Als Cristian Camilo Henao Suaza Ende 2008 zur Musterung ging, rechnete der 18-Jährige damit, dass die Prozedur eine Weile dauern würde. Aber nicht damit, dass sie ihn gleich da behalten würden. So wie ihm geht es zahlreichen jungen Männern in Kolumbien. Viele werden sogar gleich auf der Straße rekrutiert: Militärangehörige fangen die Jugendlichen auf zentralen Plätzen ab – vor den Universitäten, Schulen, S-Bahn-Stationen oder in öffentlichen Parks. „Wer nicht belegen kann, dass er schon Wehrdienst geleistet hat, wird gleich mitgenommen“, berichtet Juan David Casas. Er ist Anwalt und berät Kriegsdienstverweigerer bei der Jugendorganisation Red Juvenil in Medellín. Beim psychologischen Test gab Suaza zu Protokoll, er könne es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, zum Militär zu gehen. Sein Einwand wurde ignoriert, er wurde auf der Stelle zum Dienst in einer Kaserne in Medellín eingezogen. Immer wieder begehrte er auf, wollte kein Gewehr tragen, keine Schießübungen machen. Doch mit der Drohung, er müsse ins Gefängnis, zwangen ihn seine Vorgesetzten zu Gehorsam. „Ich war damals Verweigerer, ohne zu wissen, dass es so etwas überhaupt gibt“, sagt er heute. Seit zwanzig Jahren wächst die Zahl der Wehrdienstverweigerer in Kolumbien, doch bis vor kurzem wurde ein entsprechendes Recht nicht anerkannt. In dem Land tobt seit mehr als 40 Jahren ein Bürgerkrieg zwischen Rebellen und dem Militär, dem auch zahlreiche Zivilisten zum Opfer gefallen sind.
Im vergangenen Oktober haben die Befürworter eines Rechts auf Wehrdienstverweigerung einen wichtigen Etappensieg errungen: Da nämlich erkannte das oberste Verfassungsgericht die Verweigerung aus Gewissensgründen grundsätzlich an. Sie leite sich direkt aus dem Grundrecht auf Gewissensfreiheit ab, urteilten die neun Richter. Das gelte auch, wenn diese Ausnahme nicht explizit im Rekrutierungsgesetz genannt sei. Zuvor hatte ein Bündnis sozialer Organisationen unter Federführung einer Arbeitsgruppe der juristischen Fakultät der Andenuniversität in Bogotá gegen das Gesetz geklagt; mehr als 400 zivilgesellschaftliche Organisationen hatten die Klage unterstützt.
Grundsätzlich freigestellt sind laut Gesetz „Indigene, die in ihrem Territorium leben und ihre kulturelle, soziale und wirtschaftliche Integrität aufrechterhalten“, und Behinderte. In Friedenszeiten gelten darüber hinaus weitere Ausnahmen beispielsweise für Einzelkinder, Verheiratete, Waisen und Priester. Die Beschwerdeführer argumentierten, wer es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren könne, befinde sich in einer ähnlichen Ausnahmesituation wie Behinderte und Indigene. Deshalb müsse die Verweigerung aus Gewissensgründen in das Rekrutierungsgesetz aufgenommen werden. Dem ist das Gericht zwar nicht gefolgt, aber für Verweigerer ist es dennoch ein großer Fortschritt, dass die Richter ein Grundrecht auf Verweigerung aus Gewissensgründen prinzipiell anerkannt haben.
