die Wirkung von Pelargonium kennen. Das Wissen der San aus dem südlichen Afrika war die Basis für die Entwicklung eines Diätprodukts aus dem Wirkstoff der Hoodia-Pflanze, die seit Jahrhunderten genutzt wird, um Hunger zu unterdrücken. Mehr als einhundert Patente zur Nutzung des Neem-Baums greifen auf traditionelles Wissen aus Indien zurück. Allein in den USA ist die Nutzung von Kurkuma mit über 400 Patenten geschützt, die indische Pflanze wird unter anderen gegen Hautkrebs eingesetzt. Und Patente des Schweizer Multis Nestlé beziehen sich auf Rooibos und Honeybush, deren Wirkung für die Behandlung von Hautkrankheiten in Südafrika seit Generationen zum traditionellen Wissen gehört.
Wie die Beispiele zeigen, werden traditionelles Wissen und genetische Ressourcen nicht nur einfach genutzt, sondern Unternehmen wollen sich mit Patenten Nutzungsmonopole darauf sichern. Dabei kommt ihnen entgegen, dass traditionelles Wissen nicht oder zumindest nicht ausreichend geschützt ist. Im Rahmen der Prüfung von Patentanträgen legt beispielsweise das Europäische Patentamt für die Prüfung der Kriterien „Erfindung“ und „Neuheit“ gewöhnlich den Stand der technischen Entwicklung zugrunde, wie er in der einschlägigen Literatur niedergelegt ist. Traditionelles Wissen wird aber meist in mündlicher Form von Generation zu Generation weitergegeben. Selbst in Fällen, in denen es, etwa von Ethnologen, dokumentiert ist, besteht die Gefahr, dass eine auf technische Vorgänge spezialisierte Behörde hierzu keinen systematischen Zugang hat.
Für indigene Völker bleibt dabei meist nur die Zuschauerrolle – sofern sie von den Vorgängen überhaupt Kenntnis haben. Daher fordern sie, dass die Nutzung ihres Wissens und ihrer Ressourcen an ihre vorherige informierte Zustimmung geknüpft wird. Der damit einhergehende Verhandlungsprozess um Zugang und gerechten Vorteilsausgleich soll mit ihrer Kultur der Entscheidungsfindung übereinstimmen. Mit anderen Worten: Die Zustimmung zur Nutzung soll ohne Zwang gegeben werden, es geht um eine freie vorherige informierte Zustimmung.
Viele Regierungen, im Norden wie im Süden, zeigen sich gegenüber diesen Forderungen zurückhaltend. Kanada etwa verweist auf seine nationalen Gesetze und lehnt jegliche weitergehende, internationale Verpflichtung ab. Ähnlich argumentiert Indien, das in der Frage der Rechte indigener Völker keinerlei Handlungsbedarf erkennen will. Andererseits haben im September 2007 alle UN-Mitglieder mit Ausnahme von Neuseeland, den USA und eben Kanada die UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker angenommen. Damit haben sie, wenn auch völkerrechtlich nicht verbindlich, die Rechte indigener Völker auf ihr Land, ihre natürlichen Ressourcen und ihr traditionelles Wissen ausdrücklich akzeptiert.
Nach wie vor ist fraglich, ob in Nagoya ein neues Protokoll gegen Biopiraterie vereinbart werden kann. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob es Zähne haben und geeignet sein wird, Biopiraterie wirksam zu unterbinden. Mit anderen Worten: Es geht nicht nur um das Ob, sondern auch um das Wie. Wird das Abkommen formal ein völkerrechtlich verbindliches Protokoll unter der CBD, so dass alle Unterzeichnerstaaten zur Umsetzung verpflichtet sind? In der Frage der Rechte indigener Völker darf es nicht hinter die erwähnte UN-Erklärung zurückfallen – eine Art Lackmus-Test dafür, ob die Regierungen die Rechte indigener Völker tatsächlich anerkennen wollen.
Heiß umkämpft ist auch der Geltungsbereich. Die Industrieländer wollen bestimmte Bereiche ausschließen oder das neue Protokoll anderen Abkommen, etwa zum Patentschutz, unterordnen. Die Entwicklungsländer hingegen verlangen, dass Patentrechtsbestimmungen so zu gestalten sind, dass sie die Ziele der CBD unterstützen und ihnen nicht zuwiderlaufen. Sollten sich die Industrieländer durchsetzen, besteht die Gefahr, dass ungeachtet eines neuen Protokolls gegen Biopiraterie die Biopiraten durch Patentgesetze weiter geschützt werden könnten.
Eine weitere Frage ist, ob der Vorteilsausgleich auch angewendet werden soll, wenn eine Ressource bereits vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Protokolls genutzt wurde. Hier geht es darum zu verhindern, dass mit dem Protokoll Biopiraterie im Nachhinein legalisiert und belohnt wird, etwa mit Blick auf Pflanzen, die nach Inkrafttreten der CBD in Genbanken und botanische Gärten gelangt sind. Und nicht zuletzt ist die Frage entscheidend, ob das Protokoll Biopiraterie durch die Androhung von harten Sanktionen unattraktiv erscheinen lässt und darüber hinaus für den Fall von Vertragsverletzungen einfach umzusetzende Mechanismen vorschreibt, die insbesondere indigenen Völkern die Möglichkeit geben, ihre Rechte in Industrieländern durchzusetzen und auf Unterlassung oder Kompensation zu klagen.
Im Kern geht es um Gerechtigkeit. Hinter abstrakt anmutenden Vorstellungen wie dem gemeinsamen Erbe der Menschheit und daraus folgend dem freien, unregulierten Zugang zu genetischen Ressourcen und traditionellem Wissen verstecken sich mächtige ökonomische Interessen. Mit ihrer Vormachtstellung in Forschung, Entwicklung und Marketing können die Industrieländer die Spielregeln zur Zeit alleine bestimmen. Daran muss ein Protokoll gegen Biopiraterie, so es denn Sinn machen soll, grundsätzlich etwas ändern. Diejenigen, die bislang nur Zuschauer sind, müssen auf dem Spielfeld zugelassen werden, die Spielregeln müssen dazu taugen, die bisherigen Asymmetrien auszugleichen. Wenn dies gelingt, war der lange Kampf von der Unterzeichnung der CBD 1992 in Rio bis zum Abschluss der Verhandlungen für ein Protokoll gegen Biopiraterie nicht umsonst.
Michael Frein leitet die Arbeitsstelle Handel und Umwelt beim Evangelischen Entwicklungsdienst (EED).
Chee Yoke Ling ist Juristin und Programmdirektorin beim Third World Network.