Der interreligiöse Dialog in Ägypten boomt. Nie war die Aufmerksamkeit der Muslime den Christen gegenüber größer. Kaum eine Talkshow kommt heute ohne einen christlichen Vertreter aus. Zeitungen fragen Christen um ihre Meinung. Den diesjährigen Ostergottesdienst in der koptischorthodoxen Hauptkirche in Kairo besuchten so viele Imame wie noch nie. Im vergangenen Jahr hatten die Muslimbrüder den Muslimen noch verboten, Christen überhaupt ein frohes Osterfest zu wünschen.
„Mit ihrer Diskriminierungspolitik haben die Muslimbrüder die Christen für viele erst richtig interessant gemacht“, sagt Scheich Ibrahim Rida. Er ist Imam einer großen Moschee in Schubra, einem Stadtteil von Kairo, in dem etwa die Hälfte der Bevölkerung christlich ist. Er ist weit über sein Viertel hinaus bekannt: Gemeinsam mit einem Pfarrer hatte er lange Zeit eine eigene Fernsehsendung, in der sie sich über religiöse Themen austauschten.
Muslime und Christen schützen sich gegenseitig
Während der Herrschaft der Muslimbrüder hatte Scheich Ibrahim Drohungen erhalten. „Die Muslimbrüder wollten alle, die offener gesinnt sind, aus den Moscheen vertreiben“, sagt er. Immer wieder hätten sie ihn aufgefordert, sich gegen die Christen zu stellen. Doch Scheich Ibrahim ist mehr denn je davon überzeugt, dass Pluralismus für Christen und Muslime in Ägypten keine Option, sondern notwendig ist.
Diese Erfahrung haben viele Ägypter in den vergangenen dreieinhalb Jahren gemacht. Während der Revolution im Januar 2011 hatten Christen und Muslime gemeinsam auf dem Tahrir-Platz gegen das Militärregime von Hosni Mubarak demonstriert. Als die Sicherheitskräfte in die Menge schossen, wurde eine nahegelegene Kirche zum gemeinsamen Krankenhaus umfunktioniert. In der Nachbarmoschee konnten sich die Oppositionsgruppen zurückziehen. Muslime stellten sich schützend um Christen, die auf dem Tahrir-Platz Gottesdienst feierten, und Christen bildeten eine Menschenkette um die Muslime, die unter freiem Himmel beteten.
Diese Szenen haben sich ins Gedächtnis vieler Ägypter eingegraben. Für Christen und Muslime waren die gemeinsamen Revolutionstage auf dem Tahrir-Platz eine Art interreligiöse Flitterwochen. Die anschließende Herrschaft der Muslimbruderschaft zeigte einmal mehr, wie wichtig es ist, dass sich die Angehörigen der beiden Glaubensrichtungen nicht auseinanderdividieren lassen.
Vertreter der Al-Azhar-Universität und des Religionsministeriums zählen heute zu den schärfsten Kritikern der Muslimbrüder. Neben politischer Inkompetenz werfen sie ihnen Verrat am Islam vor. Sie hätten versucht, die Gesellschaft zu spalten. Islamistische Terrorgruppen setzen diese Politik fort. Im Februar brachte eine der Muslimbruderschaft nahestehende Gruppe sieben koptische Gastarbeiter in Libyen um. „Ich schäme mich dafür, dass Muslime Christen getötet haben“, sagt Zein Abedin Abdellatif von der lokalen Religionsbehörde aus dem oberägyptischen Sohag, woher die Opfer stammten. „Der Islam ist keine Religion der Gewalt. Er respektiert alle anderen Religionen“, sagt er.
Das meint auch Mahmud A’zab, stellvertretender Vorsitzender der Abteilung für interreligiösen Dialog an der Azhar-Universität. „Alle müssen bei der Weiterentwicklung des Landes und der Gesellschaft mithelfen.“ Der Dialog der Azhar mit den Kirchen und den säkularen Kräften funktioniere bereits sehr gut – im Gegensatz zu den Gesprächen mit den Salafisten und Muslimbrüdern. „Sie haben noch nicht verstanden, dass der Islam gar kein theokratisches Staatsmodell kennt.“ Außerdem schreibe der Koran das Recht fest, anders sein zu dürfen. „Gott hat gewollt, dass wir unterschiedlich sind, damit wir uns gegenseitig ergänzen.“
Islamische Gelehrte plädieren für Pluralismus
In einer Charta über die Zukunft Ägyptens hat die Azhar, die höchste Lehrinstanz des sunnitischen Islam weltweit, zusammen mit Intellektuellen dieses Plädoyer für den Pluralismus festgehalten. Ein neues Ägypten könne nur gegründet sein auf der Glaubensfreiheit, der Meinungsfreiheit, der Freiheit der Wissenschaft und der menschlichen Kreativität, die etwa die Kunst, das Kino, das Theater oder die Bildhauerei umfasst, heißt es in dem vor zwei Jahren erschienenen Schriftstück. Die Herabwürdigung einer anderen Religion oder der Aufruf zur Diskriminierung sei als Verbrechen gegen die Nation zu sehen.
Die neue ägyptische Verfassung, die im Januar dieses Jahres nach einem Referendum in Kraft getreten ist, hat diese Gedanken zum Teil aufgegriffen. Zum ersten Mal haben Christen in Ägypten die gleichen Rechte wie Muslime. Der Dialog zwischen beiden könnte der Boden sein, auf dem wächst, was Ägypten für eine erfolgreiche Demokratisierung braucht: eine Zivilgesellschaft, die Pluralismus als Wert und nicht als Hindernis versteht.
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