Autorin
Claudia Isabel Rittel
ist freie Journalistin und lebt in Offenbach am Main.Das Gericht hat mit seiner Entscheidung eine 180-Grad-Wendung seiner Rechtsprechung vollzogen. Bisher hatte es die Existenz eines entsprechenden Rechtes stets verneint; 2004 hatte die Vorgängerorganisation des UN-Menschenrechtsrates Kolumbien dafür gerügt. Die Einzelheiten und das Verfahren soll nun das Parlament in einem Gesetz regeln. Schon ab sofort müsse das Militär aber jeden Fall einzeln prüfen, zitiert die kolumbianische Presse Gerichtspräsident Nilson Pinilla. „Wenn die Verweigerer ihr Recht verletzt sehen, können sie es per Verfassungsklage geltend machen“, versichert er. Auf diese Weise haben sich auch in der Vergangenheit viele gegen ihre Rekrutierung zu wehren versucht. Doch bislang in der Regel ohne Erfolg. Bisher ist das kolumbianische Militär nicht einheitlich mit Verweigerern umgegangen. Manche wurden zum Dienst gezwungen, manche wegen Ungehorsams oder aus anderen Gründen inhaftiert. Andere wurden einfach ignoriert, um Ärger zu vermeiden.
Welche Anforderungen genau das Gericht an ein Gesetz zur Wehrdienstverweigerung stellt, ist noch nicht bekannt. Das schriftliche Urteil werde wohl erst nach den Präsidentenwahlen am 30. Mai veröffentlicht, vermutet Rechtsanwalt Casas. Allerdings arbeite das Verteidigungsministerium bereits an einem Gesetzentwurf. „Das beunruhigt uns sehr“, sagt Casas. Ihm wäre es lieber, ein ziviles Ministerium würde mit dieser Aufgabe betraut. Im Fall von Cristian Suaza haben die Rechtsmittel nicht gewirkt, wohl aber der politische Druck, den Red Juvenil aufgebaut hat. „Sie haben ständig Briefe an die Kaserne und ans Ministerium geschrieben“, erzählt Suaza. Außerdem hat die Organisation internationale Hilfe mobilisiert. Das Verfassungsgerichtsurteil hingegen hat sich bislang nicht ausgewirkt. Zwar hat Suaza Mitte März seine Entlassungsurkunde bekommen. Doch mit dem Urteil habe das nichts zu tun, meint er. Geholfen habe ihm vielmehr ein Schreiben des Kasernenpriesters, der bestätigt hat, dass Suaza ins Priesterseminar gehen möchte. Damit dürfte die Geschichte für ihn zu Ende sein.
Viele andere, die sich dem Wehrdienst erfolgreich entziehen, kommen nicht so glimpflich davon. Grund dafür ist der Militärausweis, den Suaza im Unterschied zu anderen Verweigerern wahrscheinlich bald erhalten wird, weil er – wenn auch gegen seinen Willen – fast ein Jahr Militärdienst geleistet hat. Dieses Dokument ergänzt den Personalausweis. Wer keinen Militärausweis hat, dem werden faktisch zahlreiche Bürgerrechte aberkannt. Er muss bei der Unterschrift eines Arbeitsvertrags ebenso vorgelegt werden wie bei der Unterzeichnung eines Mietvertrags oder der Anmeldung zur Abschlussprüfung an der Uni.
Wie schwierig das Leben ohne Militärausweis ist, weiß Jhony Arango. Er hat vor acht Jahren offiziell den Wehrdienst verweigert. Damals hatte er viel Angst, vor allem davor, dass ihn Soldaten einfach mit in die Kaserne nehmen würden. Die Angst hat er inzwischen überwunden – auch weil er viel über das Thema gesprochen und seine Situation öffentlich gemacht hat. Doch die Hürden im Alltag seien geblieben, weil er den Ausweis nicht hat. Sein Studium kann er nicht abschließen, Arbeit findet er nur im informellen Sektor, bei Freunden oder bei sozialen Organisationen. Das zeigt: Den Militärdienst zu verweigern, beeinflusst das gesamte Leben. Die Unterstützung und Beratung von sozialen Organisationen sei deshalb von großer Bedeutung, sagt Arango. Und er ist überzeugt: „Wenn der Militärausweis nicht so wichtig wäre, würden die meisten Jugendlichen nicht zur Armee gehen.“
Wie viele Verweigerer es in Kolumbien gibt, ist unklar. Statistiken existieren nicht und die Organisationen definieren Verweigerung sehr unterschiedlich. Casas schätzt, dass es in der Andenmetropole Medellín inzwischen mehr als hundert sind. Vor fünfzehn Jahren waren es nur eine Handvoll. Viele kämen aus dem kirchlichen Umfeld, meint der Anwalt, manche schlügen sich allein durch und tauchten unter, andere heirateten oder gingen ins Priesterseminar, um sich dem Dienst zu entziehen. Red Juvenil widmet sich seit etwa zwanzig Jahren dem Thema. Die Organisation gehörte zu den Pionieren; inzwischen gibt es mehr als zehn Organisationen in verschiedenen Städten Kolumbiens, die Verweigerer betreuen.
