Für Dauerkrisen schlecht gerüstet

Im Sahel droht eine neue Hungersnot – die dritte seit 2005. Das ist ein neuer Höhepunkt der Ernährungskrise am Südrand der Sahara, die längst chronisch geworden ist. Die internationale Hilfe hat sich darauf nicht ausreichend eingestellt: Sie rettet in Krisen Menschenleben, tut aber zu wenig, um im Vorfeld die Lebensgrundlagen der Betroffenen sichern zu helfen.

Es gibt eindeutige Warnsignale, dass eine neue Hungerkrise in der Sahelzone droht. Wenn jetzt nichts geschieht, sind bis zu neun Millionen Menschen im Niger, in Burkina Faso, Mali und dem Tschad von Nahrungsknappheit und Hunger bedroht. Die Ursachen sind Wassermangel aufgrund unregelmäßiger Niederschläge, schlechte Ernten, Mangel an Weideland, Schädlings- und Heuschreckenplagen, hohe Nahrungsmittelpreise sowie ein Rückgang der Überweisungen von Migranten im Ausland.

Normalerweise sollten die Getreidepreise in der Sahelzone nach der Ernte im November deutlich sinken. Sie steigen jedoch stetig. Im Niger lag der Hirsepreis im November 2011 um ein Drittel höher als im Jahr davor und andere wichtige Getreidesorten sind bis zu 40 Prozent teurer als im Fünfjahresdurchschnitt. Darunter leiden ärmere Haushalte, die den Großteil ihrer Nahrungsmittel auf dem Markt kaufen. Zu den Frühwarnzeichen zählt auch der Rückgang der Viehpreise: Hirten und Kleinbauern verkaufen Tiere, um Getreide zu kaufen. Außerdem ziehen die Hirten auf der Suche nach Wasser und Weideland ungewöhnlich früh weiter. „Einige Familien leben von nur einer Mahlzeit am Tag, einem mit Wasser verdünnten Hirsebrei“, erklärt Johannes Schoors, der CARE-Länderdirektor im Niger. „In einem normalen Jahr beginnt die Hungerperiode nicht vor April oder Mai, aber in diesem Jahr hat sie bereits eingesetzt.“

Autor

Peter Gubbels

ist Berater für ländliche Entwicklung in Westafrika für die Hilfsorganisation Groundswell International. Er hat den Bericht „Escaping the Hunger Cycle: Pathways to Resilience in the Sahel“ verfasst, der vom Netzwerk britischer und europäischer NGOs „Sahel Working Group“ in Auftrag gegeben wurde.

Ein Sprichwort der Hausa lautet: Wenn sich der Trommelschlag ändert, muss sich auch der Tanz ändern. Die jetzt drohende Krise ist ein Beweis, dass sich der Trommelschlag in der Sahelzone verändert hat: Ernährungskrisen können nicht länger als einzelne, von gelegentlichen Katastrophen wie Dürren oder Überschwemmungen ausgelöste Ereignisse be-handelt werden. Die Zahl der Menschen steigt, die verwundbar und von chronischer Ernährungsunsicherheit und großer Armut betroffen sind. Akute Nahrungskrisen wie 2005 und dann wieder 2010 sind von Dürren ausgelöste, kurzzeitige Höhepunkte einer allgemeineren Veränderung: der Zunahme chronischer Anfälligkeit.

Es kommt in der Sahelzone immer häufiger zu Ernährungskrisen. Die Regenzeit wird kürzer und seltener, Weideland zur Wüste. Zu den Bewältigungsstrategien, mit denen die Bevölkerung auf diese miteinander verbundenen Belastungen reagiert, zählen Abwanderung sowie Verkauf oder Verpfändung von Land, Haushaltsgegenständen und Vieh. So versuchen sie ihren Grundbedarf zu decken. Diese Reserven sind jedoch erschöpft . Kaum haben die am meisten gefährdeten Haushalte begonnen, die Grundlage ihres Lebensunterhalts neu aufzubauen, da sucht sie eine weitere Katastrophe heim. Sie sind hoch verschuldet, leiden unter chronischem Hunger und überleben hauptsächlich dank Spenden, Überweisungen von Verwandten und Einnahmen aus dem Verkauf von Holz.

