Von R. Scott Appleby
35 Mitglieder des Think Tanks „Chicago Council of Global Affairs“ haben unlängst die US-Regierung aufgefordert, in Religionsfragen sensibler und kompetenter vorzugehen. Nicht nur dem Außen- und das Verteidigungsministerium wurden das angeraten, sondern auch den Ministerien für Heimatschutz und Bildung sowie der Entwicklungsagentur USAID. Die Wissenschaftler plädieren dafür, dass auch nichtstaatliche Organisationen wie amerikanische Universitäten und Wirtschaftsunternehmen ihre Kontakte zu bestimmten Religionsgemeinschaften im Ausland verstärken sollten. Und sie setzen sich dafür ein, dass die Regierung von Präsident Barack Obama für die Religionsfreiheit und deren weltweite Durchsetzung eintritt.
Doch auf welche Religionsgemeinschaften sollten die USA bevorzugt zugehen und mit welchen Zielen? Und warum soll die Frage der Religionsfreiheit im Mittelpunkt der Diskussion über den Dialog mit den Religionsgemeinschaften stehen? Am Beispiel der Türkei, die im Mittleren Osten eine politische Schlüsselposition innehat, kann man das deutlich machen. Abgesehen von China hat keine Nation ein höheres Wirtschaftswachstum als die Türkei. In den vergangenen zehn Jahren hat sich das Land schnell modernisiert und international stark an Bedeutung gewonnen. Es ist dabei, das mächtigste und einflussreichste demokratische Land mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung zu werden.
Unter der Führung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, einem gläubigen Muslim, wird das Land seit 2003 von der Mehrheitspartei AKP transparent, effektiv und redlich regiert. Die Bevölkerung hat seitdem eine Regierung erlebt, die auf ihre Anliegen eingeht. Hingegen verlieren die Türken zunehmend die Geduld mit den ständigen Manipulationen einer strikt laizistisch gesinnten nationalistischen Elite, einer Schattenregierung, die vielfach offen als ein „Staat im Staate“ bezeichnet wird. Diese Kreise haben die Geschicke des Landes seit dem Tod Kemal Atatürks im Jahr 1938 bestimmt und stützen sich im Wesentlichen auf die Armee.
Erdogan und seine Verbündeten haben gute Chancen, sich im internen Machtkampf gegen die Generäle durchzusetzen. Anfang Juli musste sich das laizistisch orientierte Verfassungsgericht der Realität beugen und zulassen, dass Mitte September per Referendum über den größten Teil einer Verfassungsreform entscheiden wird, die Erdogans AKP lanciert hatte. Die Verfassungsreform würde das politische System der Türkei offener gestalten und die Macht nicht gewählter Eliten weiter verringern.
Im Herzen des einstigen osmanischen Reichs ist also nichts Geringeres im Gange als eine gewaltlose Umwälzung der Machtverhältnisse. Die Kulturrevolution, die im Begriff ist, das Land von Grund auf zu verändern, wird entscheidend geprägt von den fortschrittlichen und auf Liberalisierung gerichteten Lehren von Fethullah Gülen. Gülen ist ein türkischer Imam, der im selbstgewählten Exil in Pennsylvania lebt. Sein Denken beeinflusst ein globales Netzwerk von Schulen, Hochschulen, Krankenhäusern, Medienunternehmen und Bürgerinitiativen. Dieses Netzwerk bildet praktisch eine eigene Zivilgesellschaft, die daran arbeitet, Gülens Programm der religiösen Toleranz, des interkulturellen Dialogs und des sozialen Engagements gegen die Armut zu verbreiten und durchzusetzen.
Gülen setzt sich für einen tragfähigen religiösen Pluralismus ein. Ihm widerstrebt öffentliches Missionieren und er hält seine Anhänger dazu an, eher Schulen als Moscheen zu bauen. Manche Islamisten glauben deshalb, er vertrete einen „islamfreien Islam“, der die angeblich absoluten Wahrheitsansprüche ihrer Religion nicht ernst nimmt. Andere, die zum harten Kern des türkischen Laizismus gehören, halten es für unmöglich, dass eine derartig aufgeschlossene Person des öffentlichen Lebens aus dem Islam hervorgehen kann. Sie vermuten deshalb, dass Gülens Bewegung letztlich die Durchsetzung des islamischen Rechts und die Errichtung einer Theokratie anstrebt.
Bisher gibt die Gülen-Bewegung zu derartigen Vorwürfen keinen Anlass. Entgegen den Annahmen der Kritiker identifizieren sich die türkischen Muslime im Großen und Ganzen mit der Kultur der Moderne und mit liberalen politischen Vorstellungen. Sie finden es zunehmend in Ordnung, ihre religiösen Überzeugungen im privaten Raum beziehungsweise in einer pluralistisch ausgerichteten Öffentlichkeit auszuleben, die teilweise laizistisch ist und teilweise religiös orientiert. Die Gülen-Bewegung repräsentiert eine neue Art, religiöse Überzeugungen in die Gesellschaft zu tragen, und sie spricht für eine neue Generation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich sowohl vom Laizismus als auch vom Fundamentalismus abgewandt haben. Diese jungen Leute sehen keinen Widerspruch darin, traditionelle religiöse Praktiken, Moralvorstellungen und Kleidungsvorschriften zu übernehmen und sich gleichzeitig mit einer pluralistischen Weltanschauung zu identifizieren.
