Während der jährliche Wechsel von Handy oder Laptop oder das Abwracken funktionstüchtiger Autos zwar fragwürdig, aber durchaus gesellschaftsfähig sind, überschreitet massenhaftes Wegwerfen von Lebensmitteln eine ethisch-moralische Grenze. Es widerspricht dem Werteempfinden der meisten Menschen. Doch die Frage ist: Könnte eine geringere Verschwendung von Essen das Leben von Hungernden retten? Werden wir tatsächlich, wie der britische Umweltaktivist und Autor Tristram Stuart meint, zu Mördern, indem wir anderen Menschen die überlebensnotwendigen Nahrungsmittel vorenthalten?
Die globale Landwirtschaft erzeugt genug Nahrung für alle Menschen. Auch die steigende Nachfrage nach Fleisch, Milchprodukten und Eiern in Schwellen- und Entwicklungsländern kann noch bedient werden. Trotzdem hungert knapp eine Milliarde Menschen. Daraus folgt aber nicht, dass wir die globale Ernährungskrise überwinden könnten, wenn wir Lebensmittelmüll vermeiden und dadurch mehr Nahrungsmittel und Ackerflächen bereitstehen. Hunger ist kein Problem der Verfügbarkeit und Verteilung von Nahrungsmitteln, sondern vor allem die Folge davon, dass die Einkommen sehr ungleich verteilt sind.
Wer Geld hat, kann sich Lebensmittel kaufen, überall auf der Welt, auch in Krisenregionen. Die Hungerkrise in mehreren Ländern am Horn von Afrika vom vergangenen Jahr macht das deutlich: Während Menschen im Nordosten Kenias hungerten, gab es in der Hauptstadt Nairobi keine Engpässe. Europäische Supermärkte konnten weiterhin mit Agrarprodukten wie Ananas oder Blumen aus Kenia beliefert werden. Das Menschenrecht auf Nahrung wird nicht verwirklicht, indem Nahrungsmittel umverteilt werden, sondern durch einen gerechteren Zugang zu Ressourcen. Dazu gehören vor allem ausreichende Einkommen und in vielen Entwicklungsländern ein gesicherter Zugang zu Land.
Autor
Rafaël Schneider
ist Referent für Entwicklungspolitik bei der Deutschen Welthungerhilfe.Drei von vier Hungernden in Schwellen- und Entwicklungsländern leben in ländlichen Regionen und von der Landwirtschaft: Es sind kleinbäuerliche Familien und Landlose, die sich von dem, was sie anbauen und verdienen, nicht ernähren können. Ihnen helfen vor allem klare Landbesitzverhältnisse, bessere Anbaumethoden, Zugang zu Krediten und ein breiteres Arbeitsangebot im ländlichen Raum. Ergänzend hierzu müssen soziale Sicherungssysteme aufgebaut werden. Nur in einer akuten Krise kann es nötig sein, Nahrungsmittel zu verteilen.
Hinzu kommt: Agrarflächen in Nord- und Lateinamerika, Europa oder Afrika, die durch Vermeidung von Lebensmittelmüll freiwerden, würden mit großer Sicherheit nicht zur Nahrungsmittelversorgung armer und hungernder Menschen bestellt werden. Sie würden vielmehr genutzt, um die zunehmende Nachfrage nach Agrarrohstoffen und Energiepflanzen der wohlhabenden Verbraucherinnen und Verbraucher in Schwellen- und Industrieländern zu bedienen.
Denn was angebaut wird, entscheiden nicht die Hungernden, sondern einerseits kaufkräftige Verbraucher und andererseits Politiker. Da reiche Konsumenten einen besseren Preis für hochwertige Lebensmittel wie Fleisch, Importobst, Baumwolle, Kaffee, Kautschuk oder Blumen bezahlen als arme Menschen für Grundnahrungsmittel, ist jeder Landwirt weltweit daran interessiert, für diese zahlungskräftigen Käufer zu produzieren. Die Anbaustrategien entsprechen jedoch nicht allein den Bedürfnissen des Marktes, sondern werden auch von der Politik der Industrienationen bestimmt. Mit hohen Subventionen wird die Agrarproduktion gelenkt. Politische Vorgaben wie die Ziele zum Einsatz von Biokraftstoffen schaffen eine neue Nachfrage nach Agrarprodukten.
