Respekt vor den Brasilianern: Seit Monaten zeigen sie ihrer Regierung die gelbe Karte. Und sie nutzen die Chance, dass die Welt auf ihr Land schaut. Die fußballverrückte Nation, deren „Seleção“ schon fünf Mal Weltmeister geworden ist und auf den sechsten Titel hofft, lässt sich nicht blenden vom vermeintlichen Glanz der Fußball-WM. Mehr als die Hälfte der Brasilianerinnen und Brasilianer glauben laut Umfragen inzwischen, dass ihnen das sportliche Großereignis vom 12. Juni bis 13. Juli mehr Schaden als Nutzen bringen wird. Sie gehen auf die Straße und protestieren gegen schlecht ausgestattete Schulen und Krankenhäuser, überfüllte Busse und U-Bahnen und Mangel an Wohnungen.
Autorin
Gesine Kauffmann
ist Redakteurin bei "welt-sichten".Vor allem aber wehren sich viele Brasilianer dagegen, dass Hunderttausende Menschen umgesiedelt werden, weil ihre Hütten und Häuser den WM-Arenen im Weg sind oder den Zugang dorthin versperren würden. So besetzte etwa die Landlosenbewegung MST im Mai ein Gelände in der Nähe des neuen Itaquera-Stadions in São Paulo, um dort für den Bau von Sozialwohnungen zu streiten. Eine spektakuläre Protestaktion – Soziologen und NGO-Aktivisten sind sich einig, dass es sicher nicht die letzte vor und während des Turniers sein wird.
Man hätte es besser wissen können. Bereits vor der WM in Südafrika 2010 hatten sich Sozialwissenschaftler mit den Folgen sportlicher Großereignisse in Schwellenändern beschäftigt. Ihr Fazit: Sie tragen weder wesentlich zur wirtschaftlichen Entwicklung bei, noch schaffen sie langfristig Arbeitsplätze. Vielmehr besteht die Gefahr, dass die Kluft zwischen Arm und Reich noch wächst.
Ökonomen meinen: Schwellenländer sollten sich künftig lieber genau überlegen, ob solche Prestigeprojekte den Aufwand wert sind.
Auch in Südafrika blieben die erhofften ökonomischen Impulse aus. Mehrere der am Kap errichteten topmodernen Stadionbauten fristen ein Dasein als „weiße Elefanten“: teuer und ohne Nutzen. Schwellenländer sollten sich genau überlegen, ob solche Prestigeprojekte den Aufwand wert sind, erklären Ökonomen in einer Studie des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitutes von Mitte Mai.
Brasiliens Regierung hat inzwischen eingesehen, dass sie das Turnier nicht mehr als Motor für soziale und wirtschaftliche Entwicklung vermarkten kann, und eine zynische Kehrtwendung vollzogen. Unter dem Slogan „Copa de Copas“ (die Weltmeisterschaft aller Weltmeisterschaften) ruft sie nun die Bevölkerung auf, sich der reinen Fußball-Leidenschaft hinzugeben. Im vergangenen Sommer brachte Präsidentin Dilma Rousseff den Protestierenden noch Verständnis entgegen und versprach Reformen im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie im politischen System.
Eines der Versprechen, das Programm „Mehr Ärzte“ für eine bessere medizinische Versorgung, wurde sogar eingelöst – die politischen Reformen hingegen sind steckengeblieben. Stattdessen setzt Rousseff nun vor allem auf Härte und Abschreckung. 170.000 Sicherheitskräfte sollen während des Turniers für geordneten Torjubel sorgen und Proteste im Keim ersticken. Es ist zu hoffen, dass all dies die Brasilianer nicht davon abhält, den Fußball zu genießen – und ihre Regierung weiter mit Nachdruck, aber friedlich an ihre Pflichten zu erinnern.
So ist 2014 nicht nur das Jahr der Fußball-WM, sondern auch das Jahr, in dem Präsidentin Rousseff ihr Land von extremer Armut befreit haben wollte. „Brasil Sem Miséria“ heißt das ehrgeizige Sozialprogramm, das vor allem bedürftigen Familien zugute kommt. Außerdem will sie im Oktober wiedergewählt werden. Sie täte also gut daran, mit ihren Reformversprechen ernst zu machen – vor allem angesichts der Tatsache, dass ihre Beliebtheit bei den Brasilianern rapide gesunken ist. Die FIFA wird ihr nicht helfen, die Wahl zu gewinnen.
Das nächste Großereignis, die Olympischen Spiele, bietet in zwei Jahren die Chance, aus den Protesten gegen die Fußball-WM zu lernen und mehr Rücksicht auf die Rechte und die Interessen der Bevölkerung zu nehmen. Solidarität mit den Brasilianern können Fußballfans – und alle anderen – übrigens auf der Internetseite der Menschenrechtsorganisation Amnesty International bekunden: mit einer virtuellen gelben Karte und der Forderung, die Proteste im Land nicht zu kriminalisieren.
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