Die Kultur wird uns retten“, hatte der Schriftsteller Dany Laferrière kurz nach dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 verkündet, das weite Teile Haitis verwüstete und rund 300.000 Tote forderte. Mit Lyonel Trouillot, Kettly Mars, Yanick Lahens und anderen Autoren hatte er damals die internationale Berichterstattung ergänzt und korrigiert und mit „Tout bouge autour de moi“ (Um mich herum ist alles in Bewegung) eine Art literarische Chronik des Erdbebens vorgelegt. Mittlerweile gibt es eine Fülle von Romanen, Erzählungen, Gedichten und Filmen, die sich mit der Naturkatastrophe auseinandersetzen.
Autorin
Margrit Klingler-Clavijo
arbeitet als freie Hörfunkjournalistin und Übersetzerin in Frankfurt am Main. Ihre Schwerpunkte sind Lateinamerika und die Karibik.Zwei Romane wurden auch ins Deutsche übersetzt: „Und plötzlich tut sich der Boden auf“ von Yanick Lahens sowie „Vor dem Verdursten“ von Kettly Mars. Yanick Lahens schildert die ersten Tage und Wochen nach dem Erdbeben in Port-au-Prince. Die Naturkatastrophe versteht sie als Herausforderung, ein neues Haiti zu erschaffen: „Wenn wir das Leben nicht feiern, trotz alledem, es nicht durch die Kunst oder die Literatur verändern, so lassen wir uns von der Katastrophe ein zweites Mal in die Knie zwingen.“
Kettly Mars erzählt in ihrem Roman, wie ein Architekt und Städteplaner in dem Zeltlager Kanaan, das in Port-au-Prince für obdachlose Erdbebenopfer errichtet wurde, käuflichen Sex mit jungen Mädchen hat. Erst auf der Reise in ein kleines Fischerdorf, dem Gegenpol zur bedrückenden Lagerwelt, kann er sich aus seinen emotionalen Verstrickungen befreien.
Kritik am Heer der Helfer
Vier Jahre nach dem Erdbeben hält die Kritik am Heer der ausländischen Helfer und den hoch dotierten Entwicklungsexperten an. In Lyonel Trouillots „Objectif K.“, autobiographischen Reflektionen über die Entstehung seines Werkes und dessen engem Bezug zur haitianischen Geschichte, kommen sie nicht gut weg. In einer von wohlhabenden Weißen frequentierten Bar in Port-au-Prince wirken sie wie „als Helfer getarnte Geier“, die vor allem am eigenen Fortkommen interessiert sind.
Aber es liegt auch an der haitianischen Politik, an Vetternwirtschaft und Straflosigkeit, dass der Wiederaufbau nur schleppend vorankommt und weit hinter den Erwartungen vieler Haitianer zurückbleibt. Dass Anfang Januar 2014 der Jahrestag der Unabhängigkeit im Beisein von Jean-Claude Duvalier gefeiert wurde, erzürnte alle, die für einen funktionierenden Rechtsstaat kämpfen. Dazu zählen auch zahlreiche Kulturschaffende, die in Büchern und Filmen mit dem Terrorregime der Duvaliers ins Gericht gegangen sind..###Seite2###
Schriftsteller wie Lyonel Trouillot dokumentieren aber nicht nur gesellschaftliche Missstände. Sie verhelfen der Kultur selbst zur Blüte.
Literaturtipps
Yanick Lahens
Und plötzlich tut sich der Boden auf
Rotpunkt-Verlag, Zürich 2011
Dany Laferrière
Das Rätsel der Rückkehr ...
Seit Jahren fördert Trouillot den literarischen Nachwuchs, zunächst über die Literaturwerkstatt „Ateliers du jeudi soir“, in der junge Autoren ihre Texte vortragen und den Rat erfahrener Kollegen einholen können. 2011 gründete er das Kulturzentrum „Anne Marie Morisset“, das er gemeinsam mit seiner Schwester, der Dichterin und Romanautorin Evelyn Trouillot, leitet. In enger Zusammenarbeit mit dem haitianischen Pen-Club unterstützt er über die Literaturzeitschrift „Demembré“ Nachwuchsautoren bei der Veröffentlichung ihrer Texte – die allerdings meist im Selbstverlag erscheinen müssen. Nur wenige schaffen den Sprung in die internationalen Verlagshäuser.