Der heftige Anstieg der Nahrungsmittelpreise 2007/2008 hat mehr als 100 Millionen Menschen von der Armut in den Hunger getrieben, weil sie sich die teuren Lebensmittel nicht mehr leisten konnten. Angesichts solcher Preisexplosionen wird vielfach argumentiert, dass die Weltmarktpreise sänken, wenn weniger Lebensmittel verschwendet würden und dadurch mehr Getreide verfügbar wäre. Die Entwicklungsländer könnten dann billiger Getreide importieren. Diese Argumentation konterkariert jedoch jegliche Bemühungen armer Länder, sich von den schwankenden Weltagrarmärkten unabhängiger zu machen, indem sie ihre eigene Produktion steigern.
Es sollte viel mehr darum drehen, wie eng unsere Ernährung an die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen geknüpft ist
Schon vor 2007 litten 850 Millionen Menschen Hunger – vor allem aufgrund zu niedriger und nicht etwa zu hoher Agrarpreise. Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in Entwicklungsländern konnten mit den konkurrenzlos billigen Preisen der subventionierten Agrarprodukte aus den Industrienationen nicht mithalten. Gepaart mit der Marktöffnungspolitik der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds haben niedrige Weltmarktpreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse jahrzehntelang den Auf- und Ausbau der Landwirtschaft in Entwicklungsländern unrentabel gemacht. Millionen Kleinbauern mussten in der Subsistenzlandwirtschaft verharren – für viele von ihnen eine Armuts- und Hungerfalle.
Der Anstieg der Weltagrarpreise ist für arme Verbraucher vor allem in den Städten schmerzlich, kann aber mittel- und langfristig durch faire Gehälter und, wenn erforderlich, durch staatliche Sozialhilfeprogramme ausgeglichen werden. Für Entwicklungsländer bieten höhere und möglichst stabile Agrarpreise aber auch eine Chance, ihre eigene Landwirtschaft schrittweise effizienter, nachhaltiger und wirtschaftlicher zu gestalten. Auf diese Weise können sie die Ernährung der eigenen Bevölkerung sichern und die Armut in den ländlichen Regionen reduzieren.
Den Hungernden im Süden nützt es unmittelbar wenig, wenn wir in den Industrieländern weniger Lebensmittel wegwerfen. Die Debatte sollte sich vielmehr darum drehen, wie eng unsere Ernährung an die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen geknüpft ist. Wir sind kurz vor dem „Peak Oil“, auch der Peak für Mineraldünger naht – und beim Ausstoß von Treibhausgasen haben wir die Grenze der Klimaverträglichkeit bereits überschritten. Ausschlaggebend für die Ernährungssicherheit künftiger Generationen ist es, den ökologischen Fußabdruck unseres Ernährungsverhaltens so klein wie möglich zu halten.
Das kann nur dann gelingen, wenn wir sorgsamer und sparsamer mit Lebensmitteln und Agrarrohstoffen insgesamt umgehen. Aber nicht nur die Menge, auch die Produktionsweise ist für eine zukunftsfähige Ernährungsstrategie entscheidend. Wenn Verbraucher Produkte aus fairem und ökologischem Anbau kaufen, helfen sie auf diese Weise mit, dass nachhaltige Anbaumethoden in Nord und Süd an Bedeutung gewinnen. Ein bewusster Einkauf schont nicht nur die Umwelt, sondern trägt zugleich zu fairen Einkommen für Produzentinnen und Produzenten in Entwicklungs- und Schwellenländern bei – und damit zur Überwindung von Armut und Hunger.
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