Autorin
Constanze Bandowski
ist freie Journalistin in Hamburg mit den Schwerpunkten Eine Welt und Lateinamerika.Drei Stunden schuckelt der Geländewagen von der Kolonialstadt hinauf in die Anden. Je höher er kommt, desto enger und holpriger werden die Pisten, desto weiter erstreckt sich der Blick über die Hochgebirgslandschaft: Auf gelbgrünen Wiesen grasen Alpakas. Ab und zu duckt sich eine Bauernhütte hinter einem Steinwall. Kein Baum ist zu sehen und manchmal klaffen pechschwarze Erdrisse wie Wunden an den kahlen Hügeln. „Das Wetter spielt in den letzten Jahren verrückt“, sagt Marcela Machaca. „Wir können uns auf nichts mehr verlassen.“ Die Temperaturen steigen, auf extreme Trockenzeiten folgen plötzliche Hagelschauer und Sturzregen. Dabei rutschen ganze Hänge hinab in die Tiefe, reißen Kartoffeläcker, Viehweiden und manchmal auch Straßen mit sich. Das alles hat es vor wenigen Jahren in der Gemeinde Quispillaccta noch nicht gegeben.
Marcela Machaca hat eine Vision: Sie will, dass die Bauernfamilien in ihrer Heimat wieder in Einklang mit der Natur, in bescheidenem Wohlstand und Frieden leben können. „Alle reden dauernd von Entwicklung“, schimpft sie und eine tiefe Zornesfalte gräbt sich quer über ihre Stirn. „Dabei geht es immer nur um Wachstum, Fortschritt und Ausbeutung!“ Wie bei den Großgrundbesitzern in den tieferen Lagen, die Mais als Monokulturen anbauen und damit die Böden auf Dauer auslaugen. Oder die Viehzüchter, die die Weiden zerstören, weil sie zu viele Rinder halten. Die quirlige Agronomin verfolgt ein anderes Konzept: Sie will moderne Landwirtschaft mit dem traditionellen Wissen der Bergbauern verbinden und daraus ein ganzheitliches Entwicklungsmodell schaffen, auch wenn sie das Wort so nie in den Mund nehmen würde.
Ihr geht es um das Gemeinwohl, um Frieden, um Harmonie. „Wir sind der Dreh- und Angelpunkt zwischen der modernen und traditionellen Welt“, sagt sie und unterstreicht diesen Satz mit einem energischen Nicken. „Wir werden das Recht auf Nahrung durch die Wiederbelebung alter Bräuche, Rituale und positiver Energien umsetzen.“ Auf internationalen Konferenzen beißt sie mit dieser Idee nicht selten auf Granit. Auch die Bewohner von Unión Portrero hielten die junge Marcela für geistesgestört, als sie 1987 nach dem Studium in ihr Heimatdorf zurückkehrte: Eine 24-jährige Frau, alleinstehend, ohne Kinder, mit einem Diplom in der Tasche, die eigenständig zu Schaufel und Spitzhacke greift und Steinwälle rund um ihren Acker auftürmt, um ein gutes Mikroklima für Kartoffeln, Bohnen und Mais zu schaffen – das hatte es bis dahin noch nicht gegeben.
Als sie dann auch noch die Bevölkerung zusammentrommeln wollte, um die traditionelle Gemeinschaftsarbeit, die Minka, wiederzubeleben, war es ganz aus. „Sie haben uns geschnitten“, erinnert sich Marcela Machaca. „Das war eine harte Zeit, aber zum Glück waren wir zu zweit.“ Ihre jüngere Schwester Magdalena, ebenfalls Agrarwissenschaftlerin, stand ihr zur Seite.
„Sie nannten uns die verrückten Schwestern“, sagt Marcela Machaca. Dann bricht sie in schallendes Gelächter aus. Ihren Humor hat sie sich trotz allem bewahrt.
