und sind trotzdem gut in der Schule. So wie der 13-jährige Luis Enrique Meneses aus Lima.
Helado, helado“ schreit Luis Enrique Meneses mit kratziger Stimme. Der 13-Jährige steckt mitten im Stimmbruch. Eiscreme bietet er an, auf den Straßen des Billigmode-Imperiums „Gamarra“ in der peruanischen Hauptstadt Lima. Ein unaufhörlicher Strom von Menschen schiebt sich durch die engen Gänge an den Kleiderständen vorbei. Immer wieder bleiben Kunden bei Luis Enrique stehen. Der holt aus der gelben Eisbox ein Hörnchen mit einer Vanilleeiskugel mit Schokohaube und wickelt die Waffel in ein Stück Toilettenpapier – als Serviettenersatz. Macht einen Sol, rund 30 Cent.
Dann nimmt Luis Enrique seinen Gang durch die Gassen wieder auf. Verkaufen heißt in Bewegung sein: Wendeltreppen hinunter und wieder hoch, die Eisbox wiegt gute fünf Kilo. Für seinen Boss, einen Eiscremehändler, bringt Luis Enrique jeden Samstag acht Stunden lang das Eis unter die Leute. 20 Soles, rund 6 Euro, bekommt er am Abend dafür. Luis Enrique Meneses ist eines von den 13 Millionen arbeitenden Kindern weltweit. Knapp neun Prozent aller Kinder in Lateinamerika und der Karibik gehören laut Internationaler Arbeitsorganisation ILO dazu.
Von Ausbeutung will Luis Enrique nichts hören. Er ist in der Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher NATs (Niños, Niñas y Adolescentes Trabajadores) organisiert. Die meisten Mädchen und Jungen, die einem Job nachgehen, arbeiten zwar auf der Straße. Aber sie leben nicht dort. Mit ihrem Verdienst tragen sie zum Familieneinkommen bei. Und darauf sind sie stolz. Auch Luis Enrique Meneses kommt aus einer armen, aber intakten Familie. Seine Mutter Eva ist 35 Jahre alt. „Ich habe als Kind selbst gearbeitet“, erzählt sie, während sie für ihre drei Kinder Frühstücksbrote streicht und Tee kocht. Wochentags hat sie als Kind Süßigkeiten auf der Straße verkauft und am Wochenende einer Straßenköchin geholfen. Ihr Mann José Meneses schuftete bereits als Kind in einer Kiesgrube und stellte Lehmziegel her. Heute ist er als Maurer tageweise auf Baustellen beschäftigt.
Das Haus der Familie, eng an den Hang gebaut im Stadtteil El Agustino, könnte eine Renovierung vertragen. Die Mauern sind unverputzt, die Leiter zum oberen Stockwerk sieht wacklig aus. Der neue Kühlschrank prangt in der Küche neben einer einfachen Anrichte und mehreren Plastiktüten an der Wand, die als Schrankersatz dienen. Für Luis Enriques Eltern ist es normal, dass Kinder mitverdienen. „Ohne unser Geld hätte unsere Familie nichts zu essen gehabt oder wir hätten nicht in die Schule gehen können“, erinnert sich Eva an die eigene Kindheit. Das ist bei ihren Kindern anders: Luis Enrique spart mit seinem Zuverdienst auf ein Paar Markenturnschuhe. „Und er bezahlt auch einen Teil seiner Schulbücher selbst“, erzählt seine Mutter.
Organisiert in der Kindergewerkschaft
Auch Eva Meneses gehörte wie ihr Sohn der Kindergewerkschaft an. Vor 37 Jahren wurde die Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher im Umkreis der befreiungstheologisch inspirierten katholischen Arbeiterjugend und unter der Ägide des ehemaligen Salesianerpaters Alejandro Cussianovich gegründet. Von Anfang an galten die Kinder und Jugendlichen als Hauptverantwortliche, die Erwachsenen sind Mitarbeiter. Heute vereinigt die südamerikanische Dachorganisation MOLACNATs (Movimiento Latinoamericano y del Caribe de Ninhos y Adolescentes Trabajadores) mehrere Tausend arbeitende Kinder und Jugendliche in Peru, Bolivien, Paraguay, Venezuela, Kolumbien und – in kleinerer Zahl – auch in Afrika und Asien.
„Manthoc“ war die erste Kindergewerkschaft, die in Peru gegründet wurde. „Hier lerne ich, mich zu organisieren“, begründet Luis Enrique seine Mitgliedschaft. Jeden Samstagvormittag trifft sich seine Basisgruppe von El Agustino im Erdgeschoss eines Gemeindehauses – heute allerdings ohne ihn. Die Strandsaison in Gamarra hat begonnen und er muss Eis verkaufen. Ein paar Bänke und Tische, an den Wänden hängen selbstgeschriebene Plakate: Eines zeigt verschiedene Arten von Kindesmisshandlung und wie Kinder sich dagegen wehren können.