Im Verlauf des nächsten Jahrzehnts wird diese Generation im Iran, in der Türkei, in China und in Brasilien ihre religiös intoleranten, gleichgültigen oder extremistischen Vorgängergeneration in den Führungspositionen ablösen. Die jüngeren Leute denken ganz anders als die alte Riege, vor allem in Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Eboo Patel, ein Soziologe und charismatischer amerikanischer Muslim mit indischen Wurzeln, spricht wie Gülen davon, dass man eine „goldene Generation“ junger Menschen heranbilden müsse, die sich zum Wohle aller für einen generellen Wandel einsetzt.
Erfolgreiche Reformbewegungen wie Patels Institut für die Versöhnung der Religionen, die Gülen-Bewegung und katholische Erneuerungsbewegungen wie die Gemeinschaft Sant’Egidio sind sich bewusst, dass man flexibel vorgehen und dogmatisches Auftreten vermeiden muss, wenn man die Jugend für religiöse Ziele gewinnen will. Ihre Zielgruppe ist die Zivilgesellschaft. Sie stützen sich auf länderübergreifende Netzwerke, mit denen der soziale Wandel erreicht werden soll – durch freundschaftlichen Austausch, Dialog und Zusammenarbeit über religiöse und kulturelle Grenzen hinweg. Solche Bemühungen verbreiten sich in der globalisierten Welt und beeinflussen auch die Politik – wenn auch eher indirekt.
Nun zurück zu der am Anfang gestellten Frage: Mit wem sollten amerikanische Universitäten, Jugendorganisationen, Stiftungen und Unternehmen Kontakt aufnehmen, und welche Ziele sollten sie dabei verfolgen? Es wäre auf jeden Fall empfehlenswert, auf das Angebot des Gülen-Netzwerkes einzugehen, ins Gespräch zu kommen und gemeinsam Antworten zu suchen. Fachleute in den USA und anderswo haben begonnen, sich mit der nötigen wissenschaftlichen Distanz mit dem Phänomen der Gülen-Bewegung zu beschäftigen. Beamte und Senatoren aus elf Staaten des Mittleren Westens bereisen auf Einladung der Türkei das Land, um herauszufinden, ob es sich um eine stabile Demokratie handelt, deren teilweise auf dem Islam fußende Wirtschaft weiteres Wachstum erwarten lässt. Universitäten bemühen sich um Austauschmöglichkeiten für Studenten und Lehrkräfte, Unternehmen versuchen neue Märkte zu erschließen, einzelne Bundesstaaten halten nach potenten Handelspartnern Ausschau. Sie alle gehen der Frage nach, ob ein toleranter Islam mit Demokratie, wirtschaftlichem Fortschritt und pro-westlicher Politik koexistieren kann und ihnen sogar günstige Rahmenbedingungen bietet. Die US-Regierung will die Entfaltung der Demokratie in der Türkei unterstützen, zumal der Staat als Bündnispartner des Westens eine strategisch wichtige Position zwischen Westen und Osten innehat.
Doch die vielversprechende Annäherung kann nur dauerhaft sein, wenn man sich ernsthaft und konstruktiv mit dem Islam in der Türkei beschäftigt. Darüber hinaus braucht die Welt dringend einen mehrheitlich muslimischen Staat als Modell einer auf Toleranz und Religionsfreiheit basierenden Demokratie. Deshalb plädierte Präsident Obama schon bald nach seiner Amtsübernahme vor dem türkischen Parlament für eine verstärkte Partnerschaft des Westens mit der muslimischen Welt. Er befürwortete die türkischen Bemühungen um die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und appellierte an die Türkei, zur Überbrückung der Kluft zwischen der muslimischen und der westlichen Welt beizutragen.
Der Appell unseres Think Tanks an die Politik, auf religiöse Akteure zuzugehen, ist natürlich auch kritisiert worden. Diejenigen, die in der Religion ausschließlich eine Quelle von Konflikten, Gewalt und Barbarei sehen, lehnen einen verstärkten Einfluss der Kirche auf den Staat ab. Andere wollen die Religionen vor Manipulationen durch Regierungen geschützt wissen. Doch nachdem viele Amerikaner der Religion jahrelang den Rücken zugekehrt hatten in der Hoffnung, sie werde sich in Luft auflösen, ist den meisten inzwischen klar geworden, dass sie immer ein wichtiger Faktor bleiben wird. Fast überall gibt es Auseinandersetzungen über Rechte, Privilegien, Sicherheit, Bildung sowie wirtschaftliche Prioritäten und die dahinter stehenden Werte. Das Denken, das diesen Debatten zugrunde liegt, stammt in der Regel immer aus der einen oder anderen Variante des Islam oder des Christentums, des Judentums, des Hinduismus, Buddhismus oder Konfuzianismus.
