Als das extremistische Regime der Taliban 2001 besiegt worden war, blickten die Menschen in Afghanistan voller Hoffnung in die Zukunft. Selbst die Afghanen, die ins Ausland gegangen waren, konnten ihre Heimkehr kaum erwarten. Nach fast zwei Jahrzehnten des Chaos und einem verheerenden Bürgerkrieg zwischen den bewaffneten Gruppen der Mudschaheddin, die nach der Vertreibung der Sowjetarmee aus Afghanistan die politische Macht nicht teilen wollten, glaubten die Afghanen, die Zeiten von Gewalt und Aufruhr seien für sie überwunden.
Doch die 2002 gebildete Regierung war zu schwach, um ihre Aufgaben gegenüber der Bevölkerung wahrzunehmen. Neben Präsident Hamid Karsai und einigen Ministern, die über gewisse Kenntnisse verfügten, bestand sie aus Warlords, die nicht in der Lage waren, die Regierungsgeschäfte zu führen und das Land zu verwalten. Die Macht in den Provinzregierungen und der Verwaltung lag in den Händen der Dschihadisten, deren Erfahrung sich auf den Umgang mit Schusswaffen beschränkte.
Autor
Enajad Najafizada
ist freier Journalist in Masar-e Sharif und arbeitet unter anderem für das Magazin „Der Spiegel“ und für die Nachrichtenagentur AFP.Mit der Entwicklungshilfe kamen sie zu Geld und die Korruption nahm zu. Auch von der Ausweitung des Mohnanbaus profitierten korrupte Funktionäre, Kriminelle und die Taliban. Innerhalb und außerhalb der Regierung verschärften sich ethnische Spannungen. Pakistan begann, die Taliban finanziell zu unterstützen, und so gewannen sie im Süden wieder an Boden und drangen auch in den Norden Afghanistans vor.
Der afghanischen Regierung gelang es nicht, eine soziale Infrastruktur aufzubauen, und im Leben der Menschen hat sich wenig verändert. Doch die Kluft zwischen Arm und Reich wuchs, und einer Minderheit, die Hilfsgelder veruntreute und Bestechungsgelder annahm, ging es von Tag zu Tag besser. Einige Städte zeigen zwar Zeichen wirtschaftlicher Entwicklung, etwa Herat im Westen, Masar-e Sharif im Norden, Nangarhar im Osten und die Hauptstadt Kabul. Doch der Rest des Landes blieb arm und von Arbeitsmöglichkeiten und staatlichen Dienstleistungen abgeschnitten.
Die USA hielten den Krieg in Afghanistan für beendet. Sie versuchten, die Kontrolle über das Land aufrechtzuerhalten, indem sie die Regionen Warlords überließen, die sie mit Millionen von Dollars finanzierten. So wurden die nördlichen und nordöstlichen Provinzen unter ehemaligen Kommandeuren der Nordallianz wie General Dostum, Hadschi Mohammed Mohaqiq, Atta Mohammed Noor und General Daud Daud aufgeteilt. Sie hatten den USA nach dem 11. September 2001 geholfen, die Taliban aus dem Norden des Landes zu vertreiben.
Die Rückkehr der ehemaligen Mudschaheddin in Regierungsämter hatte bedeutsame Konsequenzen. Nepotismus und Korruption wurden zur Norm. Die Ministerien wurden unter politischen und ethnischen Gruppierungen aufgeteilt, die während des Bürgerkriegs gegeneinander gekämpft hatten. Die Spannungen zwischen den Ethnien wurden stärker, und die paschtunischen Minderheiten in den nördlichen Regionen fingen an, mit den Taliban zu sympathisieren.
Es gehört zur Taktik der Taliban, sich vorübergehend zurückzuziehen
Nach und nach fassten die Taliban in Kundus im Nordosten Afghanistans Fuß. Ende 2007 übernahmen sie die Kontrolle über einige Provinzstädte und seit 2008 beherrschen sie die Stadt Kundus. Die dort stationierten deutschen Truppen betonten zugleich, dass sie im Rahmen einer „Friedensmission“ vor Ort seien und nicht für Kampfeinsätze zur Verfügung stünden. Auch die afghanische Regierung war zu schwach, der raschen Ausbreitung der Taliban im Norden Widerstand entgegenzusetzen.
Von den in Pakistan ausgebildeten Kommandeuren abgesehen sind die meisten Taliban im Norden nicht ideologisch motiviert. Die Kommandeure haben den Auftrag, Terror zu verbreiten, damit sie in der Region leichter agieren können. Die meisten einfachen Taliban, die gegen die NATO und die afghanische Regierung kämpfen, sind entweder Arbeitslose oder Kriminelle, die hierher geflüchtet sind, um nicht ins Gefängnis zu kommen.