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Rund 15 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 16 Jahren sowie drei erwachsene Frauen sitzen im Viereck. Den Vorsitz hat Geraldine Salazar. Die 16-Jährige ist eine der zwei obersten Abgeordneten der Bewegung arbeitender Kinder „Manthoc“ und wohnt gleich nebenan. Luis Enriques kleine Schwester Thais führt heute Protokoll. Es geht um die Auswertung einer Delegiertenversammlung; der Abgeordnete der Ortsgruppe ist nicht erschienen und wird deshalb kritisiert. „Er hat uns nicht gut vertreten“, schreibt Thais in ihr Heft.
Geraldine geht zur Sekundarschule. Einmal pro Woche arbeitet sie in der Schneiderwerkstatt ihres Schwagers. Von den acht Euro, die sie verdient, gibt sie drei ihrer Mutter. Die restlichen fünf darf sie als Taschengeld behalten. Die Jahre davor hat sie auf dem Marktstand ihrer Mutter Gemüse verkauft. Trotz ihrer Erwerbsarbeit gehört Geraldine zu den Besten ihrer Schulklasse. Schule und Arbeit sind kein Gegensatz in der Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher. Im Gegenteil: Wer bei den NATs mitmacht, schneidet in der Schule sogar besser ab. 70 Prozent der organisierten NATs, sagt Geraldine, gehörten zu den Besten ihres Jahrgangs. In den Gruppenversammlungen wird schließlich nicht gespielt – schon achtjährige Kinder lernen zu argumentieren und ihre Position zu vertreten. Das wirkt sich günstig auf die Schulleistungen aus.
Viele arbeiten, um sich etwas leisten zu können
Trotzdem: Wäre es nicht besser, wenn Kinder nicht arbeiten müssten? Geraldine streicht sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht und holt tief Luft: „Im Gegenteil, wir wollen nicht, dass man uns Kinder überbehütet und uns nichts zutraut. Wir wollen arbeiten, aber unter anständigen Bedingungen.“ Besonders wichtig ist ihr der Unterschied zwischen Ausbeutung und würdiger Arbeit. Erstere, wie Kinderprostitution, soll abgeschafft werden; letztere erlaubt und reguliert sein. Die Ausbildung der arbeitenden Kinder steht ganz vorne im Forderungskatalog. In einigen Städten unterhalten die NATs eigene Werkstätten für T-Shirt-Druck, Papierrecycling, Bäckereien und Schreinereien. Vor allem aber geht es Geraldine um Mitsprache: „Wenn es um Kinderrechte geht, dann wollen wir angehört werden.“
Autorin
In Peru sind rund 3000 arbeitende Kinder und Jugendliche organisiert – und sie machen lautstark auf ihre Anliegen aufmerksam. Wenn irgendwo über Kinderrechte verhandelt wird, lassen die NATs ihre Stimmen vernehmen. 2010 schickten sie Abgeordnete zur Kinderarbeit-Konferenz der Vereinten Nationen nach Den Haag. Doch die Kinder und Jugendlichen wurden bei der von Erwachsenen dominierten Konferenz nicht angehört. In Bolivien dagegen wankt die Front derer, die Kinderarbeit strikt ablehnen: Auf den Protest der organisierten Kinder hin hat Präsident Evo Morales, der selbst als Indio-Junge vom Land als arbeitendes Kind groß geworden ist, kurz vor Weihnachten 2013 das bisher geltende Mindestalter für Erwerbsarbeit ausgesetzt und die Entscheidung des Parlaments darüber auf 2014 verschoben.
In Peru sind die schlimmsten Krisenzeiten vorbei, und das spüren auch die arbeitenden Kinder. Viele arbeiten nicht mehr, damit zu Hause etwas auf den Tisch kommt, sondern damit sie sich selbst etwas leisten können. Genau da liege eine neue Herausforderung für ihre Bewegung, sagt Geraldine Salazar: „Wir müssen lernen, den Verlockungen der Werbung nicht nachzugeben, sondern unser Geld zu sparen und gut zu entscheiden, was wir damit kaufen wollen.“
Luis Enrique hat sich schon entschieden. Nach unserer Verkaufstour durch Gamarra will ich sein Eis probieren und gebe ihm zwei Soles. „Eins für Dich und eins für mich“. Ohne die Miene zu verziehen, reicht er mir ein Hörnchen. Die Münze für sein eigenes Eis steckt er in ein kleines Portemonnaie, das er aus der Hosentasche kramt. Ein Sol mehr für die ersehnten Turnschuhe.
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