Bis 1987 tobte im Hochland von Ayacucho der Bürgerkrieg zwischen der maoistischen Guerillaorganisation Leuchtender Pfad und dem peruanischen Militär. Die Maoisten hatten hier in den 1970er Jahren ihr gesellschaftliches Experiment gestartet. Schnell schlug es in Gewalt und Repression um. Die Anführer folterten, vergewaltigten und führten Schauprozesse durch. Die Familie Machaca flüchtete 1976 nach Ayacucho. Marcela war damals 13 Jahre alt. Die Schreie und die Bilder der Leichen verfolgen sie bis heute. Als das Militär 1984 einmarschierte, eskalierte die Gewalt. Erst als die Bevölkerung Bürgerwehren bildete und sich der Leuchtende Pfad auf die Großstädte konzentrierte, wurde es ruhiger. Das war die Zeit, als die „verrückten“ Schwestern ihr eigenes, friedliches Experiment starteten.
„Die Angst sitzt tief“, murmelt Marcela Machaca. „Die Menschen sind schwer traumatisiert, Familien sind zerstört, es gibt viele Waisen. Ich möchte, dass das endlich aufhört und wir einfach in Frieden und Harmonie ein gutes Leben führen können.“ Aus diesem Traum zieht die kleine Frau ihre Energie und Willenskraft. Um ihn zu verwirklichen, hat sie sich gegen Heirat und Kinder entschieden. 1991 gründete sie zusammen mit Magdalena den Verein ABA (Asociación Bartolomé Aripaylla), benannt nach dem Bauernführer Bartolomé Aripaylla. „Er hat die Leute während der Kolonialzeit zusammengebracht“, erklärt die Vereinsvorsitzende. „Daran wollen wir anknüpfen.“
In den vergangenen 25 Jahren hat Marcela Machaca viel erreicht. Es ist ihr gelungen, das Wissen der Schamanen zu dokumentieren. Sie hat gelernt, welche Pflanzen und Bäume in großer Höhe wachsen und welche Pflanzen Wasser ziehen. Stück für Stück hat sie die Bevölkerung für sich gewonnen. Sie hat die Gemeinschaftsarbeit, die Minka, wieder eingeführt. Gemeinsam haben die Kleinbauern das Land mit Steinwällen durchzogen und riesige Lagunen ausgehoben, die Regen- und Grundwasser sammeln. 66 dieser Seen durchziehen inzwischen die Region. Sie sichern die Landwirtschaft in Lagen von bis zu 4.500 Metern.
Die Bio-Landwirte bauen heute Mais, Kartoffeln und Gemüse an. Sie halten Milchvieh und produzieren Käse. Manche züchten Forellen. „Niemand muss mehr hungern“, sagt Marcela Machaca. Stolz und Erleichterung liegen in ihrer Stimme. „Die Minka ist für uns eine Art Therapie“, erklärt sie. Alles Gemeinsame helfe, das Trauma zu überwinden. So haben sich Nachbarschaftsgruppen gebildet, Kinder-, Frauen und Jugendgruppen treffen sich regelmäßig. Marcela Machaca bringt Kindern und Jugendlichen die alten Werte und Bräuche bei und zeigt ihnen, wie wichtig die Stärkung der Götter ist und damit der Schutz der Umwelt.
Unión Portrero steht unter Wasser. Auch dies ist eine Ausnahme in der sonst trockenen Gegend. Der Wagen parkt vor dem Büro von ABA. Gegenüber auf dem Sportplatz spielen junge Frauen in bunten Röcken und Sandalen Fußball. Ab und zu gellt ein kurzer Pfiff durch die nasskalte Luft. Marcela Machaca fährt sich mit den Händen durch das tiefschwarze Haar, setzt den Filzhut mit der bunten Krempe auf, zieht den Reißverschluss des Anoraks hoch und stapft in ihren Gummistiefeln zum Fußballfeld. Am liebsten würde sie mitkicken, aber die Leiste macht ihr zu schaffen. Die harte Arbeit hat ihre Spuren hinterlassen. Die Schmerzen sind trotz Operation geblieben. „Auch Fußball ist unsere Therapie“, sagt sie auf der Tribüne und geht bei jedem Schuss mit. „Es hilft uns, unsere Gefühle auszudrücken.“ Und es fördert den Zusammenhalt. Die Leute kommen strahlend auf sie zu und begrüßen sie. Niemand glaubt heute mehr, dass Marcela Machaca verrückt ist.
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