Nigeria: Behinderte sind zum Betteln verdammt

Sam Olukoya
Von Almosen abhängig: Körperlich behinderte Bettler in Nigerias Hauptsadt Lagos.
In Nigeria haben behinderte Menschen kaum eine Chance, einen Job zu finden. Arbeitgeber halten sie generell für unfähig – oder ihre Behinderung für ansteckend. Ein energischer Blinder hat es trotzdem geschafft, ein erfolgreiches Transportunternehmen aufzubauen.

Es ist manchmal wie eine Parade der Blinden, Lahmen, Gehörlosen und derjenigen, die eine Behinderung nur vortäuschen. Sie warten, bis die schlechten Straßenverhältnisse und die Schlaglöcher den Verkehr wieder einmal zum Erliegen bringen, und bitten die Autofahrer um Geld. Behinderte Bettler findet man in allen größeren Städte Nigerias, auch in Lagos. Sie alle begehren die Almosen gutherziger Mitmenschen. Um ihnen Sympathie und Geld zu entlocken, beten und singen die Bedürftigen und erzählen die rührenden Geschichten ihrer Behinderung.

Und die Leute sind immer bereit, ihnen Geld zu geben. Die 150 Millionen Nigerianer sind entweder Christen oder Muslime, die glauben, durch ihre Spenden für die Bedürftigen Gottes Segen zu erlangen. Weniger begeistert sind sie jedoch, wenn es darum geht, den behinderten Menschen Arbeit zu verschaffen. „Viele stellen uns nicht ein aus Angst, wir könnten Kunden vergraulen“, sagt Nuhu Haruna, ein arbeitsloser Akademiker, der ein Bein bei einem Autounfall verloren hat. Zudem sähen viele Arbeitgeber in einer Behinderung ein Zeichen für Inkompetenz.

Autor

Sam Olukoya

ist freier Journalist im nigerianischen Lagos.

Eine solche Wahrnehmung reflektiere die gesellschaftlichen Vorurteile, sagt David Anyaele, Direktor des Zentrums für Bürger mit Behinderungen. „Menschen mit Behinderungen sind gebrandmarkt, und keiner will etwas mit ihnen zu tun haben und ihnen einen Job anbieten.“ In der nigerianischen Gesellschaft gälten Menschen mit einer Behinderung als verflucht, weshalb man sich nicht auf sie einlassen dürfe, sagt Anyaele, dem während des Bürgerkrieges in Sierra Leone, wo er damals wohnte, Rebellen beide Hände amputiert haben. Obwohl Nigerianer entweder Christen oder Muslime sind, sind viele sehr abergläubisch, auch bei ihrem Umgang mit behinderten Menschen. Haruna bemüht sich seit sechs Jahren vergeblich um einen Job. Dass er keinen finde, liege an seiner Behinderung, sagt Haruna: „Manche verhalten sich so, als wäre eine Behinderung ansteckend.“ Die meisten Nigerianer, die mit einer Behinderung leben, erfahren schon als Kinder Diskriminierung. Familienmitglieder und andere meiden den Kontakt mit ihnen, die Gesellschaft behandelt sie als Außenseiter. Vielen behinderten Menschen fällt es schwer, Ehrgeiz zu entwickeln. „Meine Freunde haben mir geraten, dass ich betteln gehen sollte, anstatt arbeitslos zu bleiben“, sagt Haruna. Sie fragten, warum er sich dagegen sträube, wo doch sogar arbeitsfähige Leute vorgäben, behindert zu sein, nur um Geld als Bettler zu verdienen.

Trotz Studium keine Aussicht auf eine Anstellung

Auch Dammy Atunwa, der als Kind an Polio erkrankte und seitdem gehbehindert ist, fühlt sich benachteiligt. Der gelernte Buchhalter sagt, obwohl er einer der besten Studenten seines Jahrgangs gewesen sei, könne er wegen seines Gesundheitszustandes keinen Job finden. Ein Arbeitgeber habe ihn mit der Begründung abgelehnt, er könne mit seiner Behinderung nicht richtig arbeiten. „Das ist ungerecht. Ich brauche doch meine Beine nicht, um als Buchhalter zu arbeiten. Ich brauche mein Gehirn“, sagt Atunwa. Es ist beklagenswert für ihn, dass er nach all den Anstrengungen, die sein Studium ihn gekostet hat, keine Arbeit gefunden hat. Doch trotz aller Rückschläge will er nicht aufgeben.

So wie Atunwa und Haruna geht es vielen behinderten Nigerianern: Sie finden einfach keine Arbeit. Nicht weil es keine Jobs gibt, sondern weil das System sie ausschließt. Dagegen juristisch vorzugehen ist nicht möglich. Ein Gesetz gegen die Diskriminierung aufgrund von Behinderungen gibt es in Nigeria nicht.

In wenigen Fällen werden Menschen mit Behinderten zwar eingestellt, ihre Arbeitgeber behandeln sie aber oft mit Verachtung und sehen die Anstellung als Wohltätigkeit. Anyaele empfindet das als Beleidigung: „Beschäftigung kann kein Mitleidsakt sein, Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf Arbeit.“   

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Nigeria hat die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen unterzeichnet. Diese verbietet alle Formen der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen und fordert  die Mitgliedsstaaten dazu auf, behinderten Menschen die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Leute wie Anyaele, dessen Organisation sich für einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt einsetzt, werfen der Regierung vor, nicht genug gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung zu tun. „Sie hat nichts getan, um ein Bewusstsein für die Belange behinderter Menschen zu schaffen“, sagt er. Weder im nationalen Haushalt noch in den Budgets einzelner Bundesstaaten sind Mittel zur Integration von Menschen mit Behinderung vorgesehen. Das Parlament hat seit der Rückkehr Nigerias zur Demokratie 1999 drei Mal ein Gesetz verabschiedet, das die Diskriminierung verbietet und behinderte Menschen stärker in den Arbeitsmarkt einbringen will. Doch bislang hat keiner der Präsidenten, die seitdem im Amt waren, das Gesetz unterzeichnet und in Kraft gesetzt.