Nachdem ihre Kräfte zugenommen hatten, begnügten sich die Taliban nicht mehr mit der Herrschaft über Kundus. Es gelang ihnen, sich in anderen Nordprovinzen wie Baghlan, Takhar, Badakhshan, Samangan, Jowzjan, Sar i-Pul und Faryab festzusetzen, sogar in Balkh, ursprünglich einer der sichersten Provinzen. Ende 2010 und Anfang 2011 gingen die amerikanischen Spezialeinheiten gemeinsam mit ihren afghanischen Partnern schließlich ernsthaft gegen die Taliban vor, die auch von al-Qaida und usbekischen Milizen unterstützt wurden.
Direkt nach den gemeinsamen Kampfeinsätzen der afghanischen und amerikanischen Truppen sah es so aus, als seien die Taliban von der Bildfläche verschwunden. Doch obwohl die afghanische Regierung behauptet, es sei ihr gelungen, die Taliban gemeinsam mit den NATO-Truppen aus den meisten Nordprovinzen zu vertreiben, ist die Bevölkerung weiter beunruhigt. Denn es gehört zu den Taktiken der Taliban, sich zeitweilig zurückzuziehen, um dann jederzeit wieder aufzutauchen. Normalerweise setzen sie ihre Aktivitäten während des Winters wegen der Kälte vorübergehend aus. Auch in diesem Winter behauptet die Regierung in Kabul seit Wochen, sie hätte die Taliban bezwungen. Doch das ist eine Illusion.
Unterdessen hat die afghanische Regierung mit Unterstützung der NATO neben der nationalen Polizei (Afghan National Police – ANP) neuartige Polizeieinheiten geschaffen, die mehr Sicherheit gewährleisten und verhindern sollen, dass die Taliban dorthin zurückkehren können, wo sie sich im Norden vor eineinhalb Jahren ausgebreitet hatten. Die Lokalpolizei (Afghan Local Police – ALP) und eine spezielle Schutztruppe (Critical Infrastructure Protection - CIP) werden von den amerikanischen Spezialeinheiten und den an der ISAF (International Security Assistance Force) beteiligten Ländern, also auch von Deutschland, mitfinanziert. Die ALP soll auf 20.000 Mann aufgestockt werden.
Doch werden in Sar i-Pul und in anderen nördlichen Provinzen wie Baghlan, Balkh und Kundus auch ehemalige Taliban in die Einheiten der ALP aufgenommen, darunter Kriminelle. Deshalb lässt sich kaum vorhersagen, ob solche Initiativen geeignet sind, die Sicherheitslage zu verbessern. Die Truppen der CIP sind in manchen Nordprovinzen wie Balkh und Jowzjan erst seit kurzem im Einsatz. Eigentlich sollten sie dort mindestens ein Jahr lang ihren Dienst versehen, doch nachdem von Übergriffen gegenüber der einheimischen Bevölkerung berichtet wurde, gaben Vertreter der NATO unlängst bekannt, dass sie bald wieder entwaffnet werden sollen.
Wer die Macht einer bestimmten Gruppe überträgt, der fördert die Korruption
In den ersten Jahren wurden in Afghanistan viele wichtige Entscheidungen von den internationalen Truppen der ISAF und der UN-Mission (United Nations Assistance Mission in Afghanistan – UNAMA) getroffen. Doch jetzt scheint es so, als seien die Provinzen im Norden das persönliche Eigentum der Machthaber, von denen sie gerade regiert werden. In Balkh etwa verfügt der Gouverneur Atta Mohammed Noor, ein ehemaliger Warlord, von der Regierung bis in die Wirtschaft über alle Positionen in der gesamten Provinz. Er ist jetzt schon seit über sieben Jahren im Amt. Die Minister sind alle persönlich mit ihm verbunden. Er verteilt alles, von der Beteiligung an Regierungsprojekten bis zu den Hilfsgeldern. Als die internationale Gemeinschaft nach Afghanistan kam, besaßen Warlords wie Noor nichts, aber jetzt gehören ihnen Milliarden von Dollar, die sie im Ausland investiert haben.
Wenn man die Macht einer bestimmten Gruppe überträgt, fördert man Korruption und ethnische Spannungen und trägt dazu bei, dass die Milizen der herrschenden Ethnie die Minderheiten drangsalieren. Das trifft besonders die Paschtunen im Norden Afghanistans. Sie hatten unter der Herrschaft Atta Mohammed Noors immer am meisten zu leiden, und deshalb sind sie bereit, die Taliban in ihren Dörfern willkommen zu heißen. Überall, wo Paschtunen leben, sind auch die Taliban präsent, weil die Paschtunen sich von den Regionalregierungen nicht vertreten fühlen. Ähnlich wie in Balkh ist die Lage in der Nordprovinz Jowzjan, in der die Usbeken dominieren und alles für sich beanspruchen. So schürt die Strategie des Westens die Spannungen im Norden Afghanistans. Sie bereitet den Taliban den Weg zur Rückkehr an die Macht, denn sie wissen solche Konflikte stets für sich zu nutzen.
