Sturzfluten vom Tropengletscher

In Peru schrumpfen die Gletscher – die Anden trocknen aus. Die Regierung sucht Hilfe beim Alpenland Schweiz.

Der eisbedeckte, 6122 Meter hohe Nevado Hualcán in den peruanischen Anden war vor viereinhalb Jahren Schauplatz eines Naturspektakels. Im April 2010 löste sich der Hängegletscher an der Westflanke des Hualcán: Gewaltige Massen von Eis und Geröll stürzten steil hinunter in den tausend Höhenmeter tiefer gelegenen See an der Gletscherzunge. Eine riesige Welle schoss über den Moränendamm hinaus; sie verursachte Überschwemmungen und Murgänge, also Ströme aus Schlamm und Gestein. Die Bevölkerung in den tiefer gelegenen Orten geriet in Panik.

Mit gutem Grund: Das Tal war schon mehrfach von Lawinen und Überflutungen heimgesucht worden. 1941 zerstörte eine Schlammlawine die 3100 Meter hoch gelegene Stadt Huaraz, nachdem rund 20 Kilometer nordöstlich ein großer Gletschersee ausgebrochen war. Die Flutwelle riss tonnenweise Erde und Geröll mit sich. Tausende Menschen kamen ums Leben. 2010 blieb eine ähnliche Katastrophe aus, denn die peruanischen Behörden hatten die Gefahren erkannt. Bereits Mitte der 1990er Jahre waren unterhalb des Gletschersees von Hualcán Abflusstunnel in die Felsen getrieben worden, um den Wasserspiegel der Lagune um rund 20 Meter zu senken. Sonst hätte die Flutwelle weitaus dramatischere Folgen gehabt.

Trotzdem saß der Schrecken tief. Und Perus Regierung suchte Unterstützung beim Alpenland Schweiz, das den Klimawandel und den Rückgang von Gletschern intensiv erforscht. Die Schweiz sollte beim Aufbau eines Überwachungssystems helfen, das Modellcharakter für ganz Peru haben soll.

Ein Frühwarmsystem für Eisabrüche

Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) betraute 2011 die Wissenschaftler am geografischen Institut der Universität Zürich mit dem Projekt. Zu ihnen gehört der Geograf und Glaziologe Christian Huggel, ein Hauptautor beim Weltklimarat IPPC. Er hat sich auf die Auswirkungen des Klimawandels in Hochgebirgsregionen spezialisiert und verfolgt den Rückgang der Gletscher in den Schweizer Alpen aus nächster Nähe. Die Erderwärmung habe die Landschaften auf dem Altiplano in Peru nachhaltig verändert, sagt er. „Unter 4000 Höhenmetern sieht man kaum noch Gletscher.“ Grundsätzlich sei die Entwicklung in den Alpen und in den Anden vergleichbar. Die Alpen seien jedoch während des ganzen Jahres sehr niederschlagsreich, während sich in den Anden Trocken- und Regenzeit abwechselten.

Kurzfristiges Ziel des bis 2015 laufenden Projektes am Nevado Hualcán war der Aufbau eines Frühwarnsystems für Eisabbrüche und damit verbundene Flutwellen an der Lagune „513“ – dies ist die Nummer im Inventar der peruanischen Gletscherbehörde. Insgesamt sind in der Cordillera Blanca in Peru 830 Gletscherseen erfasst. An 35 mussten in den vergangenen Jahrzehnten Schutzbauten wie Abflusstunnel, Stauwälle und Überlaufkanäle gebaut werden. An der Lagune „513“ sind nun verschiedene Messinstrumente installiert, darunter solarbetriebene Überwachungskameras, die alle zehn Sekunden Bilder senden. Damit werden Veränderungen am Gletscher dokumentiert, die auf drohende Gefahren aufmerksam machen sollen. Parallel dazu hat die Provinzhauptstadt Carhuaz ein Alarmsystem aufgebaut, mit dem die Evakuierung bedrohter Dörfer rechtzeitig angeordnet werden kann.

Langfristig sollen zudem die Gletscher- und Hochgebirgsforschung in Peru gestärkt sowie die Bevölkerung und die lokalen Behörden auf den Umgang mit den Folgen der Gletscherschmelze vorbereitet werden. An den regionalen Universitäten wurden Grundlagen-Kurse in Glaziologie angeboten; ferner wurde ein Aufbaustudiengang für dieses Fach eingerichtet. Im Juli 2013 fand erstmals ein internationales Gletscherforum in Peru statt. Die nationale Wasserbehörde hatte rund 2000 Teilnehmende aus aller Welt nach Huaraz eingeladen. Die Experten der Universität Zürich präsentierten bei dem Forum die neuesten Forschungsergebnisse – und sie plädierten dafür, die Wissenschaft besser mit Politik und Praxis zu vernetzen.

Mit den Gletschern schmelzen die Wasservorräte

Denn mit wissenschaftlichem Know-how allein ist es nicht getan. Die Anwohner müssten in die Aktionspläne gegen den Klimawandel einbezogen werden, betont Huggel. Dafür wurde die lokale nichtstaatliche Organisation Care Peru ins Boot geholt, die sich für die Rechte benachteiligter Bevölkerungsgruppen einsetzt. Sie sammelt in einer Begleitstudie Daten über den Bildungsstand und die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung. Sie besucht Dorfgemeinschaften, um ihre Sichtweise und Organisationsformen kennenzulernen, etwa was die Verteilung des Wassers betrifft. Diese Erkenntnisse sollen in Vorhaben der Behörden zur Wasserbewirtschaftung in der Region einfließen.

Die 15.000 Einwohner der Stadt Carhuaz etwa haben nicht rund um die Uhr fließendes Wasser. Sie hoffen, dass die wegen des Gletscherschwundes entstehenden Lagunen als Speicher für die Wasserversorgung im Tal genutzt werden können. Man sei daran, das Projekt entsprechend anzupassen, sagt Care-Koordinatorin Karen Price Rios. Noch fehlten aber entsprechende Studien. Price Rios betont, zusätzlich müssten Privathaushalte und Bauern sparsamer mit Wasser umgehen. Für die Zukunft setzt Care Peru auf lokale Strukturen – etwa regionale Wasser-Räte –, die regeln sollen, wie das Wasser im jeweiligen Einzugsgebiet an die Verbraucher verteilt wird. Denn langfristig schmelzen mit den Gletschern auch die Wasservorräte der Anden dahin.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2014: Früchte des Bodens
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