Die Öffentlichkeit hat sich bislang wenig für Wehrdienstverweigerer interessiert. Aktivisten galten vielen lange als suspekt und wurden oft als Guerilleros gebrandmarkt. Dank staatlicher Propaganda hat das Militär in Kolumbien zudem immer noch ein hohes Ansehen. Doch das ändert sich seit einiger Zeit. Selbstkritisch erkannte die Wochenzeitung „Semana“ nach dem Urteil an, dass das Thema bisher von den Medien vernachlässigt worden sei. Gleichzeitig betonte sie die „enorme Bedeutung der Entscheidung für das Land“.
Zu dem einsetzenden Bewusstseinswandel beigetragen haben die Informationskampagnen der sozialen Organisationen. Mit Konzerten oder Straßentheater informieren sie über das Thema, verteilen Flyer und ermuntern Verweigerer, mit ihnen in Kontakt zu treten. An den offiziellen Rekrutierungstagen organisiert Red Juvenil immer wieder Straßenaktionen. Manchmal würden sie gebeten zu gehen, berichtet Jhony. Aber in der Regel hätten sie dabei keine Probleme. „Wir sind zu viele“, sagt er.
Dass das Interesse am Thema in der Gesellschaft wächst, hat auch Suaza erlebt. Nach vielen Querelen, Drohungen mit Gefängnis und Schlafentzug, Strafarbeit und der Versetzung zum Kasernenpriester kritisierte er im September 2009 in einem lokalen katholischen Fernsehsender das Militär öffentlich. Kurz darauf wurde er dauerhaft vom Militärdienst beurlaubt. Sein Statement löste jedoch eine öffentliche Diskussion aus. „Nach meiner Beurlaubung standen zahlreiche Journalisten vor meiner Haustür“, sagt er. Sie wollten von ihm wissen, wie es in der Kaserne wirklich zugeht. „Da hatte ich das Gefühl, dass sie erstmals die Propaganda in Frage stellten“, berichtet er.
Die Zahl derer, die das Militär und den Wehrdienst ablehnen, wächst kontinuierlich. Doch nicht immer sind sie einer Meinung. So hat Red Juvenil etwa die Klage vor dem Verfassungsgericht offiziell nicht unterstützt. Der Grund: Die Kläger regten die Einführung eines Wehrersatzdienstes an. Einen solchen wolle Red Juvenil aber nicht anerkennen, erklärt Casas. Die Totalverweigerer, zu denen viele Red-Juvenil-Mitglieder gehören, richten sich gegen die militarisierte Gesellschaft. Auch Frauen erklären sich zu Verweigerern. In einem Statement zum Urteil des Verfassungsgerichts schreiben die Totalverweigerer: „Wir sind nicht bereit, einen Staat wie den kolumbianischen zu unterstützen“.
Dennoch: Rechtlich ist das Urteil ein Fortschritt hin zu einem besseren Schutz der Verweigerer. In einem Kommentar hat die kolumbianische Juristenkommission das Parlament aufgefordert, dem Richterspruch zu folgen und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu verwirklichen.