Die Korruption in Afghanistan war stets unter den hochrangigen Funktionären am größten, die sich die Mittel für den Wiederaufbau des Landes aneignen konnten. Das gilt auch für den Finanzskandal im vergangenen Jahr, bei dem der Bruder von Präsident Karsai, der Halbbruder des Vizepräsidenten und viele andere Anteilseigner mit guten Beziehungen zur Regierung die Kunden der Kabul-Bank um Einlagen von mehr als 900 Millionen Dollar betrogen. In ähnlicher Weise rissen die Verwandten hochrangiger Regierungsvertreter zahlreiche Projekte an sich. So schließt etwa der Sohn des afghanischen Verteidigungsministers mit der NATO Transportverträge im Wert von vielen Millionen Dollar. Ein Viertel des Geldes zahlt er an die Taliban, damit sie ihn den Nachschub für die NATO in die Südprovinz Kandahar befördern lassen. Das trägt außerdem dazu bei, dass die Rebellen im Süden die NATO-Truppen effektiver bekämpfen können.
Atta Mohammed Noor, der Gouverneur der Provinz Balkh, ist an einem der größten Geschäfte mit Treibstoffen aus den Ländern Zentralasiens beteiligt. In der Stadt Hairatan, die direkt an der Grenze zu Usbekistan liegt, kassiert er jeden Monat Millionen Dollar. Neuerdings wird die NATO überwiegend über diese Stadt beliefert, denn Pakistan blockiert die Nachschubwege, nachdem vor ein paar Monaten bei einem NATO-Luftangriff 24 pakistanische Grenzsoldaten getötet wurden. Auch bei Dutzenden ähnlicher Transaktionen halten hochrangige Funktionäre die Hand auf. So ist ein Netzwerk der Korruption entstanden, das die afghanische Bevölkerung schwer belastet. Wer ein Problem mit den Behörden hat, vor allem wenn es die Gerichte betrifft, kann nichts mehr durchsetzen ohne Schmiergeld zu zahlen.
Seit einiger Zeit ist die NATO bestrebt, den Schutz der Bevölkerung schrittweise den afghanischen Sicherheitskräften zu übertragen. In der Provinz Balkh ist die in zwei Etappen gegliederte Übergangsphase seit Ende Januar bereits abgeschlossen; jetzt sind afghanische Einheiten für die Sicherheit verantwortlich. Auch andere Provinzen wie Jowzjan, Sar i-Pul, Samangan, und Badakhshan sind schon teilweise selbst für die Sicherheit zuständig, und die gesamte Übergangsphase soll bis Ende 2014 abgeschlossen sein. Doch mit einer solchen Frist wird dem Chaos und der Gewalt in Afghanistan kein Ende bereitet.
Den Ländern des Westens geht es nur noch um einen reibungslosen Abzug
Die Afghanische Nationalarmee ist noch nicht bereit, diese Aufgabe zu übernehmen, und kann weder im Norden noch in irgendeinem anderen Teil des Landes Sicherheit gewährleisten. Die Afghanen setzen keine großen Hoffnungen in die Zeit nach dem Abzug der internationalen Gemeinschaft. Sie fragen sich, wie die Regierung es schaffen will, die Fortschritte der vergangenen Jahre aufrechtzuerhalten und die notwendigen Veränderungen durchzusetzen, wenn sie schon nicht in der Lage war, die elf Jahre zuvor sinnvoll zu nutzen.
Die USA und andere westliche Länder haben mehr als zehn Jahre in Afghanistan Krieg geführt. Nun, nachdem die Taliban im Golfstaat Katar eine politische Auslandsvertretung eröffnet haben, bemühen sie sich um eine politische Lösung des Konflikts. Ein Kompromiss mit den Taliban-Rebellen, die jahrelang in Afghanistan Menschen getötet haben, erscheint ihnen jetzt als der richtige Weg. Doch warum war es nötig, über ein Jahrzehnt lang zu kämpfen, wenn sie sich jetzt mit den Taliban einigen? Wenn die derzeitigen Friedensverhandlungen zu einem Kompromiss zwischen den USA und den Taliban führen, wird daraus weder Stabilität noch ein dauerhafter Frieden entstehen, denn die afghanische Bevölkerung wurde noch nie in einen Friedensprozess einbezogen.
Es waren nur Präsident Hamid Karsai und seine Leute, die dem Terrorregime der Taliban Legitimität verschafft und ihnen den Weg zu einer politischen Einigung mit der internationalen Gemeinschaft geebnet haben. Karsai hat die von US-Präsident Barack Obama vertretene Strategie nie unterstützt, zuerst das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen und die von den Taliban beherrschten Gebiete anschließend mit militärischen Mitteln zurückzuerobern.
Den Ländern des Westens geht es nicht mehr darum, die Lage in Afghanistan zu verbessern, sondern nur noch um einen möglichst reibungslosen Abzug. Aber Friedensgespräche zwischen den Taliban und der Karsai-Regierung, die die afghanische Bevölkerung nicht mehr repräsentiert, werden die Spannungen im Land weiter anheizen. Die Regierung hat ihre Legitimität eingebüßt und wird von Leuten beherrscht, die nicht mehr respektiert werden. So stellt sich die Frage, was die Afghanen jetzt zu erwarten haben. Zumindest müssten sie gefragt werden, ob sie Verhandlungen mit den Taliban wünschen.
Aus dem Englischen von Anna Latz.
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