Ernährungsunsicherheit und Armut sind im Sahel so verbreitet, dass selbst in Jahren mit guten Ernten die Rate der akuten Mangelernährung von Kindern durchweg über 15 Prozent liegt, dem von der Weltgesundheitsorganisation festgelegten Grenzwert für eine Ernährungskrise. Nach Schätzungen von UNICEF sterben dort schon in Jahren mit ausreichenden Niederschlägen mehr als 300.000 Kinder an Unterernährung. Viele Familien haben 2012 zudem eine weitere wichtige Überlebensmöglichkeit verloren: die Arbeit in Nachbarländern. Viele Nigrer sind wegen der unsicheren Lage dort vorzeitig aus Côte d’Ivoire, Libyen und Nigeria zurückgekehrt.

Not leidende Familien brauchen Soforthilfe. Gleichzeitig aber müssen langfristige Lösungen gefunden werden. Die Kleinbauern und Viehhirten in der Sahelzone brauchen Unterstützung, damit sie sich an die sich wandelnden Umstände anpassen können. Eine Methode besteht darin, die Nahrungsmittelerzeugung mit Verfahren aus der ökologischen Landwirtschaft zu verbessern. So gibt es in der Sahelzone eine wachsende, von Bauern geführte „Bewegung für die Wiederbegrünung“, bei der Landwirte die natürliche Regeneration von dürreresistenten Bäumen auf ihren Feldern fördern. Die Familien beschneiden diese Bäume zweimal jährlich und erzeugen so Gründünger oder Mulch, der den Boden schützt und sie auch mit Holz zum Kochen versorgt. Dieses System nutzt vor Ort vorhandene Nährstoffe und Energie und verringert die Abhängigkeit von teuren Mitteln wie beispielsweise Kunstdünger.

Viele internationale Organisationen fördern in der Sahelzone Verfahren zur Katastrophenvorsorge. Dazu zählen auch Schritte zur Anpassung an den Klimawandel. Katastrophenvorsorge zielt darauf ab, die häufigsten Risiken für die Bevölkerung zu vermindern. Der Anbau von Gemüse in der Trockenzeit, eine verbesserte Wasserversorgung, Getreidebanken für Dörfer, Techniken zum Schutz von Boden und Wasser, Futtermittelbanken, bessere Straßen und Dünenbefestigungen haben nachweislich die Widerstandsfähigkeit erhöht.

Andere Programme, die sich als erfolgreich erwiesen haben, arbeiten mit Spar- und Kreditgruppen von Frauen, um alternative Nahrungsquellen wie dorfeigene Gemüsegärten zu entwickeln. Oder Krankenschwestern werden darin geschult, Unterernährung zu behandeln und vorzubeugen. Die Versorgung von leicht unterernährten Kindern mit Zusatznahrung trägt dazu bei, schwere Unterernährung zu vermeiden. Der Verkauf von Getreide zu erschwinglichen Preisen kommt besonders gefährdeten Familien zugute, die Getreidebänke von Gemeinden werden aufgefüllt und die Familien kleiner Viehzüchter erhalten Futter für ihre Tiere, damit ihre Herden nicht verenden. Eine weitere wichtige Initiative zur Katastrophenvorsorge ist, Viehhirten zu überzeugen, dass sie, wenn Weiden und Wasser knapp sind, früh ihren Tierbestand durch Verkauf verkleinern.

Auch verschiedene soziale Schutzmaßnahmen tragen erheblich dazu bei, die strukturellen Ursachen chronischer Ernährungskrisen zu überwinden. Die häufigste Maßnahme – direkte Geldtransfers – verbessert nachweislich die Widerstandsfähigkeit, wenn sie gezielt auf die ärmsten Haushalte zugeschnitten ist. Transferzahlungen sind am wirksamsten, wenn sie sich auf Frauen konzentrieren. Die leiden am meisten unter der Armut, wenn ihre Männer in Städten oder Nachbarländern Arbeit suchen. Wenn Familien finanzielle Unterstützung zum Kauf von Nahrung erhalten, wird auch die lokale Wirtschaft gestärkt. Trotz der schlechten Ernten in vielen Regionen sind ja Lebensmittel auf dem Markt erhältlich.

