Doppelte Opfer

CBM / Argum / Einberger
Jerica Kalanyu ist blind. Ihr ältester Sohn, der zwölfjährige Sandrick, begleitet sie einmal im Monat zur Essensverteilung für arme Familien im kenianischen Meru.
Behinderte Menschen müssen laut der UN-­Konvention über ihre Rechte auch in Krisen besonders geschützt werden. Doch die Kluft zwischen Anspruch und ­Wirk­lichkeit ist groß.

Menschen mit Behinderungen scheinen in Naturkatastrophen oder Konflikten unsichtbar zu sein. „Sie sterben als erste“, sagt Christian Stubbs, Initiator einer Hilfsorganisation für behinderte Kinder in Sri Lanka. „Sie werden als erste krank und sind die letzten, die medizinisch versorgt werden. Sie haben immer die schlechtesten Karten.“ Doch das ist nicht zwangsläufig eine Folge ihrer Behinderung. Häufig sind sie arm, werden ausgegrenzt und diskriminiert. Ihre Bedürfnisse werden zu wenig erkannt und beachtet.

Bei der Vorbereitung auf Katastrophen wird auf sie wenig Rücksicht genommen. Laut dem „Büro zur Umsetzung der Strategie der Vereinten Nationen zur Katastrophenvorsorge“ hatten 85 Prozent der Befragten aus 137 Ländern noch nie an einem Präventionsprogramm teilgenommen. Ein Großteil der Informationen über die Ebola-Seuche in Sierra Leone geht an hör- oder sehbehinderten Menschen vorbei.

Das Risiko behinderter Menschen, in humanitären Krisen verwundet oder getötet zu werden, ist überdurchschnittlich hoch – teils durch direkte Angriffe, noch häufiger aber aufgrund direkter oder indirekter Auswirkungen von Kämpfen. 2005 erschlichen sich irakische Terroristen das Vertrauen eines 19-Jährigen mit Down-Syndrom. Sie bepackten ihn mit Sprengstoff, schickten ihn in ein Wahllokal in Bagdad und ließen ihn dort explodieren. Auf einer Landstraße in Israel erschossen Soldaten 2003 einen geistig behinderten 28-Jährigen, weil er ihre Anweisungen nicht verstand und ihnen nicht folgte.
Als im März 2011 ein Erdbeben und ein Tsunami Teile Japans verwüsteten, starben anteilmäßig doppelt so viele behinderte Menschen wie nicht behinderte – weil es keine Vorkehrungen für Rollstuhlfahrer und Gehbehinderte gab. Auch Seh- und Hörgeschädigte können nicht rechtzeitig fliehen, wenn die Warnungen in einer Form herausgegeben werden, die sie nicht wahrnehmen können.

Der Verlust der gewohnten Umgebung wiegt schwer

Manchmal werden Behinderte zurückgelassen, wenn ihre Angehörigen oder andere Betreuer flüchten. Wer behinderte Menschen mitnimmt setzt sich hingegen zusätzlichen Gefahren aus, weil er sich selbst deshalb weniger schnell in Sicherheit bringen kann. In Flüchtlingslagern wie Daadab in Kenia werden behinderte Menschen besonders häufig beschimpft, misshandelt und sexuell missbraucht. Geistig behinderte Frauen werden in Krisenregionen häufig vergewaltigt, wie Berichte aus dem Libanon und dem philippinischen Mindanao zeigen.

Der Verlust ihrer gewohnten Umgebung und der Hilfe, auf die sie dort zählen konnten, raubt Menschen mit Behinderungen ihre Selbstständigkeit. Oft sind Schulen, Toiletten und andere Einrichtungen in den neuen Unterkünften nicht auf ihre Belange ausgerichtet. Bei der Verteilung von Lebensmitteln kommen sie oft zu kurz, vor allem wenn sie schlecht sehen oder körperbehindert sind.

Dabei sind die Staaten laut der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen unter anderem verpflichtet, in humanitären Notlagen „den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten“. Der UN-Menschenrechtsrat und das Kinderhilfswerk UNICEF haben Strategien entwickelt, um humanitäre Einsätze behindertengerechter zu gestalten. Auch andere Hilfsorganisationen stellen sich zunehmend auf die Inklusion von Behinderten ein; laut den gemeinsamen Standards der nichtstaatlichen Organisationen im Rahmen des Sphere Project ist sie bei allen Hilfsmaßnahmen obligatorisch. Ferner widmen sich eine ganze Reihe von ihnen speziell dieser Aufgabe wie die Christoffel-Blindenmission und Handicap international.

Mehr Inklusion würde nicht viel kosten

Erste Erfolge zeigen sich etwa in Nepal, wo behinderte Kinder in Flüchtlingslagern am allgemeinbildenden und berufsvorbereitenden Unterricht teilnehmen können. Doch Theorie und Praxis klaffen oft noch weit auseinander. Denn die unterschiedlichen Formen und Ausprägungen von Behinderungen werden zu wenig berücksichtigt. Das geht vor allem zu Lasten von geistig Behinderten – sie erhalten selten die Unterstützung, die sie brauchen.

Hinderlich sind zudem falsche Vorstellungen von den Kosten inklusiver Programme und von der Zahl der Betroffenen sowie die Auffassung, dass man sich zuerst um die „Normalen“ kümmern müsse oder dass man für die Betreuung der Behinderten spezielle Förderprogramme und besonders ausgebildete Fachkräfte braucht. Damit wird verkannt, dass Behinderungen als ein Teil der menschlichen Vielfalt zur Gesellschaft gehören. So werden etwa 15 Prozent der Bevölkerung (beziehungsweise bis zu 25 Prozent, wenn man die Familienangehörigen dazurechnet) zu Unrecht benachteiligt.

Dabei kostet es relativ wenig, Hürden für Behinderte abzubauen. Und es kommt der ganzen Gesellschaft zugute, ganz besonders älteren Menschen, schwangeren Frauen und Kindern. Mehr Inklusion und ein besseres Verständnis dafür, dass es ganz unterschiedliche Arten von Behinderung gibt, könnten die Benachteiligung behinderter Menschen abbauen helfen. Sie hätten in Krisen und Katastrophen bessere Überlebenschancen. Mehr Behindertenfreundlichkeit rettet Menschenleben.

Brigitte Rohwerder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am britischen Institute of Development Studies.

Aus dem Englischen von Anna Latz.

 

 

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erschienen in Ausgabe 3 / 2015: Nothilfe: Aus Trümmern Neues schaffen
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