Die rasche internationale Verbreitung der ebenso anspruchsvoll wie ansprechend gestalteten Literaturzeitschrift „Intranquillités“ (Unruhen) ist ein kleines Wunder. Sie versteht sich als brodelndes Epizentrum der haitianischen Kunst und Literatur, als Forum des Austausches mit Kunstschaffenden aus aller Welt. Die von dem Dichter James Noël und seiner Lebensgefährtin, der Malerin Pascal Monnin, herausgegebene Zeitschrift erscheint einmal im Jahr und wird in Haiti, Frankreich, Belgien, Italien, Argentinien und Uruguay vertrieben.
Mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet
Seit dem Erdbeben ist das Interesse an haitianischer Literatur gestiegen. Mittlerweile ist sie auf internationalen Literaturfestivals stärker vertreten, etliche Autoren wurden mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet. 2011 erhielt Kettly Mars den niederländischen Prins-Claus-Award, 2013 wurde Lyonel Trouillot dem Prix Carbet ausgezeichnet, den das „Institut du tout-Monde“ alljährlich im Dezember in Martinique vergibt.
Dany Laferrière wurde im Dezember 2013 in die prestigeträchtige Pariser Académie Francaise gewählt – als erster Haitianer, erster Kanadier und zweiter Schwarzer nach dem senegalesischen Dichter und Staatspräsidenten Léopold Sédar Senghor. Der 1953 in Port-au-Prince geborene Laferrière war 1976 nach der Ermordung seines Arbeitskollegen Gasner Raymond nach Montreal geflohen. Dort hatte er in verschiedenen Fabriken gejobbt, ehe er 1985 mit dem Roman „Wie einen Schwarzen lieben, ohne zu ermüden“ schlagartig berühmt wurde.###Seite3###
Seitdem hat er über zwanzig Romane publiziert, mehrere Filmdrehbücher verfasst und Auszeichnungen erhalten, zuletzt für seinen Roman „Das Rätsel der Rückkehr“ (siehe welt-sichten 2-2014). Laferrière versucht, haitianische Jugendliche zum Lesen zu animieren und auch dazu, ihre Träume zu verwirklichen.
Hätte er sich mit den Jobs in der Fabrik begnügt und nicht von einer Schriftstellerkarriere geträumt, wäre er wohl kaum so viel durch Amerika, Europa und den Fernen Osten gereist, sagt er. Eine Opferrolle weist er entschieden von sich: „Man kann immer anders denken als in dem Tunnel, in dem man uns zu denken zwingen will.“
Selbstmitleid und Larmoyanz findet man kaum in der jüngsten haitianischen Literatur. Dafür jedoch tiefgründigen Humor, harsche Gesellschaftskritik sowie eine unbändige Vorstellungskraft, die von ihrer bewusstseinsverändernden Wirkung überzeugt ist.
Verletzlichkeit, Liebe, Verbundenheit
Der Verletzlichkeit des Lebens werden sich haitianische Autoren jedoch nicht nur angesichts der Erschütterungen des Erdbebens bewusst – sondern auch beim Schreiben über die Liebe und die Verbundenheit zwischen den Menschen. Ein einzigartiges Werk hat Lyonel Trouillot „La belle amour humaine“ geschaffen, der Roman wird voraussichtlich 2015 auf Deutsch erscheinen.
Der Roman spielt in dem unscheinbaren Fischerdorf Anse-à-Foleur, in das es die Französin Anaise verschlägt, als sie nach Spuren ihres Vaters sucht. Schon beim ersten Rundgang durch das Dorf spürt sie, dass sie willkommen ist. Die gastfreundlichen Dorfbewohner werden das Wenige, was sie haben, mit ihr teilen. Lyonel Trouillot sagt dazu: „Wir leben in einer Welt, in der wir zunehmend blind werden gegenüber den Anderen, in einer Art zwanghaftem Individualismus.“
Man müsse wohl erst wieder lernen, den Anderen zu betrachten, um wahrzunehmen, was in ihm vorgeht. „Und wenn wir alles hinter uns ließen, was Unglück und Ungerechtigkeit schafft? Könnten wir mit unserem Glück nicht auch zu dem der Anderen beitragen? Davon sollten wir träumen. Ich erinnere gern daran, dass es unsere Pflicht ist zu staunen.“
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