Seit 2005 lernen Geberländer, UN-Organisationen, internationale nichtstaatliche Organisationen und Regierungen in der Sahelzone, die akuten wie auch die chronischen Aspekte der Ernährungsunsicherheit besser anzugehen. Im Großen und Ganzen wissen internationale Organisationen, was funktioniert, es muss aber in viel größerem Umfang getan werden. Trotz der Erfahrungen aus 2005 und 2011 ist zu befürchten, dass der institutionelle Wandel nicht schnell genug ist, um 2012 eine schwere Ernährungskrise in der Sahelzone zu verhindern. Eines der größten Probleme ist, dass Frühwarnungen noch nicht zu wirksamen frühzeitigen Maßnahmen führen. In der Krise von 2010 haben sich Regierungen, UN-Organisationen und Geberorganisationen noch nicht fähig gezeigt, gemeinsam, frühzeitig und in angemessenem Umfang zu reagieren und damit Millionen gefährdeter Haushalte zu schützen. 2010 war die Nothilfe besser als 2005. Sie hat Leben gerettet, konnte aber nicht verhindern, dass die ärmeren Haushalte einen großen Teil ihres Besitzes, insbesondere ihr Vieh, und ihre Existenzgrundlagen verloren und so bedürftiger als vorher wurden.

Die Sorge ist groß, dass sich 2012 der altbekannte Kreislauf wiederholen wird. Nothilfe wird erst richtig anlaufen, wenn die Ernährungskrise ihren Höhepunkt erreicht hat und die Medien Fotos von ausgemergelten Kindern zeigen. Beamte aus Geberländern erklären im privaten Gespräch, dass staatliche Geldgeber nur schnell reagieren, wenn die Medien anhaltendes Interesse an einer möglichen Notlage zeigen. In diplomatischem Ton kritisieren sie die Medien dafür, dass diese die Krisenwarnungen nicht wahrnehmen. Mitarbeitende der Medien erwidern, dass für sie die Grenze kaum zu erkennen ist zwischen begründeten Warnungen und übertriebenen Behauptungen von Hilfsorganisationen, die Krisen an die Wand malen, um an zusätzliche Mittel zu kommen. Es liegt in der Natur von Journalisten, dass sie sich lieber selbst ein Bild machen, und das passiert oft erst, wenn die Lage bereits sehr ernst ist.

Ohne öffentlichen Druck infolge von Medienberichten ist es für Hilfsorganisationen häufig schwierig, reiche Staaten vor dem Eintritt einer Krise zu überzeugen, dass sie schnell und entschlossen handeln müssen. Dabei verursacht nach aller Erfahrung eine nachhaltige Förderung der Landwirtschaft und der Nahrungssicherheit nur ein Zehntel der Kosten, die für die Nahrungsmittelhilfe in einer Hungersnot entstehen. Westlichen Regierungen fällt es jedoch leichter, auf plötzliche Krisen wie Erdbeben, Überschwemmungen und Tsunamis zu reagieren als auf schleichende Katastrophen wie infolge einer Dürre. Wenn dieses Problem nicht gelöst wird, gefährdet das alle Investitionen, die die chronischen Ernährungskrisen überwinden sollen.

Hierzu ist ein neuer Ansatz notwendig, der humanitäre Hilfe und Entwicklungsarbeit integriert und Menschen dabei unterstützt, sich von Krisen zu erholen und widerstandsfähiger zu werden. Dafür gibt es nicht genügend Mittel – unter anderem weil chronische Ernährungsunsicherheit nicht zu einem Massensterben führt. Tatsächlich erklären einige führende Politiker der Region selbstzufrieden, wie viel sie geleistet hätten, denn es gebe nicht mehr so viele Hungertote; das Problem des chronischen Hungers empfinden sie nicht als dringlich.