Um aus dem Stigma auszubrechen, mehr als nur ein Bettler zu sein, müssen Menschen mit Behinderung besonders hart arbeiten. So wie Atunwa, der sich entschlossen hat, erfolgreich zu sein – trotz aller Widrigkeiten. „Der Campus war nicht behindertengerecht. Es gab zum Beispiel keine Wohnheime dort. Deshalb musste ich jeden Tag den beschwerlichen Weg zur Schule bewältigen“, erzählt der arbeitslose Buchhalter. Das nächste Ziel ist der Masterabschluss. Bekomme er auch dann keinen Job, werde er versuchen, eine Lehrtätigkeit an der Uni aufzunehmen. 

Es ist dieser Kampfgeist, der viele körperlich versehrte Menschen am Leben hält. So wie Olaide Oluwatele. Als er im Alter von 17 Jahren erblindete, schrieben ihn die Leute schon als Bettler ab. „Sie haben gesagt, du musst nach Lagos gehen und betteln. Ich war froh, bald mein eigenes Geld zu verdienen“, sagt er. Zwei Tage vor seiner Abreise nach Lagos besuchte er eine Messe mit Pastor Timothy Obadare. Der steht an der Spitze einer der größten Kirchen Nigerias – obwohl er blind ist. „Während ich in der Kirche saß, änderte ich meine Zukunftspläne“, erinnert sich Oluwatele: „Ich sagte mir, wenn ein blinder Mann so beliebt sein kann, schaffe ich es auch, ohne betteln zu gehen.“

Ein Blinder mit Geschäftssinn erntet Hohn und Spott

Oluwatele ging auf eine nichtstaatliche Berufsschule für Blinde und lernte Kunsthandwerk. Nach seinem Abschluss konnte er keine Anstellung finden, machte aber unerschrocken weiter, flocht Körbe und Matten, verkaufte sie an Ausländer in einigen von Lagos’ größten Hotels. Als er begann, Seife und Reinigungsmittel herzustellen, wuchs das Geschäft. Doch er hatte Probleme, die Ware zu transportieren. „Jedes Mal, wenn wir mit unseren Waren in einen Bus steigen wollten, ließ uns der Fahrer nicht rein, weil wir behindert sind“, sagt er. Oluwatele beschloss, sich einen eigenen Bus zu kaufen – und legte damit den Grundstein für seine heutige Transportfirma.

Er hatte jedoch kein Geld und musste sich bei Autohändlern um Leasing-Verträge bemühen. Die aber waren nicht daran interessiert, ein Unternehmen zu finanzieren, das von einem körperlich Behinderten betrieben wird. „Ich erzählte einem Autohändler von meiner Geschäftsidee und der lachte und lachte und fragte, wie ein Blinder denn Transportunternehmer werde könne“, sagt er. Aber Oluwatele hat sich durchgekämpft. Seine Transportfirma hat heute 20 Angestellte, in der Seifen- und Reinigungsmittelproduktion sind es 17, darunter zwei gehörlose und acht blinde Mitarbeiter. Darauf ist er stolz. Für ihn steckt in jeder Behinderung auch eine Befähigung. „Mit Entschlossenheit kann man viel erreichen und die gleichen Dinge tun wie nicht behinderte Menschen. Aber wenn man seine Behinderung selbst nur als Bürde sieht, dann wird man auch für andere zur Bürde“, sagt er.

Trotz seiner Erfolgsgeschichte stößt Oluwatele als körperlich Behinderter immer wieder an Grenzen. Er will sein Geschäft ausbauen, aber keine Bank ist bereit, ihm einen Kredit zu gewähren. „In Nigeria bürgt niemand für einen Menschen mit Behinderung“, sagt er. Angesichts solcher Hürden beim Aufbau eines eigenen Geschäfts sei es nicht verwunderlich, dass viele entmutigt und frustriert auf der Straße endeten.
In den Augen der Regierung ist die große Zahl behinderter Bettler ein öffentliches Ärgernis. Viele der insgesamt 36 Landesregierungen wollen sie deshalb loswerden und haben begonnen, Bettler zu verhaften und zurück in ihre Dörfer zu schicken. In Kano im Norden Nigerias und in einigen anderen Bundesstaaten ist Betteln gesetzlich verboten.

Doch Verbote und Platzverweise lösen das Problem nicht. Wird ein Bettler weggeschickt, sitzt er kurze Zeit später schon wieder an Ort und Stelle. Die Regierung wirbt deshalb um die Unterstützung erfolgreicher behinderter Menschen. Sie sollen helfen, die Bettler von der Straße zu holen. Auch Oluwatele wurde von Beamten angefragt. Wütend antwortete er: „Da mache ich nicht mit. Wenn ich könnte, würde ich alle Bettler zu ihrem Büro bringen, damit sie davor sitzen können und betteln.“ Die Leute mit Gewalt von der Straße zu holen, sei wie den Karren vor das Pferd zu spannen. „Zuerst muss die Regierung ihre Politik ändern und den behinderten Menschen Alternativen bieten. Erst dann kann man darüber nachdenken, das Betteln zu verbieten“, sagt er.

Aus dem Englischen von Sebastian Drescher

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erschienen in Ausgabe 2 / 2014: Neue Helden der Arbeit
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