Doch fälschlicherweise tendieren die meisten Amerikaner, und ganz besonders diejenigen, die für die Bundesregierung arbeiten, zu der Auffassung, Beziehungen zu ausländischen Religionsgemeinschaften verstießen gegen den Passus der amerikanischen Verfassung, der es dem Staat verbietet, bestimmte Religionen zu begünstigen. Es mag für offizielle Kontakte der amerikanischen Regierung mit Religionsgemeinschaften in anderen Ländern gewisse juristische Beschränkungen geben. Aber die Experten sind sich darüber einig, dass Institutionen wie USAID, die in ihren Entwicklungsprojekten seit Jahren mit afrikanischen und asiatischen Religionsführern zusammenarbeiten, eine offizielle Legitimation und Richtlinien brauchen, wenn sie mit den einheimischen Imamen, Priestern und Gurus notwendige Zweckbündnisse eingehen.
Warum ist also die Freiheit der Religionsausübung so wichtig? Sowohl die USA als auch die Europäische Union (EU) sind daran interessiert, die Ausbreitung der Demokratie zu fördern. Deshalb müssen sie auch ein Interesse daran haben, dass die Religionen sich frei entfalten können. Das fördert eine lebendige öffentliche Auseinandersetzung, durch die das politische Bewusstsein der Bevölkerung gestärkt und eine demokratische Entwicklung vorangetrieben wird. Unvoreingenommene Kontakte mit Religionsgemeinschaften und religiösen Netzwerken sind auf Regierungsebene und im nichtstaatlichen Bereich bisher eher die Ausnahme als die Regel, besonders in Europa. Politiker und laizistische Literaten befürchten, dass die Kirchen, die gegen ihren Bedeutungsverlust kämpfen, eine politische Öffnung gegenüber der Religion zu aggressiver Missionsarbeit ausnutzen würden.
Doch wenn man die zu erwartenden Vorteile eines sinnvollen Austausches mit anderen Kulturen und ihrer religiösen Basis nicht berücksichtigt, schneidet man sich ins eigene Fleisch. Deshalb ist es ein großer Fehler, dass Europa die Bedingungen für den EU-Beitritt der Türkei auf unfaire Weise verschärft hat. Die säkularen europäischen Politiker waren nur allzu bereit, die Eurozone gemeinsam mit ihren christlichen Landsleuten, insbesondere den Katholiken, zum Hort christlicher Zivilisation zu verklären. Diese Art von Islamfeindlichkeit könnte eine wichtige Nation, die im Begriff ist, sich erneut als bedeutendes Machtzentrum zu etablieren, dazu veranlassen, sich wirtschaftlich und strategisch stärker an den Iran und andere politische Rivalen Europas zu binden.
Universitäten, Unternehmen, Kulturschaffende und Politiker sollten sich stärker um Kontakte zu Religionsgemeinschaften in anderen Ländern bemühen. Auch die europäischen Kirchen können dabei eine konstruktive Rolle spielen, wenn ihre Kommunikation mit dem religiös „Anderen“ weniger zur Missachtung als zu gegenseitigem Respekt beiträgt. Entscheidend für den Erfolg derartiger Bemühungen wäre ein klares Verständnis davon, dass die „Freiheit der Religionsausübung“ nicht als Freibrief für Missionsbemühungen ausgelegt werden darf, sondern solchen Bestrebungen entgegengewirkt werden muss.
Die Türkei ist keineswegs die einzige Nation, in der die Religion noch eine große Rolle spielt und die an der Schwelle wichtiger wirtschaftlicher und politischer Veränderungen steht. Demographen und Religionswissenschaftler sagen voraus, dass es in China bis 2030 gewaltige christliche und muslimische Bevölkerungsanteile geben wird. Indien wird auch in Zukunft kulturell und politisch von verschiedenen Strömungen des wieder erstarkenden Hinduismus geprägt werden. Und das evangelikale Christentum ist dabei, sich in Lateinamerika, Subsahara-Afrika und großen Teilen Südostasiens auszubreiten. Wer diese Entwicklungen ignoriert und sich weiterhin von der Skepsis gegenüber den Religionen leiten lässt, wird dort nichts mehr zu melden haben.
Aus dem Englischen von Anna Latz.
R. Scott Appleby leitet das Joan B. Kroc Institute for International Peace Studies an der University of Notre Dame in Indiana. Er gehört zum Vorstand der Task Force on Religion and U.S. Foreign Policy, die im Februar ihren Bericht „Engaging Religious Communities Abroad“ vorgelegt hat. Zu seinen Büchern gehört „The Ambivalence of the Sacred: Religion, Violence and Reconciliation“ (2000).