Ein weiteres Problem ist, dass das derzeitige System der Hilfe immer noch nicht genug Mittel langfristig und flexibel für die Stärkung der Widerstandsfähigkeit bereitstellt – besonders für den Wiederaufbau, die Katastrophenvorsorge, die Verhinderung von Mangelernährung und die soziale Sicherung. Viele Geberorganisationen und nationale Entscheidungsträger im Sahel folgen immer noch dem alten Paradigma, von Nothilfe zu Entwicklung überzugehen: Wenn die „akute“ Phase einer Hungerkrise vorbei ist und der Regen wieder einsetzt, kehren sie zum üblichen Geschäft zurück. Katastrophennachsorge oder die Stärkung der Widerstandsfähigkeit sind oft weder bei Hilfsorganisationen noch bei den Gebern im Etat vorgesehen. Die Bedürfnisse der Menschen in der Sahelzone sind andere als im Fall von Gruppen, die hin und wieder von Katastrophen betroffen sind oder sich in einem Entwicklungsprozess befinden. Dass es an geeigneten Finanzierungsmechanismen für den Kampf gegen chronische Ernährungsunsicherheit fehlt, ist der offenkundigste Mangel im derzeitigen System der Hilfe.

Die Innenpolitik westlicher Geberländer ist ein weiterer entscheidender Faktor. Mittel- und langfristige Planung fällt oft als Erstes den Kürzungen im Etat für Not- und Entwicklungshilfe zum Opfer. Nach der Lebensmittelpreiskrise 2008, als es rund um die Welt zu Hunger-Unruhen kam, versprachen die G8-Staaten 22 Milliarden US-Dollar für landwirtschaftliche Entwicklung und Ernährungssicherheit. Viele dieser Zusagen sind bis heute nicht erfüllt.

Ein letzter Grund ist, dass in den Sahelländern die Menschen, die ihre Ernährung nicht sichern können, die Behörden nicht dazu bringen können, sie zu unterstützen. In ländlichen Gebieten – besonders die in abgelegenen Regionen – sind die Armen oft ungebildet und kaum organisiert; sie haben keinen Einfluss auf die politischen Entscheidungen.

Der chronische Hunger in der Sahelzone wird stark unterschätzt. Die Nothilfe rettet inzwischen wirksam Leben, verhindert aber nicht, dass die Betroffenen aus Verzweiflung zu Strategien der Hungerbewältigung greifen, bei denen sie die Mittel zum Erwerb ihres Lebensunterhalts verlieren. Um ihre Widerstandsfähigkeit zu fördern, sind andere Kompetenzen, längere Interventionen und andere Partnerschaftsmodelle nötig als die Nothilfe. Es erfordert auch, nachhaltige wirtschaftliche und soziale Bedingungen für die Armen zu schaffen, die künftige Krisen abmildern. Die vorhandenen Hilfsinstitutionen sind dafür immer noch schlecht gerüstet.

Wichtig ist vor allem, dass Frühwarnungen sofortiges Handeln zur Folge haben. Doch weiterhin ist die Aufmerksamkeit in den Medien und nicht etwa die Frühwarnung einer der stärksten Antriebe der humanitären Hilfe. Für die Krise, die sich im Sahel für 2012 abzeichnet, wurde früh Alarm geschlagen: Die Regierungen von Niger, Mali und dem Tschad haben den Notstand ausgerufen und um internationale Hilfe gebeten. Jetzt ist noch Zeit zu verhindern, dass weitere Familien Opfer einer Katastrophe werden, und den von der Krise schon Betroffenen die dringend benötigte Unterstützung zu geben. Geschieht das nicht und werden nicht außerdem ausreichend Mittel für die Stärkung der Widerstandsfähigkeit bereitgestellt, dann wird großes Leid die Folge sein und die Bevölkerung im Sahel immer mehr von Hilfe abhängig werden. Die Zeit ist gekommen, sich auf den neuen Trommelschlag einzustellen.

Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner.

 

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erschienen in Ausgabe 3 / 2012: Hunger: Es reicht!
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